Aus der Wörtersammlung: utc

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von ziffern

9

bamako : 23.02 UTC — Ich packe einen Kof­fer. Har­te, sehr har­te Scha­le, hart wie die Scha­le der Pekan­nüs­se. Ich lege Hem­den hin­ein, und Hosen und eine Jacke, es könn­te kalt wer­den nachts dort, wohin ich rei­se. Bril­le, Turn­schu­he, bun­te Strümp­fe und 1 Paar Hand­schu­he, Hals­tü­cher in Gelb und Rot und Blau. 2 Bücher, die von Vögeln erzäh­len, 1 Land­kar­te, 2  star­ke Bat­te­rien für Schreib­ma­schi­ne, 1 Gum­mi­band, Sei­fe, 1 Stet­son Hut, 1 Pull­over tau­ben­grau, 1 Pull­over gelb, 1 Tele­fon. Letz­te Pha­se vor Abrei­se. Ich sit­ze und schau mir an, was ich als Rei­se­ord­nung betrach­te. Ich klap­pe den Kof­fer zu und ver­schlie­ße mein Gepäck, in dem ich das Zah­len­schloss wild bewe­ge.  Der Kof­fer ist zu, ich kann ihn nicht öff­nen. Ich suche nach einem Zet­tel.  Ich bin auf­ge­regt. Ich mah­ne zur Ruhe. Ich sage: Sei gleich­mü­tig, Lou­is! Geduld, Lou­is!  Eine Zahl ist zu erin­nern, vier Stel­len. Noch ist Zeit. Ich begin­ne mit der Zahl 001. Zwei Flie­gen sau­sen her­um. Im Café um die Ecke wird gefei­ert. Ich beob­ach­te, als gehör­ten sie nicht zu mir, mei­ne Fin­ger, die in rhyth­mi­scher Bewe­gung Zah­len ver­su­chen. Astor Piaz­zolla: Tiem­po Nue­vo. Es geht dar­um, kei­ne der mög­li­chen Zah­len zu über­ge­hen, es geht um Prä­zi­si­on. Eine wun­der­ba­re Nacht, noch früh. — stop

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polarnacht

9

romeo : 2.15 UTC — In der Nacht selt­sam dun­kel. Er steht auf, öff­net die Tür zur Die­le. Kein Licht in der Küche. Auch nicht von der Stra­ße her. Kühl­schrank dun­kel. Him­mel dun­kel. Fens­ter der Woh­nun­gen des Hau­ses im vier­ten Stock gegen­über ohne Licht. Im Trep­pen­haus dort irren Taschen­lam­pen­lich­ter oder Mobil­te­le­fo­ne. Hier, sagt er laut, ist der Tisch, und hier ist der Herd und hier sind Klin­ke und Tür zu Bad. Er bemerkt in die­sen Minu­ten einer Nacht ohne Elek­tri­zi­tät, dass er das Licht sei­ner Vor­stel­lungs­kraft zu erhel­len ver­mag, in dem er von den Gegen­stän­den spricht, an die er sich erin­nern will. Tür zum Arbeits­zim­mer. Schreib­tisch gleich links. Vor­sicht Lam­pen­schirm. Ein Buch. Schreib­ma­schi­ne. Kaf­fee­tas­se. Zwei Stif­te, tat­säch­lich. — stop

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louis

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alpha : 20.02 UTC — Am 6. Juli 1978 notiert Wil­helm Gen­a­zi­no Fol­gen­des > Geheim­nis­se des Woh­nens: Im Som­mer: eine ein­zel­ne Flie­ge ist im Zim­mer: Sie stößt manch­mal an eine Schei­be, fällt aber sonst kaum auf, lässt auch den Bewoh­ner in Ruhe. Ange­neh­mes Gefühl, mit einem sol­chen Tier einen Nach­mit­tag zu ver­brin­gen. — Flie­ge Lou­is, von der ich kürz­lich erzähl­te, sitzt seit drei Tagen bereits reg­los auf mei­nem Küchen­tisch, als wür­de sie medi­tie­ren oder schla­fen oder war­ten. Es ist hell gewor­den, dann wie­der dun­kel, und wie­der hell. Unver­än­dert sitzt Flie­ge Lou­is, seit drei Pha­sen der Dun­kel­heit bereits auf mei­nem Küchen­tisch, als wür­de sie medi­tie­ren oder schla­fen oder war­ten. Noch immer bewe­ge ich mit behut­sam. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
Am Montmartre

