Aus der Wörtersammlung: mpi

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kakaduzwerge

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gink­go : 6.55 – Ein schläf­ri­ger Mann sitzt in die­sen Minu­ten mit einer Schreib­ma­schi­ne auf dem höl­zer­nen Boden sei­nes Arbeits­zim­mers. Habe zuletzt zwei Stun­den in Chris­toph Rans­mayrs letz­ter Welt gele­sen, in einem Buch, das ich immer dann zur Hand neh­me, wenn mir die Spra­che müde zu wer­den scheint. Der Mai kam blau und stür­misch. Ein war­mer, nach Essig und Schnee­ro­sen duf­ten­der Wind fraß die letz­ten Eis­rin­den von den Tüm­peln, feg­te die Rauch­schwa­den aus den Gas­sen und trieb zer­ris­se­ne Gir­lan­den, Papier­blu­men und die öli­gen Fet­zen von Lam­pi­ons über den Strand. (Chros­toph Rans­mayr) Kaum hat­te ich das Wort Schnee­ro­se zu Ende gele­sen, stand ich auf und war­te­te erhitzt zwei oder drei Minu­ten vor mei­nem Aqua­ri­um. Dort woh­nen seit eini­gen Mona­ten Wäl­der und Fische, die mich im Zwie­licht schwe­bend, Stun­de um Stun­de beob­ach­ten. Ein­mal, gegen Zwei, ent­fal­te­te ich einen Stadt­plan New Yorks. Das mach­te sie wild. Dann wie­der Ruhe. Flos­sen­fä­den. Flug­dra­chen­schwän­ze. Und die­ser Mann, die­ser schläf­ri­ge Mann, der sich wie­der und wie­der nähert. Sei­ne Freu­de, dass ihn das Wort Schnee­ro­se, indem es dem Wort Essig folg­te, der­art begeis­ter­te, dass ihm warm wur­de, feu­rig und alle die­se Din­ge. Aber natür­lich, aber natür­lich erneut die Fra­ge, ob mei­ne Kaka­du­zwer­ge mich als einen der ihren, als einen Fisch betrach­ten. — Guten Morgen!
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copiapoa humilis xd — 82

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MELDUNG. Fünf Kak­teen [ Gat­tung — Copi­a­poa humi­lis XD-82 ] haben sie­ben Uhr zwei­und­fünf­zig MEZ acht Pfund fili­gra­nes Sta­chel­horn auf flüch­ten­de Labo­ran­ten geschos­sen. [ MPI für Bio­tech­no­lo­gie, 5th flo­or : Labor IIId‑7 : Level 4 ] — stop

