delta : 11.16 UTC — Alle Welt scheint zu warten auf besseres Wetter, auf E‑Mail, auf Briefe, Anrufe, Begegnungen, Kinder, eine Bitte, eine Entscheidung, einen Dank, eine Nachricht, eine Rückkehr, ein Lebenszeichen, eine Impfung, auf das Ende der Nacht, der Tage, des Lebens. Viel Zeit vergeht. — stop
Aus der Wörtersammlung: entwurf
variationen
echo : 20.08 UTC — Ein Programm existiert, welches digital verzeichnete Geräusche zu analysieren vermag. Ich entdeckte mit seiner Unterstützung den Titel eines Standards von Benny Goodman. Beobachtete Konzertfilme, Variationen ein und desselben Stücks, ähnlich der anatomischen Variationen, die in menschlichen Körpern zu finden sind. Schallplatten, digitale Kopien wie gefroren. Zeitkapseln, die wie kleinste Teilchen durch den Raum reisen, Moleküle treffen, Informationen verändern. — stop
im regenzimmer
marimba : 0.28 UTC — Seit 1911 Tagen bereits versuche ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerfort regnet. Ich mache das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünsche, überlege, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Immer wieder schlafe ich ein, ohne je vom Regenzimmer zu träumen. Einmal, als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draußen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren und dachte darüber nach, wie sich unsere Menschenwelt verändern würde, wenn wir von einem Tag zum anderen Tag über armlange Zungen der Geckos verfügten? In welcher Form kämen sie in einer voll besetzten Straßenbahn zum Einsatz? Und wie bei der Liebe? Und wie im Streit? Und was würden diese Zungen wohl im Schlaf unternehmen? Was wäre, wenn wir uns nie wieder berühren dürften, kein Mensch einen weiteren Mensch, ohne zugrunde zu gehen? – stop
=
tango : 0.15 UTC — l i p p e n b l ü t e
ja bitte?
echo : 15.02 UTC — In den Archiven meiner flachen Glasschreibmaschine sind letzte Gespräche geborgen, die ich vor zwei Jahren im Sommer mit meiner Mutter führte. Sie war im Haus der alten Menschen plötzlich wieder wach geworden, so wach, dass sie in ihrem Bett sitzen und erzählen wollte. Sie trug, ich erinnere mich noch gut, eine rosafarbene Bluse, und während sie erzählte, fasste sie immer wieder nach meiner Schreibmaschine, wollte sie in Händen halten, sah die Bewegung ihrer Stimme auf dem Bildschirm, Amplituden. Plötzlich schlief sie ein. Und ich ließ das Tonbandprogramm laufen, legte meine Schreibmaschine neben Mutter ins Bett und ging ein wenig über die Flure spazieren. Als ich zurückkehrte, war meine Mutter wach geworden. Ich hörte, noch war ich auf dem Flur, wie sie sprach, wie sie der Maschine erzählte, die sie gleich neben sich liegen sah. Sie lachte, als sie mich entdeckte und erzählte weiter, ohne eine Pause zu machen. Ich habe diese Gespräche mit meiner Mutter, ihre Erzählungen, seither nicht wieder gehört, habe sie jedoch sorgfältig gesichert. Es fällt nicht leicht ihre Stimme zu erinnern so einfach so. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde sie anrufen, dann geht es: Sie sagt: Ja bitte? — stop
von den lungenbäumen
india : 0.22 UTC — Ein besonderer Baum, bald nach dem Winter, bald im Frühling, erste Knospen faszinierenden Gewebes. Sobald man sich anschleicht, wird man bemerken, nicht Blätter, nicht Blüten, aber Hände, eine Ahnung zunächst, dann deutlich zu erkennen, menschliche Hände im Alter von sechs oder sieben Wochen, wie sie wachsen, wie sie sich entfalten, wie sie mit erster Bewegung beginnen. Auf einem weiteren Baum sprießen Ohren und Nasen, dann wieder Hände, vielleicht deshalb, weil man gerade sehr viel Hände benötigt. Und Augenbäume, Herzbäume, Nierenbäume, selbst Mund‑ und Zungenbäume sind denkbar wie Lungenbäume, und weitere schrecklich schöne Kreaturen. — stop / koffertext
