charlie : 5.22 — Amos Oz erzählt, er habe auf seinem Schreibtisch zwei Stifte liegen. Den einen nehme er zur Hand, wenn er seiner Regierung notieren wolle, sie solle zum Teufel gehen, den anderen, wenn er eine Geschichte zu schreiben wünsche. — stop
Aus der Wörtersammlung: stift
hilde domin
romeo : 22.02 — Atemlos eine Kameraluftreise der jungen Filmemacherin Anna Ditges beobachtet. Zwei Jahre lang filmte sie ihre Begegnungen mit Hilde Domin. Als ich meine Fernsehmaschine ausschaltete, war ich voll Glück und Freude, und ich dachte, dass ich mich vermutlich verliebt habe, in den Film, in die junge Filmemacherin, oder nein, ich glaube, ich habe mich in Hilde Domin verliebt. Und wie ich diese Zeilen gerade schreibe, denke ich, dass Hilde Domin, sollte sie mir über die Schulter sehen, vielleicht sagen würde: Aber das geht doch nicht, das ist unhöflich, so nah heranzukommen. – Ich saß im Park am Nachmittag, folgte einer Spinne, die auf Buchseiten turnte und las in Hilde Domins Gedichten: Wer es könnte / die Welt / hochwerfen / dass der Wind / hindurchfährt. Ihre von der Zeit gezeichnete Hand, die im Film genau diese Zeilen mit einem Bleistift auf ein Blatt notierte. Wie sie sagt zur jungen Frau hinter der Kamera: Wir sehen uns gerne an, weil wir uns mögen. — stop
salto
tango : 20.01 — Kein Lebewesen, das nicht über eine Sprache verfügte. Aber doch Lebewesen, deren Sprache ich zunächst entdecken oder erfinden muss. — Eine Springspinne, die meinen Schreibtisch bewohnt. Wie sie zwischen Bleistiften tollt, wie sie innehält und mich minutenlang zu beobachten scheint. Vielleicht schläft sie oder sonnt sich in der Wärme meiner Lampe. Wie sie sich duckt, wenn ich mich nähere, aber nicht flüchtet. Vor wenigen Minuten, während ich las, hüpfte sie von Ost nach West über das Buch hinweg. Eine Vorstellung vielleicht, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. — stop
yanuk : xin
~ : yanuk le
to : louis
subject : XIN
date : mar 18 09 10.52 a.m.
Seit gestern Abend ist es wieder möglich, zu notieren, weil ich meine Schreibmaschine zurückerhalten habe. Mein lieber Louis, so vergehen nun die Tage wieder schneller, als die Tage zuvor noch ohne Schreibmaschine, da ich auf meiner Plattform Höhe 510 wartete, dass Xin, – so nenne ich das Mädchen, das mich meines Schreibgerätes beraubte -, sie mir zurückgeben würde, auch Bleistifte, Hefte und meinen Fotoapparat, die sie eines Nachts, während ich schlief, mit sich genommen hatte. Es ist seltsam, wenn man so sitzt und denkt und doch über keine Werkzeuge verfügt, aufzuschreiben, was man dachte, wird man müde. Natürlich habe ich in erprobter Weise, Zeichen in den Baumstamm hinter mir geritzt, aber während ich an ihnen arbeitete, wusste ich doch in jeder Sekunde, dass ich sie zurücklassen, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen würde. Ja, man wird müde, wenn man denkt, ohne notieren zu können, als würde man in lauwarmem Wasser liegen, im Halbschlaf alle diese feinen, vergeblichen Stimmen im Kopf. — Ich nehme an, Du hast Dich um mich gesorgt, weil ich keine Nachricht sendete. Vor wenigen Stunden noch hörte ich das Geräusch eines Flugzeuges, das sehr langsam den Himmel dort oben durchkreuzte. Natürlich bin ich mir nicht sicher, ob ich nicht doch nur ein Wunschgeräusch hörte. Das fliegen leichte Mädchen Xin jedenfalls schien nichts gehört zu haben. Sie verharrt wieder in meiner Nähe, hängt an einem Arm über dem Abgrund, schläft und spricht träumend in ihrer merkwürdigen Sprache leise vor sich hin. Ich wünschte, ich könnte sie verstehen. Morgen werden wir aufbrechen, werden weiter aufwärts steigen. Nach wie vor ist nicht zu erkennen, woher das Licht kommen mag, das uns so angenehm flatternd bestrahlt. Cucurrucu – Yanuk
eingefangen
20.58 UTC
1805 Zeichen
MELDUNGEN : YANUK LE TO LOUIS / ENDE
animals : eine luftgeschichte
delta : 7.45 — Im Wesentlichen existieren drei Arten von Geschichten. Fertig anwesende, erlebte Geschichten. Rein aus der Luft gefangene, das heißt, erfundene Geschichten. Recherchierte Geschichten. stop. Animals, zum Beispiel, die Geschichte der Entdeckung lebender Papiere. stop. Eine Luftgeschichte. stop. Es ist jetzt zwei Uhr nachts. stop. Was brauche ich? stop. Zwei Kühlschränke, fünf U‑Bahnwaggons, drei Kaffeehäuser, eine Handvoll Abendsegler, Stadtmenschen, ein Radiogerät. stop. Und Papiertiere stop. Sehr kleine Herzen, ebenso kleine Gehirne, Münder und Verdauungstrakte. stop. Auch Propellerflügel. stop. Feinste Ware. stop. Was brauche ich noch? stop. Räume der Zeit und einen ersten Satz. stop. Geduld. stop. Das Geräusch meines Bleistifts auf grobem Papier.
