echo : 2.15 — Seit Stunden die Fenster weit geöffnet, und obwohl ich einen Pullover tragen muss, um nicht zu frieren, halte ich die Nacht da draußen für eine Sommernacht. Es ist jetzt zwei Uhr und fünfzehn Minuten. Soeben habe ich Joseph Brodskys feinsinniges Venedig Buch Ufer der Verlorenen auf den Tisch gelegt, um eine Passage daraus abzuschreiben. Als ich die Tastatur in eine günstige Position rückte, sehe ich gerade noch, wie meine Springspinne zwischen zwei Tasten verschwindet, weshalb ich zunächst nicht wagte, auch nur ein Zeichen einzugeben, um sie nicht vielleicht zu verletzen oder gar zu töten. Habe das kleine weiße Klavier dann über dem Schreibtisch herumgedreht und etwas geschüttelt und wenn ich mich nicht täusche, ist mein Freund unter dieser unerwarteten Bewegung herausgefallen. Natürlich bin ich mir nicht ganz sicher, die Spinne ist sehr schnell, und deshalb schreibe ich diese und die folgenden Zeilen sehr behutsam, in einer Weise, sagen wir, die Joseph Brodskys genauer Beobachtung und seinem präzisen Ausdruck angemessen ist. Über den Geruch schreibt er das Folgende: Ein Geruch ist schließlich auch eine Verletzung des Sauerstoffgleichgewichts, ein Einbruch anderer Elemente – Methan? Kohlenstoff? Schwefel? Stickstoff? Je nach Intensität dieser Beimischung erhältst Du einen Duft, einen Geruch, einen Gestank. Es ist eine Frage von Molekülen, und Glück, so nehme ich an, ist der Augenblick, wenn Du die Elemente Deiner eigenen Zusammensetzung im freien Raum gewahrst. Davon gab es eine beträchtliche Anzahl da draußen, im Zustand totaler Freiheit, und ich spürte, dass ich in der kalten Luft in mein eigenes Selbstportrait hinaustrat.
Aus der Wörtersammlung: vene
leuchtstoffe
tango : 2.33 — Wieder wunderbare Wörter gelesen: Mandelbrotstruktur Lebensbaum Augapfel Pyramidenbahn Venenstern Liquor Medianusgabel Herzbeutel. – stop.
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop
sonarhupen
tango : 0.52 — Abends seewärts im Palmengarten. Notierte das Wort Venenstern in die Maschine. Ein Falter setzte sich auf den beleuchteten Bildschirm und tastete mit seinen Fühlern nach den Zeichen des Wortes, vielleicht deshalb, weil das leuchtende Weiß des Bildschirmhintergrundes Luft, die Zeichen dagegen ein Etwas bedeuteten, einen Schatten, mit dem kommuniziert werden konnte. — Habe beobachtet, dass ich, wenn ich mit meinen Ohren nach Geräuschen suche, die nicht hörbar sind, meine Augen öffne so weit ich kann. — Einmal, für eine Stunde nur, über das Vermögen verfügen, den Sonarhupen der Abendsegler lauschen zu können.
italo calvino
romeo : Vielleicht kann ich, wenn ich an das Meer in den Straßen Venedigs denke, von Wellenbewegungen sprechen, die einem sehr langsamen Rhythmus folgen, von Halbjahreswellen, von Wellen, die sich, sobald ich sie jenseits ihrer eigentlichen Zeit betrachte, wie Palomar’s Sekundenwellen benehmen. — Wann beginnt und wann genau endet eine Welle? Wie viele Wellen kann ein Mensch ertragen, wie viele Wellen von einer Wellenart, die Knochen und Häuser zertrümmert? – Dämmerung. Stille. Nur das Geräusch der tropfenden Bäume. Eine Nacht voll Gewitter, glimmende Vögel irren am Himmel, Nachtvögel ohne Füße, Vogelwesen, die niemals landen. — stop
flaubert
0.02 — Will rasch folgende faszinierende Anekdote zitieren, die in Wolfgang Koeppens wundervollem Buch Ich bin gern in Venedig warum zu finden ist. Die Geschichte geht so : Flaubert schrieb eine Seite am Tag. In einer Gesellschaft bat man ihn — Sie sind doch Schriftsteller — einem Abwesenden eine Grußkarte zu schreiben. Flaubert ging in ein anderes Zimmer und blieb verschwunden. Nach drei Stunden erinnerte sich die Gesellschaft an ihn. Er saß am Tisch, die Karte vor sich und sagte: — So geht es … vielleicht. – Auf der Karte stand : Freundliche Grüße.
fjorde
3.15 — Hölzerne Schrittgeräusche, als würde ich über eine Marimba gehen. Hoch über Wolkenfjorden, eine Ebene. Kräftige, von der Arbeit stetiger Winde gegen den Boden gezwungene, feuerrote Ahornbäume. Eine uralte steinerne Straßenbahn, die steinernen Rauch ausstößt, fährt auf steinernen Schienen unter steinernen Bäumen hin und her. Leuchtbirnen von glühender Lava. — Bin vor dem Schreibtisch eingeschlafen. Kurz nach 3 Uhr von Regengeräuschen geweckt. Stehe auf. Laufe ein wenig von Zimmer zu Zimmer. Höre etwas Monk. Schneide Ingwer für den Tee. Sortiere Tonbänder. Notiere Wortbojen. — Sinusknoten. — Venenstern. — Pyramidenbahn. — Wie verdammt gut die Luft heut riecht. – Zehn Uhr fünfzehn in Naypyidaw, Burma. — stop