nordpol : 22.08 — Gestern habe ich bemerkt, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stimme meines Vaters erinnern konnte. Wie ich auch suchte, ich fand sie nicht. Ich war natürlich sehr erschrocken gewesen. Anstatt der Stimme meines Vaters, hörte ich die Stimme des großen Erzählers Isaak B. Singer, eine helle und zugleich raue Stimme, die der Stimme meines Vaters sicher ähnelte. Ich hatte vor ein oder zwei Jahren Singers Stimme in einem Filminterview gehört. Fotografien zeigen den alten Mann spazierend am Atlantik. Auch mein Vater war mehrfach in Brighton Beach gewesen, wenn ich nicht irre. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Stimme meines Vaters zurück. Isaac B. Singers Geschichte im Übrigen geht so: Kurz nach meiner Ankunft (in Amerika) betrat ich zum ersten Mal eine Cafeteria, ohne zu wissen, was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich dann, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen. – stop
Aus der Wörtersammlung: nordpol
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nordpol : 6.15 — h ö r b a h n n e u r o n
doppellunge
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : DOPPELLUNGE
Heute, liebe Daisy, liebe Violet, als ich im Park spazierte, hab ich an Euch gedacht. Das war nämlich so gewesen, dass ich wieder einmal übte, im Wandern die Luft anzuhalten. Ich versuchte 100 Meter weit zu kommen, langsam, sehr langsam, dann etwas schneller gehend. Es ist möglich, heute endlich ist es möglich geworden. Plötzlich fragte ich mich, welche Wirkungen die Übung des Luftanhaltens bei Euch früher einmal gezeitigt haben könnte. Ich überlegte, ob ihr Euch über das Luftanhalten verständigt haben würdet. Es ist immerhin denkbar, dass das Anhalten der Luft in Euerem Falle, bei der einen wie der anderen eine gewisse Kurzatmigkeit hervorgerufen haben müsste. Vielleicht werdet Ihr Euch erinnern? Wenn ja, dann gebt mir recht bald Bescheid. Ich arbeite zurzeit sehr hart in diesen Dingen. Vor einigen Tagen habe ich mir eine Passage der Kleinen Erinnerungen José Saramago’s laut vorgelesen, und zwar in der Art und Weise langsamen Ausatmens. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Ich fasste das erste Wort der ersten Zeile des kleinen Textes ins Auge, schöpfte Luft so tief ich konnte und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manchmal frage ich mich, ob bestimmte Erinnerungen wirklich meine eigenen sind oder vielleicht eher fremde, in denen ich unbewusst mitgespielt habe. Ich las so lange ich konnte, ich las, ohne zu atmen, ich las, bis ich alle Luft verloren hatte. Im ersten Versuch kam ich 11 Zeilen weit. Das war natürlich nicht befriedigend. Also setzte ich noch einmal von vorn an, ich hatte eine entspannte Position des Sitzens eingenommen und füllte meine Brust mit Luft und begann zu sprechen. Dieses Mal las ich mit leiser Stimme, wie geflüstert. Ich kam exakt 1 Zeile, also 55 Zeichen weiter. Kurz darauf war zu beobachten gewesen, wie ich mich rücklings auf mein Sofa legte und denselben Text noch einmal hauchte. Das liegende atemlose Lesen ermöglichte nun eine weitere Zeile a 55 Zeichen. Ich machte also kleine Fortschritte in dieser Kunst des Lesens, ich vermochte bald die Zeile 14 des kleinen Textes zu erreichen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mitdenken konnte. Nach einer Stunde des Übens hörte ich für diese Nacht auf, um in der kommenden Nachtzeit fortzufahren. — Herzlichst grüßt Euch Euer Louis. Ahoi! – stop
gesendet am
10.07.2012
22.01 MESZ
2252 zeichen
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nordpol : 2.01 — p a u k e n s a i t e
eine geschichte die mein vater einmal las
nordpol : 6.46 — An einem Sonntag neulich habe ich in Texten gelesen, die ich während der vergangenen Jahre an genau dieser Stelle sendete. Manche dieser Texte waren mir vertraut, andere wirkten, als wären sie von einem Fremden geschrieben. Gemein war ihnen, dass mein Vater sie noch mit eigenen Augen gelesen haben könnte. Wie der alte Mann zu seinem Computer wandert. Wie er auf einer Treppe steht, Rede an sein linkes Bein: Beweg Dich! Einmal rief mein Vater mich an. Ein Text hatte ihm gefallen. Es ist eigenartig, der Text, der meinem Vater gefallen hatte, erzählt heute noch immer dieselbe Geschichte und doch ist alles ganz anders geworden. Ich hatte Folgendes notiert: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht sind oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, so dass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist sehr gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf. — stop
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tango : 0.10 — b r u s t m i l c h g a n g
ein beamter unterirdischer musikabspielgeräte
nordpol : 0.25 — Als der Beamte, der für das Friedhofswesen zuständig ist, winkend eine Wiese überquerte, stand ich mit einem Gärtner unter einer blattlosen Ulme. Der Mann rauchte einen Zigarillo. Später Nachmittag. Flügeltiere, goldfarbene Gespenster, flatterten in der Luft herum. Ich hatte gerade die Frage gestellt, ob der Baum, unter dem wir warteten, noch am Leben sei, als uns der Beamte erreichte. Er war etwas außer Atem und lachte, weil ich ein altes Eisenkreuz in meinen Händen drehte. Er sagte sofort, dass dieses Kreuz an Ort und Stelle denkbar sei. Das können sie hier aufstellen! Also waren wir sehr zufrieden alle, wir hatten in gemeinsamer Gegenwart kaum dreifach geatmet und schon konnten wir wieder auseinandergehen, wenn da nicht jener Baum gewesen wäre ohne Blätter, weswegen wir über das Wetter zu sprechen begannen, über Wintertage, die keine mehr sind. Und über Sommerzeiten, die den Herbstzeiten von Jahr zu Jahr ähnlicher zu werden scheinen. Ein Eichhörnchen tollte über ein Grab in unserer Nähe, grub sich in die Erde, Steine flogen durch die Luft. Vielleicht weil sich das kleine Tier sichtbar in die Tiefe voran arbeitete, hatte ich die Idee, meine Vorstellung unterirdischer Musik vorzutragen, die ich vor Monaten bereits einmal notierte. Und so erzählte ich, wie ich geschrieben hatte, dass nämlich auf meiner letzten Ruhestätte einmal ein Windrad stehen könnte. Das Rad würde, in dem es sich drehte, Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräftige Winde ausreichende Mengen von Strom gesammelt sein werden, würde sich ein Musikabspielgerät in Bewegung setzen, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine reizende Vorstellung, sagte ich, eine Überlegung, die mich seit dem vergangenen April täglich begleitet. Und wie nun der Friedhofsgärtner anfing zu lachen, ein Lachen, das wärmte, und wie aus dem Beamten der kleinen Stadt, ein Beamter für unterirdische Musik zu werden begann. — stop
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nordpol : 0.10 — m i k r o v i l l i f a d e n
notvögel
~ : malcolm
to : louis
subject : NOTVÖGEL
date : june 16 12 0.12 a.m.