papiertierchen
nordpol : 9.15 — Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht sind oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist sehr gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt hab ich einen Knoten im Kopf. — stop
kirschbaumgarten
echo : 2.08 — Am Ende eines gelungenen Tages schon inmitten der Nacht. Mit Freunden lange durch angenehmen Wind spaziert. Leichter Regen, der noch warm ist vom Sommer. Geräusche der Nachtblüten, die mir von der Arbeit meiner Seele erzählen, vom genauer und immer genauer werdenden Blick auf eine unglückliche Geschichte. Das Rascheln des Regens in den Blättern vor den geöffneten Fenstern. Höre Charles Mingus, während ich einen Traum der vergangenen Nacht notiere. In diesem Traum besuchte ich einen blühenden Kirschbaumgarten. Ein wilder Duft, von dem ich mir träumend erzählte, dass ich ihn eigentlich nicht wahrnehmen könne, also nur erfunden habe, weil ich im Schlaf befindlich, über keinen Geruchssinn verfüge. Da war im Garten ein papierenes Band von Stamm zu Stamm gespannt, darauf eine handschriftliche Zeile, unendlich scheinbar, weil der Anfang und das Ende des Bandes unsichtbar. Ich kann mich nun an den Text, den die Zeile auf dem Papier enthielt, nicht erinnern, wohl aber an einen Mann, auf den ich traf, nachdem ich der Zeichenstrecke eine Weile lesend gefolgt war. Er hielt einen Bleistift in der Hand, arbeitete, schrieb eine zweite Zeile über die bereits vorhandene Zeile, gleichwohl einen Text, den ich nicht erinnere. Für eine längere Zeit sah ich ihm schweigend zu, stand direkt hinter ihm und hörte dann, wie er sagte, ohne den Blick von seiner schreibenden Hand zu nehmen, dass man manchmal eine Variation der eigenen Lebenszeile schreiben müsse, um verstehen zu können. Nichts löschen, sagte der Mann, interpretieren, denken, nachfühlen. — stop
geraldine : island
~ : geraldine
to : louis
subject : ISLAND
Lieber Mr. Louis, wie geht es Ihnen? Ich hoffe, gut. Schreiben Sie mir einmal auf, wie es Ihnen geht, weil ich oft an sie denke. Gestern sind wir an Island vorbeigefahren. Ich war sehr schwach und konnte nicht an Deck. Ich habe durch das Bullauge meiner Kajüte geschaut. Eine dunkle Küste, die immer wieder einmal kurz aus dem Nebel tauchte. Aber jetzt sitze ich wieder an Deck. Erst kam der Doktor, dann kam Vater und hat mich hinaufgetragen. Heute ist die Luft klar und kalt. Man kann das Ende des Meeres nicht erkennen, ich meine, man kann nicht sehen, wo es aufhört kurz vor dem Himmel. Sehr seltsam. Ich suche den Horizont und manchmal, wenn ich glaube, dass ich ihn erkannt habe, ist alles unscharf geworden. Vielleicht liegt das auch an den Schmerzen, die ich habe und dass mir oft die Kraft fehlt, meine Augen noch offenzuhalten. Ich habe für Vater ein wenig die Möwen gefüttert und wir haben gelacht und ich habe wieder einmal gesehen, wie groß seine Füße doch sind. Als er mich allein gelassen hatte, habe ich das Brot für die Möwen auf den Boden vor mich hingeworfen, weil ich nicht die Kraft habe, das Brot in die Luft zu werfen. Kann kaum noch den Bleistift halten. Eis schwimmt im Wasser. — Ihre Geraldine
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 6.9.2008
20.16 MESZ
lebenszeichen
alpha : 5.56 – Ich habe heute Nacht eine Tonbandmaschine, einen Notizblock, Bleistifte, einen Radiergummi und einen gezeichneten Grundriss jenes Ortes, von dem ich erzähle, auf den Tisch vor mir abgelegt, auch einen hölzernen Kasten, in dem ich Karteikarten verwahre, die ich im Präpariersaal rasch beschrieben habe, Sekundenware, ein Verzeichnis der Geräusche, der Bewegungen, der Fragen, Atmosphären, Gedanken, die ich mit unruhigen Händen in meine geöffnete Handfläche notierte. Ich meine, einen feinen Geruch von Formalin zu vernehmen, der noch immer von den Kärtchen aufzusteigen scheint. Jetzt schreibe ich das Wort Meer und sofort danach das Wort Atlantik. Eine junge Frau sitzt vor diesem atlantischen Meer an Deck eines sehr großen Schiffes. Sie unterhält sich mit einem Matrosen, der ihr eine Zeitung brachte. Wenn ich sie so heimlich beobachte, meine ich zu erkennen, dass sie verliebt ist. Sie errötet, wenn der junge Mann zu ihr spricht, schlägt die Augen nieder, dann wirft sie Brot in die Luft zu den Möwen hin. — 5 Uhr 18. Seit Montag 25.8. wieder Funkzeichen aus Peking > Zeng Jinyan ( chinese : english by babelfish )
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marimba : 0.08 — o b e r l i d f u r c h e