bamako : 22.58 UTC — Denkbar ist, dass ich mir in wenigen Minuten die Gegenwart einer Fliege so sehr wünschen werde, dass mich kurz darauf tatsächlich eine Fliege in der Vorstellung begleiten wird, als wäre sie eine Freundin der Luft, die mir nicht von der Seite weichen möchte. Für Sekunden wird sie wirklich geworden sein. Ich höre sie bereits jetzt, vielleicht weil ich mich, während ich über meinen Fliegenwunsch nachdenke, an Fliegen erinnere, wie sie mir um den Kopf herum brummen oder pfeifen. Kurz darauf, werde ich mich, wie gestern Abend noch geschehen, vor meine Schreibmaschine setzen und eine Geschichte von einer brummenden Fliege schreiben, wie sie mich von einem Zimmer in das Zimmer gehend in Kopfes Höhe fliegend begleitet. In dieser Sekunde, da ich von ihr erzähle, mit den Tasten, wird deutlich, dass sie nicht existiert, und doch kann ich sie hören mit dem Kopf, ein Oszillieren zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Jetzt habe ich einen Knoten im Kopf, den 14. Buchstabenknoten, seit ich an dieser Stelle notiere. — stop
Aus der Wörtersammlung: fliegen
abend mit fliege no 1
alpha : 22.45 UTC — Seltsam ist das mit den Fliegen geworden, den Faltern, den Käfern. Früher noch an warmen Sommerabenden, sobald ich meine Fenster öffnete, waren unverzüglich, als hätten sie gewartet, dutzende Tiere in meine Wohnung geflogen, saßen auf und in Lampenschirmen, spazierten über Bildschirme der Schreibmaschinen und des Fernsehgerätes, hockten an den Wänden, besuchten meine unbekleideten Beine und Arme, Stirn auch und meine Hände, während sie mit den Tasten arbeiteten. Auch an diesem Abend könnten sie mich besuchen, es scheint jedoch, als wäre niemand da draußen oder nur sehr wenige Käfer, die Marienkäfer sind. Wenn ich an diesem Abend von einem Zimmer ins andere gehen würde, indessen eine Fliege mich in Kopfhöhe begleitete, wäre sie in genau dem Augenblick, da ich ihre Existenz mit meinen Wörtern verzeichne, eine erfundene Fliege. — stop
zebraspringspinne
echo : 5.18 UTC — Ich beobachte an diesem Morgen auf dem Fensterbrett nach Süden zu eine Zebraspringspinne von höchstens 2 Gramm Gewicht. Sie spaziert dort unter meinen Augen furchtlos auf und ab. Möglicherweise ist sie kürzlich erst durch die Luft geflogen oder aber den ganzen Winter über in meiner Nähe gewesen, ohne dass ich sie bemerkte. Für einen Moment halten wir beide inne und schauen in Richtung der Dämmerung. Eine Straßenbahn kommt um die Kurve gefahren, es ist die erste Straßenbahn dieses Tages. Ich schließe die Fenster. Mit dieser ersten Straßenbahn kommt der Tag in die Nacht, Vögel steigen aus und hocken sich in Bäume und singen, während Fliegen und Falter aus meiner Wohnung flüchten, um einzusteigen und rasch davonzufahren. Ich sollte morgens einmal auf die Straße treten und zur Haltestelle gehen und warten, da nun die erste Fahrt der Linie 16 eintreffen und der Fahrer von Nachtfaltern bedeckt sein wird, und die Sitze und Lampen, und auch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Frühschicht. Dichte, bittere, staubige Luft, ein sonores Summen zehntausender Flügel. Kleine, harte Käferkörper stürmen durch weichen, fliegenden Falterwald, ping, pong, ping. — Dieser Text wurde zum ersten Mal vor vier Jahren notiert. Als ich heute frühmorgens eine Zebraspringspinne entdeckte, war mein Text wieder möglich geworden. — stop
ameisengesellschaft LN — 1722
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 1722 [ Stöpselkopfameise : Colobopsis truncatus ] Position 47°81’N 12°48’O nahe Übersee / Folgende Objekte wurden bei sommerlichen Temperaturen am 12. September des vergangenen Jahres von 16.00 — 18.02 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : einhundertzweiunddreissig trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], elf Baumstämme [ à 8 Gramm ], achtzehn Raupen in Grün, vier Raupen in Orange, zweiundsiebzig Insektenflügel [ vermutlich der Gattung der Birkenspanner ], siebzehn Streichholzköpfe [ à ca. 1.8 Gramm ], fünfzehn schwarzbäuchige Taufliegen der Drosophila melanogaster in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 34 Gramm aus vergangenem Jahr ], enhundertundeins Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], achtzehn gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], achtundachtzig Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], acht ovale Kamoenwandkäfer [ vergoldet ], zwei Aaskugeln eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, vierundvierzig Wildbienen, ein lego-Feuerwehrmann mit Helm [ in rot ] je 8.012 Gramm. — stop
