echo : 5.01 — Ich hatte vor wenigen Tagen einen angenehmen Traum. Wenn ich könnte, würde ich diesen Traum gern wiederholen. Deshalb habe ich den Traum in ein Notizbuch notiert, und zwar mit der Hand, damit ich das Schreiben mit einem wirklichen Bleistift nicht verlerne. Es existieren nämlich Bleistifte in meiner Arbeitsatmosphäre, die sich auf Bildschirmen befinden, die nicht wirkliche Bleistifte sind, sondern digitale Figuren, die man niemals spitzen muss. Mit diesen digitalen Wesen kann in Notizbücher geschrieben werden, die gleichwohl nicht wirklich sind. Auch die Schrift, die man erzeugt, ist nicht wirklich Schrift, sondern Malerei, ein gemaltes e, ein gemaltes m, ein gemaltes z. Ich hatte also einen Traum, der mir gefiel. Der Traum befindet sich handschriftlich niedergelegt in einem Notizbuch, das unter meinem Kopfkissen liegt. Mehr kann ich im Moment nicht tun, als vor dem Schlaf im Notizbuch zu lesen und zu hoffen, dass der Traum wieder zu Besuch kommen wird. — stop
die stimme meines Vaters
ulysses : 22.18 — Im Sommer des Jahres 2007, während ich gerade an meiner Birdymaschine arbeitete, telefonierte ich mit meinem Vater. Es war eine warme Zeit gewesen, die Fenster im weit entfernten Arbeitszimmer standen offen. Ich hörte über eine Telefonleitung, die vermutlich durch den Weltraum führte, Vögel im Garten pfeifen. Und da war noch etwas anderes, da waren Funkgeräusche und der Gesang der Wale und ein Raspeln, das Stimmgeräusch Birdys. Ich erinnere mich, mein Vater beobachtete in jenem Sommer Birdy täglich stundenlang vor seinem Computer sitzend. Sobald er einen Fehler bemerkte, meldete er den Fehler unverzüglich an mich weiter. Er nahm in dieser zeitlichen Nähe Instrumente der kleinen Erzählmaschine wahr, die ich gerade erst in Betrieb genommen hatte. Von jeder Entdeckung berichtete er in einer Weise, als ob er der erste Mensch gewesen sei, der sie zu Gesicht bekommen hatte, aufgeregt, kommentierend, fragend. Ein sanfter Gedanke an einem Tag, da ich seit wenigen Stunden weiß, dass ich die Stimme meines Vaters nie wieder hören werde. — stop
ein alter mann
romeo : 0.32 — Ich erinnere mich, vor einem Jahr, an einem Sommerabend, saß mein Vater auf einem Stuhl in seinem Garten. Vor ihm stand ein kleiner Tisch und auf diesem Tisch eine Flasche Wasser mit einem Drehverschluss. Ich glaubte, dass mein Vater mich nicht bemerkte. Er schien mit der Flasche zu sprechen. Er beugte sich vor, hielt die Flasche mit der einen Hand fest, während er mit der anderen Hand an ihrem Verschluss drehte. Aber die Flasche war nicht leicht festzuhalten gewesen, vermutlich deshalb, weil sich die Feuchte der Luft auf ihr niedergeschlagen hatte. Also lehnte sich mein Vater wieder auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich nehme an, er wird eingeschlafen sein. Als er wieder erwachte, war ich noch immer da und auch die Flasche stand noch auf dem Tisch. Mein Vater beugte sich vor, nahm die Flasche und drehte an ihrem Verschluss. Erneut schien er sich mit der Flasche zu unterhalten, ohne aber die richtigen Worte zu finden, weil die Flasche sich noch immer dagegen wehrte, geöffnet zu werden. Also lehnte sich mein Vater erneut zurück, er schüttelte den Kopf. In diesem Moment schwebte eine Libelle über den Tisch. Sie betrachtete meinen Vater, setzte sich auf den Verschluss der Flasche und faltete ihre Flügel. Ein Moment der Stille, des Friedens. Ein paar Zikaden waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wieder eingeschlafen, es wurde dunkel und die Libelle verschwand. Als er erwachte, saß ich vor ihm. Ich hatte die Flasche für ihn geöffnet und ein Glas mit Wasser gefüllt. Mein Vater erzählte, dass er sich gewundert habe, warum er die Flasche nicht öffnen konnte, er habe sie doch selbst zugedreht. — stop
ferry tales
echo : 0.05 — Vielleicht ist das so, dass sich die Seele eines Ortes auf Wörter überträgt, wenn diese Wörter an dem Ort, von dem sie erzählen, geschrieben werden in einer längeren Zeit der Beobachtung. Ich sehe, höre, schmecke, fühle, was ich nicht erfinden kann. Oder ich erfinde, was ich nur an diesem Ort arbeitend zu erfinden vermag. Ja, so könnte das sein. — stop
steinuhren
delta : 0.01 — Wieder die Fragen: Existieren steinerne Uhrwerke, die aufziehbar sind? Welche Gesteine präzise würden als Uhrwerkfedern dienen? Wie schwer oder leicht würden steinerne Uhrwerke sein? Wären diese Uhren tragbare Uhren? Wären sie genau? Könnte ein Mensch sie mit der Kraft seines Körpers bewegen? — stop
indianer
~ : oe som
to : louis
subject : INDIANER
date : mar 30 12 9.28 a.m.