Guten Morgen, Louis! Wie geht es Ihnen? Alles in Ordnung? Eine Woche ist vergangen, seit wir Frankie, das Eichhörnchen, operierten. Er scheint bei bester Gesundheit. Wir haben die Krallen seiner Pfoten gestutzt, damit er sich die Narbe auf seinem Bauch nicht bald öffnen wird. Wir beobachteten, dass sie ihn reizt, nicht so sehr das USB – Gerät, dessen Kontur sich unter der rosafarbenen Haut deutlich abzeichnet, vielmehr ist es die rasierte Stelle insgesamt, die Frankie immer wieder betrachtet. Wir haben den Eindruck, er wundert sich in höchsten Maße. Indessen scheinen ihn jene kreisförmigen Solarzellen, die wir auf seiner Stirn links und rechts montierten, nicht weiter zu interessieren, auch das GPS-Funkgerät, das wir hinter seinem linken Ohr im Leib versenkten, blieb bislang unbemerkt. Es ist nicht viel größer als 1 Centmünze. Heute ist also Frankie’s erster Tag in relativer Freiheit. Wir haben den kleinen Mann von seinen Käfigfesseln befreit, weswegen er seit Stunden aufgeregt in der Wohnung tollt. In zwei oder drei Tagen, wenn alles gut gehen wird, planen wir Frankie in der Dämmerung eines Abends im Central Park, Höhe 87. Straße West, in die Wildnis zu entlassen. Hinsichtlich der Entwicklung essbarer Notvögel ist Folgendes zu sagen. Zeisige, Finken, Amseln, Stare erscheinen uns nicht geeignet. Lerchen indessen sind insofern bereits gelungen, als sie ihrem Zuchtbehälter vollständig federlos entkommen. Wir haben ihr Wachstum beschleunigt, sie werden nach Bestellung binnen dreier Tage fertig und im Geschmack Süßmandeln ähnlicher geworden sein. Leider sind sie noch blind, taub und stumm. Natürlich sind wir weiterhin in jeder Hinsicht um Fortentwicklung bemüht. In diesem Sinne, äußerst zuversichtlich, grüßen wir Sie herzlich. – Ihr Malcolm / codewort : lilliput
empfangen am
16.06.2012
1861 zeichen
luftzungen
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : LUFTZUNGEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Was für ein stürmischer Morgen hier bei uns in Mitteleuropa. Wetter, wie ich es mir wünsche in diesen Tagen. Eiskörner pfeifen durch die Luft, Wolkendämmerung. Ich vermute, Ihr werdet bemerkt haben, mein Vater ist gestorben. Drei Stunden war ich noch an seinem Bett gewesen, habe von Bildern eines nahen Sees berichtet, den ich vom Zimmer des Hospitals aus sehen konnte. Ein Schaufelraddampfer fuhr hin und her, der Wind schrieb mit Luftzungen schimmernde Spuren ins Wasser, Möwen segelten über den Uferbäumen. Wie mein Vater gestorben ist, war es noch hell, die Sonne nicht untergegangen, weiß der Himmel, ob er sie zu erkennen vermochte, sein Blick war ein Blick, wie ich meinte, der schon nach innen sich richtete. Wenn ich Euch sage, es ist nicht wirklich begreifbar, nicht wirklich fühlbar, dass ein geliebter Mensch nie wieder neben uns am Tisch sitzen wird, werdet Ihr vielleicht verstehen, wovon ich spreche. Dieses Niewieder macht einen Eindruck von Unwirklichkeit, von Unwirksamkeit, als würde man versuchen, eine Trompete vom Schallbecher her zu bespielen. Und doch, nach und nach werde ich ruhiger, ich schlafe tief, träume seltsame Geschichten. Ja, so ist das, liebe Daisy, liebe Violet. Was machen die Simmons? Ist alles o. k.? Ahoi – Euer Louis — stop
gesendet am
22.04.2012
7.05 MEZ
1212 zeichen