delta : 22.01 — Nehmen wir einmal an, eine noch nie zuvor gehörte Sprache wäre über Nacht, während ich schlief, wie Regen vom Himmel gefallen und hätte sich in meinem Gehirn versammelt, in dem sie alle dort gestern noch vorhandenen Wörter und Wendungen ersetzte. Und wie ich nun erwache, sehe ich einen Lampignon, eine Lampe, aber ich denke ein Wort, das ich nicht kenne. Und so wundere ich mich, und auch das Wundern selbst wird mit seltsamen Geräuschen bezeichnet. Da ist ein Kühlschrank, und da sind eine Computermaschine und ein Telefon, je Erscheinungen ohne vertrautes Wort. Ich kann sie sehen, ich kann sie berühren, aber nicht eindeutig bezeichnen, wie meine Augen nicht und meine Nase und meinen Mund. In dieser ersten Stunde des Tages mit neuer Sprache vermag ich nur zu deuten, nicht zu erzählen. Ja, nehmen wir das einmal an, merkwürdige Sache. mikadikamadu. — stop
Aus der Wörtersammlung: hirn
mellila
charlie : 22.01 — Das Wort Mellila in meinem Gehirn, sobald ich das Wort Mellila denke. Wie viel Gramm? — stop
lampedusa
echo : 22.01 — Das Wort Lampedusa in meinem Gehirn, sobald ich das Wort Lampedusa denke. Wie viel Gramm? — stop
fenster süd
echo : 2.28 — Fünf Marienkäfer sitzen auf einem Rollo, das das Südfenster meiner Wohnung von innen her verdunkelt. Sie sind sehr klein, ungefähr so groß wie der Glaskopf einer Stecknadel. Noch nie habe ich derart kleine Käfer gesehen. Vermutlich sind sie hier in meiner Wohnung entstanden, kennen von der Welt nichts als meine Zimmer, Diele, Bad und Küche. Ich glaube, es ist noch nicht viel Zeit vergangen, seit sie geschlüpft sind, ein oder zwei Tage vielleicht. Wenn ich mich mit einer Lupe nähere, gehen sie etwas in die Knie, legen den Panzer auf Grund, und warten ab, dass sich das große Auge, das sie betrachtet, wieder zurückzieht. Eine Weile las in einer Erzählung von Julian Barnes herum, ruhte auf dem Sofa. Von dort aus konnte ich, obwohl sie wirklich sehr klein waren, die Körper der Käfer auf dem großen Weiß erkennen. Zunächst dachte ich, sie bewegten sich nicht. Wenn ich mich aber längere Zeit auf die Sätze des Buches konzentrierte, waren ihre Körper doch weitergerückt, sobald ich zum Fenster blickte. Ich dachte, dass sie sich vielleicht nur dann bewegten, wenn ich sie nicht betrachtete, dass sie also ihrerseits mich beobachteten. Wahrscheinlicher ist, dass mein Gehirn ihre langsame Art und Weise der Bewegung nicht zu erfassen vermag, weil sein Nahzeitspeicher äusserst flüchtig zu sein scheint. Einmal stand ich auf und pflückte einen Käfer vom Rollo und warf ihn vorsichtig in die Luft. Damit hatte der Käfer nicht gerechnet. Er stürzte, ohne seine Flügel geöffnet zu haben, auf die weiche Fläche meines Sofas ab. Unverzüglich schlief der Käfer ein, weil es immerhin weit nach Mitternacht geworden war. Werde selbst bald schlafen, zuvor aber fünf kleine Marienkäfer in eine Schachtel setzen, werde den Deckel der Schachtel mehrfach mit einer Gabel perforieren, und diese Schachtel in meinen Kühlschrank legen, 6° Celsius. Bald Frühling. — stop
manitoba