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bryant park

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sier­ra : 8.57 — Es hat­te Stun­den lang gereg­net, jetzt dampf­te der Boden im süd­wärts vor­rü­cken­den Nord­licht, und das Laub, das alles bedeck­te, die stei­ner­nen Bän­ke, Brun­nen und Skulp­tu­ren, die Büsche und Som­mer­stüh­le der Cafes, beweg­te sich trock­nend wie eine abge­wor­fe­ne Haut, die nicht zur Ruhe kom­men konn­te. Boule­spie­ler waren vom Him­mel gefal­len, feg­ten ihr Spiel­feld, schon war das Kli­cken der Kugeln zu hören, Schrit­te, Rufe. Wie ich so zu den Spie­lern schlen­der­te, kreuz­te eine jun­ge Frau mei­nen Weg. Sie tas­te­te sich lang­sam vor­wärts an einem wei­ßen, sehr lan­gen Stock, den ich ein­ge­hend beob­ach­te­te, rasche, den Boden abklop­fen­de Bewe­gun­gen. Als sie in mei­ne Nähe gekom­men war, viel­leicht hat­te sie das Geräusch mei­ner Schrit­te gehört, sprach sie mich an, frag­te, ob es bald wie­der reg­nen wür­de. Ich erin­ne­re mich noch gut, zunächst sehr unsi­cher gewe­sen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Sei­te und berich­te­te vom Okto­ber­licht, das ich so lieb­te, von den Far­ben der Blät­ter, die unter unse­ren Füßen raschel­ten. Bald saßen wir auf einer nas­sen Bank, und die jun­ge Frau erzähl­te, dass sie ein klei­nes Pro­blem haben wür­de, dass sie einen Brief erhal­ten habe, einen lang erwar­te­ten, einen ersehn­ten Brief, und dass sie die­sen Brief nicht lesen kön­ne, ein Mann mit Augen­licht hät­te ihn geschrie­ben, ob ich ihr den Brief vor­le­sen kön­ne, sie sei so sehr glück­lich, die­sen Brief end­lich in Hän­den zu hal­ten. Ich öff­ne­te also den Brief, einen Luft­post­brief, aber da stan­den nur weni­ge, sehr har­te Wor­te, ein Ende in sechs Zei­len, Druck­buch­sta­ben, eine schlam­pi­ge Arbeit, rasch hin­ge­wor­fen, und obwohl ich wuss­te, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durf­te, erzähl­te mei­ne Stim­me, die vor­gab zu lesen, eine ganz ande­re Geschich­te. Liebs­te Mar­len, hör­te ich mich sagen, liebs­te Mar­len, wie sehr ich Dich doch ver­mis­se. Konn­te solan­ge Zeit nicht schrei­ben, weil ich Dei­ne Adres­se ver­lo­ren hat­te, aber nun schrei­be ich Dir, schrei­be Dir aus unse­rem Cafe am Bryant Park. Es ist gera­de Abend gewor­den in New York und sicher wirst Du schon schla­fen. Erin­nerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unse­rem Cafe Dei­nen Geburts­tag fei­er­ten? Ich erzähl­te Dir von einer klei­nen, dunk­len Stel­le hin­ter der Tape­te, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklä­ren konn­te, was das bedeu­tet, die­ses Rot für sehen­de Men­schen? Erin­nerst Du Dich, wie Du mit Dei­nen Hän­den nach jener Stel­le such­test, wie ich Dei­ne Fin­ger führ­te, wie ich Dir erzähl­te, dass dort hin­ter der Tape­te, ein Tun­nel endet, der Euro­pa mit Ame­ri­ka ver­bin­det? Und wie Du ein Ohr an die Wand leg­test, wie Du lausch­test, erin­nerst Du Dich? Lan­ge Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sag­test Du, und woll­test wis­sen, wie lan­ge Zeit die Stim­men wohl unter dem atlan­ti­schen Boden reis­ten, bis sie Dich errei­chen konn­ten. – An die­ser Stel­le mei­ner klei­nen Erzäh­lung unter­brach mich die jun­ge Frau. Sie hat­te ihren Kopf zur Sei­te geneigt, lächel­te mich an und flüs­ter­te, dass das eine sehr schö­ne Geschich­te gewe­sen sei, eine tröst­li­che Geschich­te, ich soll­te den Brief ruhig behal­ten und mit ihm machen, was immer ich woll­te. Und da war nun das aus dem Boden kom­men­de Nord­licht, das Knis­tern der Blät­ter, die Stim­men der spie­len­den Men­schen. Wir gin­gen noch eine klei­ne Stre­cke neben­ein­an­der her, ohne zu spre­chen. Ich seh gera­de ihren über das Laub tas­ten­den Stock und ein Eich­hörn­chen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baum­stamm kau­er­te. Bei­na­he kommt es mir in die­ser Sekun­de so vor, als hät­te ich die­ses Eich­hörn­chen und sei­ne Nuss nur erfun­den. — stop

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revolver

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india : 3.26 — Das Selt­sa­me an den Nacht­bü­chern ist, dass man sie nur nachts und nur unter frei­em Him­mel lesen kann. Ich war des­halb bis kurz nach Zwei im Pal­men­gar­ten am See und hör­te den Spin­nen zu beim Sei­len, und lausch­te Pan­thern bei lei­ser Fres­se­rei und ande­ren ange­neh­men Din­gen, die man so macht, wenn man bemerkt, dass man ein Pan­ther gewor­den ist in einer Vor­som­mer­nacht. Dann ging ich nach Hau­se und leg­te das Nacht­buch, das von einer Chi­ne­sin erzählt, die sich wun­dert, dass sie eine Chi­ne­sin ist, ins Regal zu ande­ren Nacht­bü­chern zurück. Sit­ze jetzt auf dem Sofa und die Fens­ter sind geöff­net und ein Fal­ter flat­tert in einem Lam­pion­ her­um und notie­re eine klei­ne wil­de Geschich­te. Die­se Geschich­te geht so: Irgend­wann, sagen wir im Som­mer, sagen wir mor­gens. Ein Spie­ler steht am Fens­ter. Er schaut in Rich­tung des gegen­über­lie­gen­den Hau­ses. Die Sicht ist gut. Kein Nebel. Kein Dunst. Ein oder zwei Vögel, Later­nen­hö­he, auf und ab. Jetzt rich­tet der Spie­ler den Revol­ver gegen die Schlä­fe. Alle Kam­mern der Waf­fe sind muni­tio­niert. Der Spie­ler war­tet ab. Glü­hen­der Kopf. Film zurück, mal bunt, mal nicht. Bril­lan­ter Strei­fen. Ver­lässt ein Mann das Haus, schießt sich der Spie­ler eine Kugel in den Kopf. Game over. Ende. Fin. Ver­lässt eine Frau das Haus, hat der Spie­ler einen Tag gewon­nen. Es ist dann ein Tag leich­ten Genie­ßens, ein Tag aber auch von Unru­he, sobald Abend gewor­den ist. Jetzt schläft der Spie­ler. Dann wacht der Spie­ler auf. Wie­der steht er am Fens­ter, wie­der ist frü­her Mor­gen und wie­der ist Som­mer. Die Maschi­ne lässt sich nicht anhal­ten, auch die Zeit nicht, — Revol­ver gegen Stirn. Ent­weicht dem Haus eine Kat­ze, wird eine Kugel ent­nom­men. Jede wei­te­re Kat­ze ent­nimmt der Revol­ver­trom­mel eine wei­te­re Kugel. Sechs Kat­zen bedeu­ten eine Frau. Frau­en und Kat­zen brin­gen Glück. Natür­lich lässt sich das unend­lich ver­fei­nern. Eine rote Kat­ze erzwingt eine zwei­te Auf­füh­rung noch an dem­sel­ben Mor­gen. Kommt ein Nas­horn aus dem Haus, hört der Spie­ler für immer auf zu spie­len. Ein Nas­horn mit drei Hör­nern und der Spie­ler wird Pries­ter. Wir sehen, die Bedin­gun­gen des Spie­lers ein Pries­ter zu wer­den, sind ein­deu­tig defi­niert. Kein Ent­kom­men. Kein Aus­weg. Ein Lieb­ha­ber kon­zen­trier­ten Lichts. Cine­ma Paradiso. 

