echo : 22.18 UTC — Im geöffneten Fenster, das ich für eine Stunde lesend außer Acht gelassen hatte, bewegte sich vor Tagen ein Spinnfaden in einem Wind, der nicht spürbar gewesen, aber in der Bewegung des Fadens sichtbar geworden war. Irgendjemand, dachte ich, wird vermutlich angekommen sein, während ich las, ist entweder schon auf dem Weg abwärts wieder zur Straße zu den Bäumen hin oder aber sitzt im Kakteenwald auf dem Fensterbrett und wartet, dass es dunkel werden wird. Und ich dachte, solange ich mein Fernsehgerät nicht anschalten würde, sei hier oben in den Räumen unter dem Dach alles sehr friedlich an jenem Abend. Tatsächlich hatte ich vergessen, was das Radio vor zwei Stunden noch erzählte. Ich musste mich mühen, um an das Gehörte zu kommen. Ich notierte einen Text. Und ich dachte sehr lange Zeit nach, indessen die Besucherin, die zunächst verschwunden gewesen war, zur Nachtstunde ein Netz über Stachelhornwälder einer Mammillaria fraileana zu weben begann. Gegen Mitternacht erinnerte ich mich, was oder wovon das Radio erzählte. — stop
Aus der Wörtersammlung: radio
radiotauben
echo : 22.05 UTC — Gestern, am späten Abend, folgte ich einem Hyperlink, der von meiner Particlesmaschine automatisch erzeugt worden war nach Regeln, die ich nicht präzise beschreiben könnte. In dieser Weise arbeitend, begegnete ich einem Text, der von einem Radio erzählte. Es ist seltsam, ich konnte mich zunächst nicht erinnern, diesen Text selbst geschrieben zu haben. Ich las ihn und dachte: Diesen Text musst Du erfundenen haben, rein erfundene Texte lassen sich nicht so leicht erinnern, wie Texte, die von einer erlebten Geschichte berichten. Nun also, in dem ich meinen Text, den ich im April des vergangenen Jahres notierte, lese, schreibe ich ihn zum zweiten Male, er wird mir vermutlich ein weiteres Jahr später, noch in Erinnerung sein, wie der Abend, an dem ich ihn wiederholte, also erlebte, weil ich ihn in mein Leben versetzte: Ich stellte mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen einerseits und an welchen ich drehen kann andererseits. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich kann das Radio öffnen. Als ich es öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik spielt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — stop
ahorn
nordpol : 22.01 UTC — Im geöffneten Fenster, das ich für eine Stunde lesend außer Acht gelassen hatte, bewegte sich ein Spinnfaden in einem Wind, der nicht spürbar gewesen, aber in der Bewegung des Fadens sichtbar geworden war. Irgendjemand, dachte ich, wird vermutlich angekommen sein, während ich las, ist entweder schon auf dem Weg abwärts wieder zur Straße zu den Bäumen hin oder aber sitzt im Kakteenwald auf dem Fensterbrett und wartet, dass es dunkel werden wird. Solange ich mein Fernsehgerät nicht anschalten werde, ist hier oben in Räumen unter dem Dach alles sehr friedlich an diesem Abend. Tatsächlich habe ich vergessen, was das Radio vor zwei Stunden noch erzählte. Ich muss mich mühen, um an das Gehörte zu kommen. Meine suchende Bewegung in der Erinnerung scheint weniger die Bewegung eines Bohrers, vielmehr die Bewegung eines Propellers zu sein. — stop
regenschirmtiere vol.3
ulysses : 0.12 UTC — Ein Journalist, der für das Radio arbeitet, erzählte unlängst am Telefon, er habe einmal an einer Reportage gearbeitet, die von der Entdeckung der Regenschirmtiere berichtete. Ungefähr in der Mitte seines Beitrages habe er einen Fehler entdeckt. Er saß vor dem Radiogerät und hörte der Stimme einer Sprecherin zu, die seinen Text sehr deutlich las, es war also zu spät, der Journalist konnte an seinem Fehler nichts ändern. Das versendet sich, wurde er von einer Redakteurin getröstet. Und ich dachte, das ist ein schönes Wort für verlorene Worte oder Gedanken, das ist wie mit Träumen, die sich von der Erinnerung lösen wie Regenwasser, das sich nicht wirklich festhalten, nicht wirklich begreifen lässt mit Händen, dieses helle Wasser, das die Luft erhellte in einem Traum, den ich gerade noch erzählen konnte auf einem Blatt Papier, ehe der Traum sich verflüchtigte, in dem ich mich wunderte, dass ich, beide Hände frei, durch die Stadt gehen konnte, obwohl ich doch allein unter einem Regenschirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und staunte, weil ich nie zuvor eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut, ja, Haut von der Art der Flughaut eines Abendseglers. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es regnet noch immer. Ich werde gleich telefonieren. — stop