m a r i m b o l o
whiskey : 2.42 UTC — Wenn ich die Stadt New York erfinde oder wiederfinde, gehe ich spazieren. Ich setze mich in meiner Vorstellung auf eine Bank im Tompkins Square Park und dann laufe ich irgendwann los mit den Wörtern, notiere, was ich erinnere, es ist Frühling, heute folgte ich der Avenue A nordwärts. Aber ich bin nicht weit gekommen, da war plötzlich eine Art Loch, ich konnte mich an den Namen eines Perückenladens nicht erinnern. Gestern war der Laden in meiner Erinnerung überhaupt nicht existent, deshalb konnte ich an ihm vorbeispazieren. Und heute blieb ich dort hängen. Das ist schon sehr seltsam. — stop
ein eichhörnchen
himalaya : 16.02 UTC — Vom Fenster meines Hauses aus ist das seltsame Hotel, von dem ich kurz erzählen möchte, nicht zu sehen. Ich muss schon meine Schuhe anziehen, Schuhbänder verknoten, Türe schließen und die Treppe abwärts steigen, um das Hotel in meinen Kasten zu bekommen, zur Beschreibung. Auf der Straße biege ich ab nach links. Kurz halte ich an, weil ich unter einem parkenden Automobil ein Eichhörnchen entdecke. Es sitzt ganz still, ich gehe in die Knie, und auch das Eichhörnchen scheint sich jetzt auf seine Hinterbeine vollständig niederzulassen. Eine Nuss hält es in seinen vorderen Pfoten, vermutlich eine Eichel, die nass geworden sein muss. Plötzlich springt das Eichhörnchen auf und davon, und sitzt bald an einem Stamm, mit weit gespreizten Armen und Beinen. Das Tier schaut mich an, als würde es mich kennen. Und weiter geht’s von Baum zu Baum rechts um das Schulgebäude herum, dann wieder zurück und links um das Gebäude herum in den Hinterhof. Immer wieder hält das Eichhörnchen inne, als würde es sich sorgen, ob ich ihm tatsächlich folge. Dann sind wir also im Hinterhof, wo ein paar junge Männer sitzen und rauchen. Sie kümmern sich nicht weiter um mich, ich scheine doch viel zu alt zu sein, als dass ich noch ihre moderne Sprache verstehen würde. Plötzlich ist das Eichhörnchen verschwunden in der Krone einer Platane, deren Blätter im Winter nicht von den Ästen gefallen sind. Wie ich so stehe und in den Himmel schaue, fällt mir ein, dass ich nach dem seltsamen Hotel sehen wollte, ob es noch da ist. Nun ist es aber doch sehr spät geworden, Dämmerung, so ein Licht. Ich werde das seltsame Hotel morgen besuchen, nur so viel sei verraten. Es handelt sich um ein Hotel, das deshalb seltsam zu sein scheint, weil in seinem Restaurant von feinster Küche, — Taubenbrüste und Seeteufel in Scheiben‑, nie je ein Gast zu sehen gewesen ist, obwohl doch zahlreiche Kellner Tische und Stühle pflegen. Sie tragen dunkle Anzüge und Fliegenkrawatten. Wie die unsichtbaren Gäste des Hotels gekleidet sind, kann ich leider zu diesem Zeitpunkt nicht beschreiben. — stop
winter
echo : 18.26 UTC — Wie Bernd L., ein alter Freund, mich in den Palmengarten führt. Es ist ein winterlicher Nachmittag, der Boden knirscht unter den Schuhen, und die Spatzen hocken zitternd vor den Gewächshäusern, weil sie sich einen Spalt erhoffen, durch den sie in die Wärme fliegen können. Ich trage einen Notizblock in der Manteltasche, den nehme ich heraus und einen Bleistift, als wir ins Kakteenhaus treten. Jetzt gehe ich hinter ihm her. Mein lieber Freund berührt Kakteen an ihren Stacheln. Er ist sehr zart in dieser Bewegung, er spricht die Namen der Pflanzen vor sich her, ein Suchender, einer, der ein Wort wiederzufinden wünscht, das er vor drei Jahren in diesem Haus präzise erfunden hatte, ein Schutz- oder Passwort, das ihm verloren gegangen ist, er weiß, dass er das Wort am Ort seines Ursprungs wiederfinden wird. Er muss das Wort unbedingt wiedererkennen, die Texte seiner Schreibmaschine sind verschlüsselt, sie sind da und zugleich nicht, sind sichtbar, aber nicht lesbar. Hier muss das Wort sein, irgendwo. Und ich, der ich meinem Freund Bernd folge, Schritt für Schritt, ganz leise, würde das Wort unverzüglich notieren, sobald wir es gefunden haben werden. Soweit sind wir schon, wir können sagen, es existieren im Wort auch Zahlen. Manchmal komme eine Ahnung auf, sagt Bernd, das Gefühl eines Wortes flattere durch seinen Kopf wie ein Sperling. Es ist Samstag, wie gesagt, es ist ziemlich kalt und die Bäume glitzern. — stop