Gestern Abend, stürmische See, war Miller mit einer Schachtel Fotografien Noe’s vom Festland zurückgekehrt. Es dunkelte bereits, als er mit dem Segelschiff Esther Valdez zufrieden eintraf. Wir saßen dann die halbe Nacht an einem Tisch, um eine erste Fotografie unter drei Dutzend weiterer Fotografien Noe’s auszuwählen. Noe als Säugling auf einem Wickeltisch liegend. Noe in einer Badewanne mit einem Hütchen auf dem Kopf. Er war damals vier oder fünf Jahre alt gewesen und lachte in die Kamera. Noe zur Karnevalszeit, ein Indianer. Noe wie er ein kleines Mädchen küsst, das größer ist als er selbst. Ein Passbild in Farbe. Noe ist bereits weit über 20 Jahre alt gewesen, mit diesem Bild wollen wir beginnen, und so haben wir Noes Fotografie in Glas gepanzert. Miller machte sich dann nach etwas Schlaf höchstpersönlich auf den Weg abwärts. Er ist in diesem Moment auf Tiefe 250 Fuß angekommen, noch zwei Stunden und er wird Noe erreichen. Miller meldet, er könne Noe bereits erkennen, einen leuchtenden Punkt, sagt Miller, einen gleichmäßig blinkenden Punkt. Noe selbst scheint zufrieden zu sein. Er ist wach, wir hören seinen Atem. Noch vor wenigen Minuten versuchte er seinen Blick nach oben zu richten, aber seine Kräfte sind zu gering, um seinen schweren Anzug bewegen zu können. Er sei nicht mehr der Jüngste, sagte Noe. Er sehne sich nach einer Uhr, setzte er hinzu. — Das Meer ist heute ruhig. Ein sanft blauer Himmel über uns. Nichts an dieser Stelle deutet daraufhin, welch dramatische Geschichte sich unter uns in aller Stille ereignet. Ob Noe sich wieder erkennen wird? — Ahoi, lieber Louis. Dein OE SOM
gesendet am
30.03.2012
1632 zeichen
MLR X‑867
nordpol : 3.55 — Folgendem Molluskenwesen gilt nachtwärts meine Aufmerksamkeit: MLR X‑867, 10 cm in der Länge, 1 cm in der Höhe, 2 cm in der Breite, samtig schwarzer Körper, 30 Gramm schwer, hohl und höchst beweglich. Dieses Schneckenwesen lebt vornehmlich im Wasser, weswegen es über Kiemen gebietet, wandert dort langsam auf Lamellenbeinen über den Boden hin oder felsige Wände auf und abwärts. Aber auch in Gefangenschaft überlebt es gerne, solange man warme Fliegenlarven füttert, die großzügig über die Oberfläche des Molluskengewässers zu verteilen sind. Es ist vielleicht so, dass in stetiger Erwartung, das kleine Tier in genau jenem Moment, da es der bebenden Larvenkörper ansichtig geworden ist, Hochgeschwindigkeitszungen in Richtung seiner Beute schicken wird, Zungen, die einem schmalen Rücken entkommen, dort reiht sich ein Mund an den nächsten, es sind sieben insgesamt, die geschlossen vollständig unsichtbar bleiben. Nun wäre das noch nichts Besonderes, wenn es sich bei diesem Wesen, nicht um eine Persönlichkeit von hervorragender Musikalität handeln würde, man leuchtet nämlich in jeder erdenklichen Farbe, sobald man Geräusche, noch die leisesten hört. Das Schwarzsein bedeutet also Stille. Art und Position der Schneckenohren sind zu diesem Zeitpunkt, 3 Uhr 28 Minuten, noch nicht bekannt. — stop
