marimba : 15.03 — Ich weiß nicht, ob wahr ist, was Martha erzählte, dass sie sich nämlich sehr sorgfältig vorbereiten müsse, um ein Buch oder in einem Buch zu lesen. Sie habe nämlich bemerkt, dass sie Bücher, Texte, nicht zwei Male zu lesen vermag. Sie könne, sagt sie, Zusammenhänge eines Textes während einer zweiten Lesung nicht wieder erkennen, nur einzelne Wörter oder Satzteile. Auch Texte, die selbst notierte, seien verloren. In dem Moment, da sie einen Text notiere, würde sie bereits ahnen, dass sie selbst diesen Text nie wieder verstehen wird. Sie schreibe also niemals für sich selbst, es sei denn, sie schreibe mit geschlossenen Augen. — Das ist doch sehr merkwürdig. — stop
Aus der Wörtersammlung: iss
ein name fern und nah
echo : 18.55 — Im Schnellzug saß eine junge Frau. Als der Zug längere Zeit halten musste, kamen wir ins Gespräch. Die junge Frau sagte, dass sie bewundere, wie schnell ich auf meiner Schreibmaschine mit den Fingern tippen könne. Sie erwähnte, dass sie in Sri Lanka geboren worden sei, aber schon lange in Europa lebe. Tatsächlich hörte ich kaum einen Akzent in ihrer Stimme. Ich fragte sie nach ihrem Namen. Welchen ihrer Namen ich wissen wolle, erkundigte sie sich, ihren europäischen, den Namen ihres Mannes, der sich mit einem Bruchteil ihres Geburtsnamens verbunden habe, oder eben den Namen ihrer Kindheit? Mit einer scheuen Handbewegung rief sie meine kleine flache Schreibmaschine zu sich herüber, nahm sie in ihre linke Hand und begann mit ihrer rechten Hand Zeichen um Zeichen zu tippen. Sie sagte: Ich schreibe ihnen, wie ich in Sri Lanka als unverheiratete Frau gerufen wurde. Vorsichtig berührte sie mit einer Fingerspitze die Tastatur auf dem Bildschirm, es dauerte lange Zeit, ehe sie fertig geworden war. Immer wieder schien sie ihren Namen zu prüfen, ob auch alles stimmte. Kurz darauf las sie mir ihren Namen vor, ein schönes Geräusch in meinen Ohren. Dann gab sie mir meine Schreibmaschine zurück und ich buchstabierte meinerseits Folgendes vorsichtig nach: Malvala Sri Brahmana Rinnayaka Tannkoan Mydiuanselage Langt Mahehika Tannkoan Sanatonga. Es war an einem Donnerstag gewesen, gegen 18 Uhr. — stop
von kevin und liesl im zug
tango : 22.52 UTC — Ich hörte, er heiße Kevin. Er sagte, er sei ohne Dach über dem Kopf. Auch im Sommer oder im Herbst sei das Leben nicht leicht, im Sommer habe er viel Durst, im Herbst fürchte er sich vor dem Winter. Er würde gern seine Geschichte erzählen, warum er so arm geworden sei, dass er keine Wohnung habe und nichts zu essen. Wenn Kevin spricht, ist seine Stimme wunderschön anzuhören. Es ist eine Stimme, die gut singen könnte, ein Tenor vielleicht. Nur das mit Kevins Geschichte ist so eine Sache, ich höre Kevins Lebensgeschichte seit Anfang des Jahres im Morgenschnellzug zum Flughafen immer wieder. Ich sollte sagen, Kevin erzählt täglich eine andere Geschichte, er ist im Grunde ein guter Erzähler, und auch ein guter Erfinder. Im Winter erzählt er Wintergeschichten, im Sommer Sommergeschichten. Gestern wurde Kevin von einer jungen, mageren Frau begleitet. Sie war sehr schmutzig. Kevin erzählte ihr, dass ich ihm manchmal etwas Geld geben würde oder eine Brezel, auch dass ich aufschreiben würde, was er berichte. Sie setzten sich neben mich. Die junge Frau sagte: Wenn man träumt, ist man im Inneren wach und warm. Am Flughafen stiegen beide mit mir aus. Wir sprachen eine halbe Stunde. Der Bahnhof war wieder einmal undicht. Regen kam von der Decke. Das Licht war teilweise ausgefallen, an den Wänden saßen ein paar dicke Kröten. Sie schnappten mit armlangen Zungen nach Tauben, die über den Bahnsteig segelten. Ich hörte, das Knochengespenst an Kevins Seite soll Lieselotte heißen, sehr seltsam dieser Name für eine recht junge Person. Ich erfuhr, dass sie Literaturwissenschaften in London studierte, sie mag gern lesen, aber sie komme nicht dazu, weil sie das Bild ihres Vaters in sich trage, der immerzu betrunken war, ein schmerzendes Bild, das hell vor ihr leuchte. Ich weiß jetzt, Bilder eines betrunkenen Vaters zu verdunkeln, erfordert ungeheure Kraft und Ausdauer. Lieselotte kann deshalb seit einem Jahrzehnt nicht schlafen. Sie mag Kevin, der so schöne Geschichten erzählt, dass sie beide von seinen Geschichten ein wenig weiterleben können. Es ist jetzt Abend. — stop
echo
whiskey : 22.58 UTC — Wie schwer es ist, Menschen, die sich im Tiefschlaf befinden, vorzulesen oder mit tiefschlafenden Menschen zu sprechen. Kein Zeichen eines Erwachens. In dem Moment, da ich bemerke, dass ich nicht weiß, ob sie mich hören, wird mein Versuch, Gehör zu finden, zu einem Selbstgespräch, das schmerzt, einsame Stimme. — stop