fingertiere
marimba : 20.56 UTC — Wie nur nennt man diese Verrücktheit, dass einer gern Bücher auf einer Schreibmaschine tippt, anstatt sie zu lesen, wie einen, der nur lesen kann, was er auch schreibt mit den Händen? — Wenn ich das Wort Schreibmaschine höre, denke ich an Lebewesen meiner Kindheit, an Kreaturen mit Walze und Tasten, die merkwürdige Geräusche erzeugten, sobald man sie bewegte. Was waren das damals doch für Ungetüme, Knöpfe auf Stelzen, so groß, dass sie von meinen kleinen Fingern kaum bewegt werden konnten. Hoch oben auf einem Tischchen ruhte die Schreibmaschine, manchmal war sie verborgen unter einer Haube, dann wieder klapperte sie. Mutter saß am Tisch und tippte vor sich hin. Bisweilen setzte sie mich auf ihren Schoß und ich sah ihren Fingern zu, wie sie sich bewegten, indessen Mutter mit mir sprach oder dem Radio zuhörte. Ich glaubte manchmal in den Bewegungen ihrer Hände, etwas Freies, Unabhängiges zu sehen, als wären die Hände meiner Mutter eigensinnige Lebewesen. — stop
schildkrötengeschichte
india : 15.03 UTC — Vor wenigen Stunden war ich im Stadtwald spazieren. Ich ging um einen Teich herum, in dem Schildkröten unter der Wasseroberfläche gegeneinander kämpften. Plötzlich hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, jemand möchte Dich wecken. Und ich dachte, Du kennst diese Geschichte, das hast Du schon einmal geträumt. Du musst zunächst versuchen, wach zu werden, dachte ich. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich wanderte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich bemerkte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mithilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop
yangpu
india : 4.18 UTC — Das Radio erzählt, ein Mädchen namens Baidu Bailong, 5 Jahre alt, habe, während ich noch schlief, in Yangpu eine Schale mit Reis und etwas Entenfleisch zu sich genommen. Eine Datenbank, die dieses Ereignis verzeichnet, verfüge, so wird weiterhin erzählt, derzeit über 23 Milliarden Zeilen. Ist das eine Nachricht? Oder vielleicht in etwa eine Überlegung? — stop
ai : MOSAMBIQUE
MENSCH IN GEFAHR: „Amade Abubacar arbeitet als Journalist beim kommunalen Radiosender Nacedje im Bezirk Macomia in der Provinz Cabo Delgado im Norden von Mosambik. Am 18. Januar ordnete das Bezirksgericht von Macomia eine Verlängerung seiner Untersuchungshaft in der Polizeizentrale von Macomia an. Der zuständige Richter erklärte seine Inhaftierung für rechtmäßig mit der Begründung, Amade Abubacar sei am Tag nach seiner Verbringung in den Polizeigewahrsam dem Gericht vorgeführt worden. Gemäß Paragraf 311 des Strafgesetzbuchs von Mosambik muss jede Person innerhalb von 48 Stunden nach der Inhaftierung vor Gericht erscheinen. Der Richter ließ im Fall von Amade Abubacar unbeachtet, dass dieser bereits am 5. Januar von der Polizei festgenommen worden war. Anschließend hielt das Militär ihn dann zwölf Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt fest, bevor er am 17. Januar wieder an die Polizei übergeben wurde. Mit der anhaltenden Inhaftierung von Amade Abubacar wird gegen sein Recht auf ein faires und ordnungsgemäßes Verfahren verstoßen. / Ein von dem Journalisten eingereichter Antrag auf eine Freilassung unter Auflagen wies der Richter ab. Er begründete dies damit, dass Beweise, die in der polizeilichen Ermittlungsakte enthalten sind, keinerlei Zweifel an seiner Schuld ließen. Der Richter gab weiterhin an, dass Amade Abubacar im Falle einer Freilassung