delta : 2.15 — Vor wenigen Minuten erreicht mich eine E‑Mail. Ein Freund notiert, er habe von der kanadischen Firma Metromelt Inc. vor langer Zeit bereits einen Auftrag erhalten, der sehr anspruchsvoll sei. Es ginge darum, eine Vorrichtung zu konstruieren, die in der Lage sei, Information der Wetterdienste so zu bearbeiten, dass sie mittels eines speziellen Funkgerätes in die Gehirne schlafender Angestellter gesendet werden könnten. Diese Angestellten seien zuständig für die Alarmierung zahlreicher Schneeräumkolonnen in den Provinzen British Columbia sowie Manitoba. Insbesondere sei es notwendig, Messfühler, die der Konzern in den betroffenen Gebieten installiert habe, auszulesen und zu analysieren, um zu einem definierten Zeitpunkt, Träume von Schnee in den Schlafkammern der Angestellten des Unternehmens zu erzeugen, sodass sie, einem Reflex folgend, inmitten der Nacht unverzüglich erwachen und zu ihren Telefonen greifen würden. Mein Freund berichtete, er habe seinen Auftraggebern angeboten, ein System zu formulieren, das geeignet sei, im Falle von Schnee, Glockenwerke in Betrieb zu setzen, die jeden der schneeräumenden Angestellten unmittelbar und rechtzeitig wecken würden. Diesen seinen Vorschlag habe man abgelehnt. Nun wüsste er nicht weiter, er trage seit Wochen ein ungutes Gefühl mit sich herum. – Zwei Stunden nach Mitternacht. 3° Celsius Außentemperatur. Erste Gedanken. — stop
PRÄPARIERSAAL : tonspule
sierra : 2.36 — Tonspule 68. Michael erzählt: > Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefässe betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Im Moment will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jederzeit rechnen. — stop
hirnhummeltee
~ : malcolm
to : louis
subject : HIRNHUMMELTEE
date : oct 8 13 6.11 p.m.
Am achten September, es war ein Sonntag gewesen, ein warmer, freundlicher Tag, erreichte Frankie Battery Park. Er hielt sich nicht lange auf unter den Bäumen, die sich bereits herbstlich färbten, folgte der Küstenlinie, um zwei Stunden später das Schiffsterminal South Ferry zu erreichen. Bis dahin hatten wir vermutet, Frankie sei ein scheues, ein menschenscheues Tier, doch gegen den Abend zu in der Dämmerung, wagte sich das Eichhörnchen in den zentralen Saal des Gebäudes, in welchem hunderte Passagiere auf das nächste Schiff nach Staten Island warteten. Allison warnte als Erste mittels eines Funkspruches, Frankie könnte vielleicht eines der Fährschiffe entern. Und genauso war es gekommen, das kleine, muskulöse Tier hastete lautlos über den blitzblanken Boden des Terminals, duckte sich unter Sitzbänken, verbarg sich in den Schatten des Abends, um von den Hunden der Küstenwache unbemerkt, nur von einigen Kindern staunend betrachtet, über den Steg an Bord der John F. Kennedy zu huschen. Hier befinden wir uns zu diesem Zeitpunkt. Es ist wieder einmal Abend geworden, der dreißigste Tag, an dem Frankie auf dem Fährschiff über die Upperbay pendelte, neigt sich dem Ende zu. Am Horizont, im Westen, leuchten die Hafenkräne New Jerseys, sie blinken, mächtige Eisenvögel. Auf der Promenade spazieren Menschen mit Fotoapparaten. Es ist ein schöner Spätsommerabend. Seit vielen Stunden rollt ein Ball von einer Seite des Schiffes zur anderen. Ich werde müde, indem ich ihm mit den Augen folge. Niemand scheint sich an seiner Bewegung zu stören, es ist so, als würde der Ball zum Schiff gehören, als würde er schon seit vielen Jahren über das Hurrikanedeck rollen. Frankie schläft. Er ruht in einer Rettungsweste, die unter einer Sitzbank baumelt. Die Weste schaukelt im leichten Seegang hin und her. — Ihr Malcolm / codewort : hirnhummeltee