kalkutta
echo : 0.25 UTC — Einmal wollte ich nach Kalkutta reisen. Ich dachte, das ist jetzt eine beschlossene Sache. Ich machte mich unverzüglich an die Vorbereitung meiner Reise: Koffer, Regenschirm, Ausweis, Apotheke, Impfungen, Notizbücher, Schreibmaschine, Fotoapparate, Flug hin und zurück, Hotelzimmer, Stadtplan, Literatur, Sonnenhut. Wenige Tage später erreichte mich ein erstes Paket des Dokumentarfilms Phantom Indien von Louis Malle. Ich las, der Film habe insgesamt eine Spielzeit von 6 Stunden und 3 Minuten. Solange Zeit, stellte ich mir vor, könnte eine Fahrt quer durch Kalkutta mit dem Taxi dauern. Es ist nun überhaupt die Frage, wie lange Zeit sollte ich mich mit der Vorbereitung meiner Reise nach Kalkutta beschäftigen? — Lange Zeit in der vergangenen Nacht das nordamerikanische Fernsehen beobachtet. Wie man sich in den Worten, wenn man sie spürt, finden kann, kann man sich im Rauschen rasender Worte verlieren. — stop
nahe tallinn
chicago
echo : 15.12 UTC — Am Ende jeden Tages eine Aufgabe notieren, die sofort nach Schlafzeit zu tun ist, zum Beispiel: Nathalie Sarrautes Kindheit lesen. Oder: 1 Particles schreiben, welches? Oder eine Romansequenz studieren: Dave Eggers Zeitoun. Ein brütend heißer Tag. Ludwig rief an, ja, der Ludwig, dieser nervöse, freundliche Mann, der seit Jahren von einer kleinen Erbschaft lebt, die ihm seine Mutter hinterließ, etwas Geld also für bescheidenes Leben, sowie ein Kabinett voll grausamer Erinnerungen. Ludwig berichtet, er habe nun 580 Masken der Schutzklasse FFP2 zur Verfügung, ein Vorrat, geliefert von der Post nach un d nach, der für viele Jahre ausreichend sein könnte, wenn man bedenkt, dass Ludwig nur ein oder zwei Male in der Woche für kurze Zeit seine Wohnung verlässt. Er trägt wunderschöne Schuhe, ich würde Ludwig sofort anhand seiner Schuhe erkennen. Auch seine Schuhe liefert die Post. Im Grunde, das ist denkbar, wurde Ludwigs Leben durch die Pandemie nur unwesentlich verändert. Das Leben draußen war bereits sehr gefährlich, als das Virus noch nicht existierte, als das Virus nur eine Idee gewesen war. Ludwigs Geld könnte an Wert verlieren, darüber haben wir nicht gesprochen, aber über den Klang der Wassersprachen. — stop
laterne
echo : 0.18 UTC — Gestern bemerkte ich eine Bewegung auf meinem Bildschirm, die ich weder verstehen noch beeinflussen konnte. Ich notierte gerade eine E‑Mail, als zwei Sätze dieser E‑Mail Buchstabe für Buchstabe rückwärts gelöscht wurden. Nichts konnte ich tun, als diesen Vorgang beobachten. Ich erinnerte mich an das Bild eines Pullovers, wie er verloren ging, ein Faden meines Pullovers war in die Fänge einer Katze geraten, die wild spielend durch die Wohnung raste. Ich saß still auf einem Stuhl und beobachtete, wie sich der Zusammenhang meines Pullovers auflöste. Ich habe heute verstanden, dass man Informationen, die innerhalb eines Lichtstroms übermittelt werden, mittels eines Prismas in zwei Lichtströme spalten kann. Auch dass es möglich ist, mittels eines Enzyms SARS-CoV-2-Viren zu beleuchten, das heißt Teile, Segmente des Virus so zu codieren, dass Licht von ihnen ausgeht. Es ist ein winziges Licht, aber wenn man sehr nahe herangeht an das Licht mittels eines Mikroskops, ist das Licht ein großes Licht, man könnte dann von einer Laterne sprechen — stop