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von nicht sichtbaren spuren

9

alpha : 20.02 UTC — Vor weni­gen Wochen erzählt ein jun­ger Mann, er habe einen Mensch getö­tet. Ein Hin­weis, nicht Geständ­nis. Er wol­le nicht wei­ter dar­über spre­chen, er setzt hin­zu: Heut­zu­ta­ge nahe einer Front Spu­ren in der elek­tro­ma­gne­tisch Sphä­re zu hin­ter­las­sen, sei Selbst­mord. — stop

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louis

9

echo : 20.02 UTC — Seit eini­gen Tagen wohnt eine Flie­ge in mei­nen Zim­mern, mit mir unter dem Dach. Ich kann nicht mit Bestimmt­heit sagen, dass jene Flie­ge, die ich zuletzt beob­ach­tet habe, als ich kurz vor dem Schlaf noch ein­mal in die Küche trat, die­sel­be Flie­ge war, die mich mor­gens schon im Flur mit einem Flug­ma­nö­ver begrüß­te. Da ich mei­ne Fens­ter wäh­rend der Nacht geöff­net hat­te, könn­te die Abend­flie­ge mei­ne Woh­nung ver­las­sen haben, indes­sen die Mor­gen­flie­ge irgend­wann in der Nacht her­ein­ge­kom­men war, um zu blei­ben. Ich stel­le fest: Ich ver­mag, nach Beob­ach­tung ihrer Gestalt, eine Flie­ge von einer ande­ren Flie­ge nicht zu unter­schei­den; sie sind groß oder klein und schil­lern und haben eine Flü­gel­stim­me, die mir je ver­traut zu sein scheint. Nun ist jedoch Fol­gen­des zu erzäh­len. Die­se, eine Flie­ge, die ver­mut­lich bereits seit Tagen bei mir wohnt, ver­hält sich, wie noch nie eine Flie­ge zuvor in mei­ner Woh­nung sich ver­hal­ten hat­te. Sie folgt mir näm­lich Tag­ein, tag­aus. Sobald ich mich von einem Stuhl erhe­be, beglei­tet mich die Flie­ge in den Flur und wei­ter in mein Arbeits­zim­mer und wie­der zurück. Sie fliegt, weil sie mir im Gehen auf dem Fuß­bo­den, an einer Wand oder einer Decke, nicht fol­gen könn­te, an mei­ner Sei­te, und zwar in der Höhe mei­nes Kop­fes. Ich habe die­se Beob­ach­tung mehr­fach über­prüft, indem ich mei­ne Auf­merk­sam­keit auf die­se eine Flie­ge lenk­te, bevor ich eine Wan­de­rung durch die Woh­nung begann. Die Flie­ge scheint auf mich zu war­ten, dass ich etwas unter­neh­men möge. Ich habe ihr einen Namen gege­ben: Die Flie­ge heißt Lou­is. Lou­is wünscht, so mein Ein­druck, für den Rest sei­nes Lebens bei mir zu blei­ben. — stop

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lockerbie

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echo : 22.57 UTC — Eine Frau erzähl­te auf dem Bild­schirm mei­nes Fern­seh­ge­rä­tes, ihr Mann sei über Schott­land in gro­ßer Höhe von einer Bom­be getö­tet wor­den. Sie habe den Kof­fer ihres Man­nes erhal­ten, in dem sich sei­ne sau­be­re Klei­dung befand. Er sei nie mit sau­be­rer Klei­dung von einer Geschäfts­rei­se zurück­ge­kehrt. Sei­ne Klei­dung, erfuhr sie, wur­de von Frau­en der klei­nen Städt­chen nahe Locker­bie gewa­schen und gefal­tet und gebü­gelt. Eine die­ser fal­ten­den Frau­en erzähl­te wie­der­um, ihre Arbeit sei bis­wei­len merk­wür­dig gewe­sen. Sie sei­en 20 bis 30 Leu­te gewe­sen. Das rühr­te ans Herz. Vie­le in die Tie­fe gestürz­te Ted­dy­bä­ren. Da war das rote Kleid eines 2‑dreijährigen Kin­des. Manch­mal sei sie nach Hau­se gekom­men und habe geweint. — stop