empfangen am
8.10.2013
1871 zeichen
gramm
nordpol : 6.38 — Das Wort Homs in meinem Gehirn, sobald ich das Wort Homs denke. Wie viel Gramm? — stop
nachtstimme
india : 2.58 — Das Stimmgeräusch in meinem Kopf. Ob sich der Klang meiner denkenden Stimme mit der verstreichenden Lebenszeit veränderte? Habe ich als Kind mittels der Stimme eines Kindes gedacht? — Ich werde für diese Fragen vielleicht nie eine Antwort finden. Es ist zu spät. Aber ich könnte einem Kind erklären, was ich herauszufinden wünsche. Das Kind würde mich vielleicht mit einem vorsichtigen Lächeln betrachten, würde seine Augen schließen und ein paar Sätze sprechen im Kopf. Ist es einem menschlichen Wesen überhaupt möglich, die eigene denkende Stimme, die Stimme des Gehirnes, aufzubewahren, sich an sie zu erinnern, sie zu vergleichen? — Eine warme Nacht. Falter kommen zum Sterben herein. Und Marienkäfer, wieder ein gutes Dutzend. Diese Käfer sind merkwürdige Wesen. Ich kenne sie, solange ich denken kann. Sie wandern an der Zimmerdecke. Das Licht meiner Lampions scheint ihnen zu gefallen, als ob sie von diesem Licht zehren könnten. Sobald es dunkel geworden ist, wenn sie schlafen oder dämmern, fallen sie zu Boden, als ob es im Dunkel nicht möglich wäre, rechtzeitig die Flügel zu öffnen. — Gigi Ibrahim, Aktivistin, twittert aus Kairo: Everytime someone say „30 June revolution“ or „army and people one hand“ I die a little inside. — stop
paris
sierra : 5.25 — In der Morgendämmerung komme ich an, es ist die Stadt Paris gewesen, Gare de l’Est. Im Zug hatte eine Frau von monströsen Ausmaßen neben mir Platz genommen, presste mich gegen eine Wand des Abteiles, ich konnte kaum atmen, und wie ich den Bahnhof verlasse, folgt sie mir. Ich gehe westwärts Richtung Montparnasse. Plötzlich sitze ich in einem Café, in dem alle Gegenstände von Holz sind. Der Boden, die Wände, Stühle, Tische, auch die Teller, Servietten, Tassen und die Blumen in ihren hölzernen Gefäßen, das Wasser der Vasen, der Kaffee, selbst die Frau, am Nachbartisch, die sich freundlich nach einer Zigarette erkundigt, scheint zu größeren Teilen aus Holz zu bestehen, Hals, Stirn, Wangen, Arme und Hände, eines ihrer Augen. Auf dem Tisch vor mir sitzt eine Ameise. Sie bewegt sich kaum. Ich weiß, dass sie zu mir gehört, ich habe sie gekauft. Der Mann, der mir die Ameise verkaufte, steht auf der Straße vor dem Café und spricht mit jener Frau, die mir folgt. Er trägt einen Hut, eine Melone, die Frau scheint weiterhin zu wachsen. Beide schauen in meine Richtung, sie lachen. Dann kommt der Mann zurück. Er schüttet eine Handvoll Sultaninen auf den Tisch, sagt, dass ich die Früchte in Scheiben zerlegen solle, weil Ameisen, gerade diese Ameise, die zu meinem Eigentum geworden ist, Sultaninen bevorzugt verzehren würden. Das kleine Tier ist sehr kostbar. Es ist eine Ameise, die ihr Leben heimlich mit Samuel Beckett geteilt haben soll, ich habe das schriftlich, eine Ameise mit einem wundervollen Gehirn, sie ist sehr alt, verfügt über Ohren und spricht mit den Fühlern. Ich weiß nicht, wie ich die Ameise transportieren soll, deshalb wache ich auf und wundere mich, weil ich kein Licht sehe. Aber ich spüre die Schritte einer Ameise auf meinem Bauch. Sie läuft kreuz und quer, bald sitzt sie unterhalb meines linken Auges. Das Tier scheint zu warten. — stop