libellengeschichte
echo : 1.28 — Heut Nacht sitz ich zum fünften Male im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich vor einigen Jahren einmal gegen den Mittag zu erwachte, balancierte eine Libelle, marineblau, auf dem Rand einer Karaffe, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte, schaute mir beim Aufwachen zu und naschte vom Tee, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Ich dachte, vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte Geschmack gefunden an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich in zahlreichen Nächte seither je einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um kurz darauf das Licht zu löschen. Dann warten und lauschen. Auch jetzt höre ich seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
indulin
echo : 20.55 UTC — Eine wunderbare Geschichte habe ich vor vielen Jahren entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich möchte sie an dieser Stelle an diesem schönen Samstagabend wiederbeleben. Mercè Rodoreda schreibt: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: – Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
ein fahrrad
whiskey : 5.16 UTC – Einmal, vor fünf Jahren sprach ich mit Martha, die kürzlich gestorben ist, über das Vergessen oder Vergesslichkeit. Sie sagte, dass man, wenn man wirklich vergesslich wird, diese Vergesslichkeit nur dann bemerkt, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Wohnung aufhalte, könne sie vergessen, soviel sie wolle, es würde ihr selbst nicht und niemand anderem auffallen, dass sie eigentlich einen Film betrachten wollte, aber auf dem Weg zum Fernsehgerät plötzlich ein Buch auf dem Tisch entdeckte, weshalb ihr Filmwunsch verloren ging. – Liebe Martha, notierte ich, Du hast versäumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzählte. Ich sende diesen Text noch einmal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vorlesen wirst. Hier ist der Text, den Martha damals vermutlich noch wahrgenommen hatte. Er geht so: Eines der letzten bewegten Bilder, die ich von meinem Vater in Erinnerung habe, zeigt ihn, wie er in seinem Arbeitszimmer am Computer arbeitet. Auf dem Bildschirm sind dutzende Programmfenster geöffnet. Der alte Mann sitzt fast bewegungslos in seinem Sessel. Manchmal tastet eine Hand durch die Luft, greift unsicher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wieder auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zeiger über den Bildschirm fahren. Ein weiteres Programmfenster öffnet sich. Ein kleines Mädchen fährt in diesem Fenster auf einem Fahrrad über einen sandigen Weg. Sie bewegt sich in Schlangenlinien dahin, lacht hoch zur Kamera, die rückwärts durch die Luft zu fliegen scheint. Es ist ein heiterer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öffnet sich wie von Geisterhand noch ein Fenster, das den heiteren Film verdeckt. Eine Fotografie, Mutter nahe Lissabon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Computer sitzt, im Sand. Er trägt Turnschuhe. Auch meine Mutter trägt Turnschuhe. Ich fragte mich, wer diese Aufnahme machte, und komme nicht darauf. Ein Schatten ist zu erkennen, der Schatten eines Fotografen vielleicht. In diesem Moment ruft die Frau, die auf der Fotografie zu sehen ist, von unten, vom Wohnzimmer her, dass das Mittagessen bald fertig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fenster, die er im Laufe des Vormittages geöffnet hatte, wieder zu schließen. Nein, alles muss aufgeräumt werden. Mein Vater steht nicht einfach auf, um sich sofort unsicheren Schrittes auf die Treppe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zeiger auf dem Bildschirm den Rahmen der Programmfenster nähert. Er scheint das Symbol für das Schließen der Fenster zu suchen, aber das Symbol ist nicht zu entdecken, nicht zu erkennen. Der Zeiger irrt auf dem Bildschirm herum, Fenster drängen sich in den Vordergrund und verschwinden wieder. Dann kommt Mutter herbei, sie ruft zärtlich: Komm, komm, das Essen ist fertig. Schritte auf der Treppe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwitschern der Vögel vom Garten her. Im Zimmer auf dem Schreibtisch ist der Computer längst eingeschlafen. – stop