weitere Straftaten begehen könne und somit eine Gefahr für den sozialen Frieden darstellen würde. Die Polizei legte dem Gericht als Beweis gegen Amade Abubacar eine Liste von mutmaßlichen Mitgliedern der islamistischen Terrororganisation Al-Shabaab vor, die der Journalist bei seiner Festnahme bei sich trug. Zudem wies die Polizei darauf hin, dass der Vorgesetzte von Amade Abubacar nichts von den Interviews gewusst habe, die er durchgeführt hatte. / Amade Abubacar drohen konstruierte Anklagen wegen „öffentlicher Aufwiegelung mithilfe von elektronischen Medien“ (Paragraf 322 des Strafgesetzbuchs) und „Verletzung von Staatsgeheimnissen über soziale Medien“ (Paragraf 323 des Strafgesetzbuchs). Amnesty International befürchtet, dass er nur aufgrund seiner Arbeit als Journalist und wegen der Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung unter Anklage steht.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 7.3.2019 unter > ai : urgent action
radionuklid
alpha : 10.08 UTC — In der Vergangenheit, heute wieder, habe ich mir oft gewünscht, mein Leben würde aus der Sicht eines Vogels aufgezeichnet, aus der Sicht eines Vogelwesens, das mich begleitet, Gespräche beispielsweise, die ich täglich mit Menschen führe oder heimliche Gespräche mit mir selbst. Auch würde aufgenommen, was ich gesehen habe, während ich reiste, einen Kentauren auf einer der Uschkanji-Inseln, Regentropfen am Strand von Coney Island, eine Ameise auf Georges Perec’s Schulter während einer Fahrt in der Pariser Metro, meinen schlafenden Körper. Manchmal ist es angenehm, sich zu wünschen, was nicht möglich zu sein scheint, eine große Freiheit der Spekulation. In den vergangenen Jahren wurde mir immer wieder einmal bewusst, dass die Verwirklichung eines mich begleitenden Vogelwesens nicht länger utopisch ist. Ich vermag mir eine fliegende Maschine, ohne weitere Anstrengung vorzustellen, ein künstliches Luftwesen, vier Propeller, angetrieben von einer leichten Radionuklidbatterie, die sich tatsächlich für Jahrzehnte an meiner Seite in der Luft aufhalten könnte, ein beinahe lautloses Wesen in der Gestalt eines Kolibris, eines Taubenschwänzchen oder einer Biene. Kaum wird das Flugobjekt aus seiner Transportbox gehoben und aktiviert, wird es für immer meiner Person verbunden sein, meinem persönlichen Luftraum, den ich mit mir führe, wohin ich auch gehe. Seltsam ist vielleicht, dass es gleichwohl unmöglich sein wird, dieses Wesen je wieder einzufangen, weil es sehr schnell ist in seinen Reaktionen, schneller als meine Hand, schneller als eine Gewehrkugel, ein Wesen, das über die Flugfluchtfähigkeiten einer Stubenfliege verfügt. — stop
im haus der alten menschen : ein zimmer
tango : 22.22 UTC — Da sind Bilder und Fotografien an den Wänden, eine Katze und noch eine Katze, ein Mann unter einem Schneekirschbaum, der die Arme in die Luft wirft. Hände, die sich in ihren Fingern umarmen. Und zwei Lampen. Eine Lampe zum Knipsen und eine zum Streicheln, Licht an, Licht aus. Ein Hase von Bronze mit langen Ohren von Bronze. Ein hölzernes Kreuz auf einem Tisch. Ein weiteres hölzernes Kreuz an einer Wand. Und ein gusseiserner, bemalter Baum. Zwei blühende Orchideen, weiß. Ein Christstern, rot. Und ein Strauß geschnittener Blumen, wild. Ein Stern von Papier und eine Zeichnung von Kinderhand, dies und das. Pflegeschaumdosen. Cremetuben. Tücher. Tupfer. Klingen. Ein Radio. Vinylhandschuhe. Und eine Nahrungsmittelpumpe. Ein Bett. Eine Matratze, die sich bewegt. Ein Bündel getrockneter Blumen. Kompressen. Ein Messgerät. Ein Pillenzerstäuber. Fünf Bücher. Auch Proust, Briefe zum Leben. Ein kleines Schaf und ein Teddybär. Ein Engel von Porzellan. Ein Duftwasserflacon, Ohrstäbchen, Handvollmenge. Ein Rosenkranz und ein Tannenzapfen. Holzlöffel für Zunge und Hals. Eine Schere. Eine Pinzette. Eine Spritze. Ein Mundschaumstäbchen. Eine Windel. Terminplan für Logopädie gegen verlorenes Sprechen. Lavendelduftkissen. Keine Uhr, nur die eine, die mit mir ins Zimmer gekommen ist. — stop