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von papieren

9

marim­ba : 22.12 UTC — Immer wie­der und immer noch die Fra­ge, ob es viel­leicht mög­lich ist, Papie­re zu erfin­den, die ess­bar sind, nahr­haft und gut ver­dau­lich? Man könn­te sich in einen Park set­zen, bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lowry oder Cal­vi­no, Bücher, die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schmeck­ten, nach Bir­nen, Gin, Petro­le­um oder sehr fei­nen Höl­zern. Einen spe­zi­el­len Duft schon in der Nase, wird die ers­te Sei­te eines Buches gele­sen, und dann blät­tert man die Sei­te um und liest wei­ter bis zur letz­ten Zei­le, und dann isst man die Sei­te auf, ohne zu zögern. Oder man könn­te zunächst das ers­te Kapi­tel eines Buches durch­kreu­zen, und wäh­rend man kurz noch die Geschich­te die­ser Abtei­lung reka­pi­tu­liert, wür­de man Stür­me, Per­so­nen, Orte und alle Anzei­chen eines Ver­bre­chens ver­spei­sen, dann bereits das nächs­te Kapi­tel eröff­nen, wäh­rend man noch auf dem Ers­ten kaut. Man könn­te also, eine Biblio­thek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisi­ge Wüs­ten durch­strei­fen oder ein paar sehr hohe Ber­ge bestei­gen und abends unter dem Gas­licht in den Zel­ten lie­gen und lesen und kau­en und wür­de von Nacht zu Nacht leich­ter und leich­ter wer­den. — stop

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mariupol / 6.

9

vic­to­ry : 22.01 UTC — In einem Zim­mer eines Hau­ses in Mariu­pol im sechs­ten Stock lag eine Foto­gra­fie auf dem Boden. Kin­der sit­zen dort im Bild auf Stüh­len. Ihr ers­ter Schul­tag. Die Foto­gra­fie war ver­staubt und außer­dem ver­letzt von einem Gra­nat­split­ter, der das Bild durch­schla­gen hat­te. Der Kopf eines Mäd­chens war in die­ser Wei­se ver­schwun­den. Das Mäd­chen hat­te einen him­mel­blau­en Rock getra­gen, eine koral­len­far­be­ne Blu­se mit wei­ßen Blü­ten einer Rose, schwar­ze glän­zen­de Schu­he mit gol­de­nen Span­gen und eine Ket­te bun­ter Stei­ne um den Hals. Über das Gesicht des Mäd­chens kann ich natür­lich nichts erzäh­len. Auch nicht über ihr Haar. Ich müss­te, um über das Gesicht des Mäd­chens erzäh­len zu kön­nen, die Kin­der des Bil­des fin­den und befra­gen. Viel­leicht haben sie alle über­lebt, das ist viel­leicht mög­lich. Oder eines oder zwei der Kin­der. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Loko­mo­ti­ve
des Jah­res 1968
auf meinem
Küchentisch
im Win­ter um
kurz nach
Mitternacht

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3 Uhr 12 nachts

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india : 3.12 UTC — Das Wort Ver­gess­lich­sein scheint nicht wirk­lich zu exis­tie­ren. Bis zu die­sem Augen­blick jetzt, da ich das Wort Ver­gess­lich­sein, mein Ver­gess­lich­sein, in die digi­ta­le Sphä­re schrei­be. Ich wer­de bald bemer­ken, dass ich irr­te. — stop

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ein junge

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lima : 2.33 UTC — Das Radio erzählt von einem Jun­gen, der in einem Kran­ken­haus in Ägyp­ten Zuflucht fand. Der Jun­ge ver­lor im Gaza­krieg vor weni­gen Wochen bei­de Bei­ne. Die Bei­ne des Jun­gen wur­den von Split­tern einer Bom­be abge­ris­sen. Sein Onkel, der ihn beglei­te­te, schenk­te ihm eine Pup­pe. Die­se Pup­pe, so der Onkel, sei eine beson­de­re Art von Pup­pe, man kön­ne ihre Bei­ne von den Knien abwärts abneh­men und wie­der anset­zen. Der Jun­ge will die Pup­pe nicht haben. Der Jun­ge sagt, er wün­sche sich, dass sei­ne Bei­ne bald wie­der nach­wach­sen. — stop



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