spuren
ulysses : 2.06 — Die Entdeckung, dass ich mich, über die Begrenzung meiner Haut hinaus, in den Raum fortzusetzen scheine. Ständig fällt irgendetwas von mir ab oder steigt irgendetwas von mir auf. Ich hinterlasse eine Spur. Ich hinterlasse eine Spur, wie ein Schiff auf dem Meer eine Spur hinterlässt. Eine Spur, die verschwindet, in dem sie mit den Winden wandert. Eine Spur in einem Universum kleinster Teilchen weiterer Menschen. Eine Spur in einer unvorstellbar großen Sammlung codierten Textes. — stop
PRÄPARIERSAAL — ich sage immer: es geht mir gut.
ginkgo : 3.05 — Ich erinnere mich an Olga, die sich kaum bewegte, während sie von ihren Eindrücken des Präpariersaales berichtete. Die junge Frau schien während unseres Gespräches jederzeit auf ihren Körper zu achten, eine Tänzerin, die in einer vorgenommenen Position geduldig und diszipliniert eine Stunde lang zur Übung verharrt, nur ihre Hände bewegten sich unentwegt wie kleine Vögel über den Tisch, weil sie ihre Gedanken mit Zeichnungen auf Servietten unterstütze. Ihre warme, weiche Stimme, die in dieser Nachtminute vom Tonbandgerät aus mit leichtem Akzent zu mir spricht: > Ich mache das so. Ich stelle mir Bezugspunkte vor. Wo also beginnt eine Struktur und wo endet sie, ein Muskel zum Beispiel. Und dann denke ich mir einen Nerv und frage, wo setzt dieser Nerv eigentlich an? / Als ich am ersten Tag in die Anatomie kam, habe ich mich zunächst gewundert, weil ich ein modernes Gebäude erwartet hatte, einen Raum, der kalt ist. Außerdem war ich überrascht, eine so genaue Präparieranleitung zu bekommen. Nach zwei oder drei Wochen habe ich am Fuß präpariert. Plötzlich der Gedanke, dass diese Füße einen Menschen ein Leben lang getragen haben. Da musste ich weinen. Wenn ich in diesen Tagen nach Hause komme, sehe ich meine Mutter, die in der Küche steht. Sie fragt, wie es mir geht. Ich sage immer: Es geht mir gut. Wenn ich mit Freunden spreche, mache ich oft einmal einen Spaß. Ich erzähle nicht alles, weil ich doch Respekt habe vor den Toten dort. Alles zu erzählen, wäre fast zu intim. Wenn meine Freunde bemerken, dass das dort eigentlich eher ein wissenschaftlicher Raum ist, verlieren sie sofort ihr Interesse. / Da war also eine Hand. Diese Hand war am Gelenk abknickt, sie wurde nur noch von etwas Haut und Sehnen und Gefäßen am Körper gehalten, weil ein Knochen entfernt worden war. Dieser Anblick, ein Bild der Verheerung, hat mir schmerzlich zugesetzt. — stop
fünfzehn schwalben
MELDUNG. Bei bestem Büchsenlicht von 10 bis 12, wurden bereits am Freitag, dem Dreiundzwanzigsten, 276 Tauben, fünfzehn Schwalben, sowie acht heilige Figuren vom Dach der Jesuitenkirche zu Aschaffenburg geschossen. Der Schütze : Staatsförster Leuenberger, 67, aus Lindenberg [ Odenwald ] — stop