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johnny got his gun

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echo : 2.55 — Ich will heu­te nichts tun, als mich von dem Film John­ny got his gun erho­len. Sit­ze im Licht der Com­pu­ter­ma­schi­ne und ver­zeich­ne mit einem Blei­stift Wege, die mei­ne Spring­spin­ne über den Schreib­tisch spa­ziert, auf ein Blatt Papier. stop. Selt­sa­me Figu­ren. stop. stop. Ana­to­misch betrach­tet, zeigt sich die Weg­stre­cke des olym­pi­schen Feu­ers als offen lie­gen­de Ner­ven­bahn einer Dik­ta­tur. — Zwei Uhr eins. Nacht in Ran­gen, Bur­ma. — stop

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hu jia

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6.08 — Ich besit­ze eine klei­ne Fern­seh­ma­schi­ne. Sie steht auf einem Brett, unter dem sich Rol­len befin­den, sodass sich das emp­fan­ge­ne Licht­bild im Raum her­um­fah­ren lässt. Ges­tern Abend, ich saß auf dem Sofa und schau­te in das Licht die­ser klei­nen Fern­seh­ma­schi­ne, kam eine jun­ge Frau ins Bild, das heißt, genau­er, die Kame­ra­ma­schi­nen, die das Licht für mei­ne Fern­seh­ma­schi­ne ein­zu­fan­gen, beauf­tragt waren, hat­ten sich weit weg in Chi­na auf die Gestalt die­ser jun­gen Frau aus­ge­rich­tet und für einen kur­zen Zeit­raum ihres Lebens hiel­ten sie an ihr fest, an ihrem jun­gen Gesicht, das vol­ler Trau­er gewe­sen war. — Was habe ich gese­hen, was habe ich gehört? — Da war eine jun­ge Frau, eine sehr blas­se jun­ge Frau, die in der chi­ne­si­schen Spra­che spre­chend davon erzähl­te, dass ihr Mann, Hu Jia, soeben von einem Volks­ge­richt zu 3 Jah­ren und 6 Mona­ten Haft ver­ur­teilt wor­den war, weil er sein Men­schen­recht auf freie Rede aus­übend gesagt und geschrie­ben hat­te, die Olym­pi­schen Spie­le des Jah­res 2008 sei­en für die Men­schen­rech­te in sei­nem Hei­mat­land eine Kata­stro­phe. Die jun­ge Frau hielt ein Kind in ihren Armen, einen Säug­ling. Wäh­rend sie sprach, beweg­ten sich ihre Hän­de in einer selt­sa­men Art und Wei­se vor Mund und Nase, Ges­ten von tie­fer Trau­rig­keit und Ver­zweif­lung, Ges­ten, die ihr Gesicht viel­leicht vor den Licht­ma­schi­nen schüt­zen soll­ten. Ich habe gese­hen, dass ihre Hän­de beb­ten. Dann war sie wie­der weg und auch ihr Kind.  – Fünf­zehn Uhr sie­ben in Lha­sa, Tibet. — stop

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