nach dem zug
echo : 22.02 UTC — Menschen, die glückliche Menschen sind, gehen im Grunde zunächst davon aus, dass sie von anderen Menschen verstanden, präzise, dass sie nicht missverstanden werden, ich meine in dem Sinne, dass Verständigung möglich ist, entweder sofort, auf der Stelle noch, oder mittels einer Nachfrage konstruktive Verständigung letztlich gelingt, sagen wir Zivilisation, die nun auch in Mitteleuropa bedroht wird von Personen, die auf ihr Land stolz sein wollen in einer Weise, die Menschen fremder Sprachen herabsetzt. — Am Marienplatz verließ ich den Zug. Ich stand unter Wartenden, wartete selbst, beobachtete den Bahnsteig, auf dem wartende Menschen sich drängten. Sie standen sehr nahe an der Bahnsteigkante. Als der Zug einfuhr, dachte ich, wäre ich ein Lokführer, würde ich in dieser Situation meine Augen schließen. — stop
shenzhen
nordpol : 15.12 UTC — An diesem heutigen Tag beginne ich zu beobachten, welche und wie viele Informationen meine Schreibmaschine verlassen oder in sie hineingeholt werden, von deren Kommen und Gehen ich nichts bemerke. Das ist nämlich eine sehr seltsame Sache, gestern, während ich im Regen spazierte, wurden von meiner Schreibmaschine 187 Millionen Byte Information lautlos aus der Luft entgegengenommen, ich weiß nicht, woher präzise und warum. Tatsächlich lebe ich in einer beinahe geräuschlosen Schreibmaschinenzeit, auch das Notieren auf gläserner Tastatur ist kaum noch zu hören. Geräusche, zur Erzeugung von Information auf meiner Schreibmaschine notwendig geworden, werden nur in großer Entfernung hörbar gewesen sein, das Rauschen oder Brausen der Server irgendwo an geheimen Orten. Oder das helle Sausen und Heulen der Turbinen in Kraftwerken, die Strom für das Herz meiner Schreibmaschine erzeugen. Das Murmeln einer schlaflosen Arbeiterin nahe Shenzhen. — stop
laufen
delta : 15.12 UTC — Ich mag Menschen, die Verzeichnisse anlegen, die Verzeichnisse beschriften nach geheimen oder nach Regeln, die sofort erkennbar sind. Mein Vater führte Verzeichnisse seiner Wetterbeobachtungen, auch welche Vögel er im Garten beobachtet hatte, wurde akkurat mit Bleistift in Listen eingetragen, Amseln, Meisen, Sperlinge, Zaunkönige und Dompfaffen und Rotkehlchen. Daran erinnerte ich mich gestern, als ich einen Film beobachtete, der von den Vogelbeobachterinnen und Vogelbeobachtern des Central Parks erzählt. Eine alte Dame legt dort ähnliche Verzeichnisse an, wie mein Vater, als er noch lebte. Ich selbst notiere nicht selten, welche Filme ich betrachte, während ich auf einer Laufmaschine laufe, wenn es regnet oder nicht. Unlängst lief ich mit Kopfhörern, folgte Gene Hackman in dem Film French Connection. Zuletzt wurde ich immer schneller in meinen Bewegungen. Anstatt 10 Kilometern, die ich bereits notiert hatte, lief ich 14 Kilometer. Ich radierte im Notizbuch. Es war an einem Samstag gewesen. — stop
verzeichnen
tango : 2.12 UTC — Ein Gedanke, den ich notiere, der eine Spur von Zeichen hinterlässt. Oder ein Gedanke, den ich gerne behalten, das heißt, festhalten würde, aber nicht notieren kann, weil Notieren nicht möglich, weil es vielleicht dunkel ist, geht verloren oder hinterlässt einen noch tieferen Eindruck, als würde ich ihn auf ein Blatt Papier oder in digitale Verzeichnisse eingetragen haben. Ein Käfer von dunkler, von roter, von gelber, von blauer Menschenhaut, warum? — stop
traumgeschichte
foxtrott : 22.02 UTC — In der vergangenen Nacht träumte ich von einem seltsamen Kind, das war nämlich so im Traum, dass das Gehirn des Kindes zu wachsen schien, das Gehirn war in den Ohrmuscheln sichtbar geworden, von einem dünnen Häutchen geschützt, das beinahe durchsichtig gewesen war. Es kitzelt in meinen Ohren, sagte das Kind. Wir saßen in einer Straßenbahn. Ich erwachte. Es war ziemlich heiß am Morgen, als ich erwachte. — stop
souiga
ginkgo : 6.58 UTC — Lieselotte, die eigentlich ganz anders heißt, erzählte mir gestern im Schnellzug eine berührende Geschichte. Sie sagte, sie habe in ihrem Leben sehr viel Alkohol getrunken, das habe schon zur Kinderzeit angefangen. Sie habe ungefähr vierzig Jahre ihres Lebens in leichten oder schweren Rauschzuständen verbracht. Es existieren Zeiträume, die seien vollständig dunkel, ohne Erinnerung, die kenne sie nur von Erzählungen anderer her, sie habe in diesen dunklen Zeiträumen je keine gute Figur gemacht. Sie besuche nun, da sie abstinent lebe, manchmal Orte, an welchen sie betrunken gewesen war, das Münchener Oktoberfest, beispielsweise, oder die Stadt Souiga an der südlichen Küste Kretas, Manhattan im Mai, Turku. Sie reise herum, um nachzusehen, wie es wirklich ist. Oder die Wieskirche. — stop