MELDUNG. Mumbai, Road Number One, 16. Etage, steinernes Zimmer : Kirsche No 277 [ Marmor, Carrara : 1.12 Gramm ] vollendet. — stop
Aus der Wörtersammlung: zimmer
posaune
india : 0.28 — Ich habe vor wenigen Minuten mittels eines Filmdokuments den Posaunisten Fred Wesley solange beobachtet, bis ich der festen Überzeugung sein konnte, die Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert, um auf ihm Musik zu machen. Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, vor einem Mikrofon verharrt. Seit Monaten habe ich den Verdacht, dass der alte Posaunist außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten vermag. Ich werde deshalb sofort, in dieser Nacht noch, eine E‑Mail verfassen und mich erkundigen, ob ich mit meiner Vermutung recht haben könnte. Sehr geehrter Mr. Wesley, so vielleicht sollte ich beginnen, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich in meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop
radio
charlie : 0.15 — Er habe, erzählte mein Vater, kurz nach dem Krieg ein Radio gebaut, einen Kurzwellenempfänger, um die Sender der amerikanischen Befreiungsarmee empfangen zu können. Er hoffte, Benny Goodman hören zu können, Gene Krupa, Glenn Miller, Duke Ellington, alle jene großartigen Musiker. An diese Geschichte erinnerte ich mich, während ich gestern durch den warmen Tag spazierte, Spinnen seilten von den Bäumen, Spechte mit roten Köpfen segelten über die Wege am Fluss, Dioden, Widerstände, der Geruch von Zinn, das Glimmen einer Lötkolbenspitze. Plötzlich die Vorstellung, mein Vater könnte in den Stunden meines Spazierganges irgendwo da oben jenseits der Baumkronen in einem hellen Zimmer sitzen, auf einem weißen Stuhl an einem weißen Tisch. Wie er sich nach vorn beugt, wie er ein Radio konstruiert, einen sensiblen Detektor, um unsere diesseitigen Stimmen wahrnehmen zu können. Dampf stieg auf, ein heller, dünner Faden. Kaum hundert Meter war ich weitergekommen, da war aus der Vorstellung eines Radios die Hoffnung eines Funkgerätes geworden. — stop
manhattan
luftzungen
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : LUFTZUNGEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Was für ein stürmischer Morgen hier bei uns in Mitteleuropa. Wetter, wie ich es mir wünsche in diesen Tagen. Eiskörner pfeifen durch die Luft, Wolkendämmerung. Ich vermute, Ihr werdet bemerkt haben, mein Vater ist gestorben. Drei Stunden war ich noch an seinem Bett gewesen, habe von Bildern eines nahen Sees berichtet, den ich vom Zimmer des Hospitals aus sehen konnte. Ein Schaufelraddampfer fuhr hin und her, der Wind schrieb mit Luftzungen schimmernde Spuren ins Wasser, Möwen segelten über den Uferbäumen. Wie mein Vater gestorben ist, war es noch hell, die Sonne nicht untergegangen, weiß der Himmel, ob er sie zu erkennen vermochte, sein Blick war ein Blick, wie ich meinte, der schon nach innen sich richtete. Wenn ich Euch sage, es ist nicht wirklich begreifbar, nicht wirklich fühlbar, dass ein geliebter Mensch nie wieder neben uns am Tisch sitzen wird, werdet Ihr vielleicht verstehen, wovon ich spreche. Dieses Niewieder macht einen Eindruck von Unwirklichkeit, von Unwirksamkeit, als würde man versuchen, eine Trompete vom Schallbecher her zu bespielen. Und doch, nach und nach werde ich ruhiger, ich schlafe tief, träume seltsame Geschichten. Ja, so ist das, liebe Daisy, liebe Violet. Was machen die Simmons? Ist alles o. k.? Ahoi – Euer Louis — stop
gesendet am
22.04.2012
7.05 MEZ
1212 zeichen
nachtbienen
himalaya : 0.01 — Morgens höre ich wie das Radio angeschaltet wird unten im Wohnzimmer, unten in der Küche. Eine Stimme erzählt von Pablo Neruda. Die Stimme wird immer wieder von Musik unterbrochen, von feiner indianischer Musik. Das sind Geräusche wie früher, Geräusche in der Stille der vergangenen Tage, wohltuend, eine Verbindung zur Welt, die sich fortsetzt, unwirklich noch. Im Garten blühen Tulpen, rot, gelb, blau, orange. Man müsste einmal Blumen erfinden, die nachts ihre Blüten öffnen und leuchten, Nachtbienen, Nachtlibellen, Nachtwespen, Nachthummeln. — stop
uhrwesen
foxtrott : 0.05 — In der linken Hand halte ich Ilja Trojanow’s Roman Eistau fest, an der rechten Hand sitzt die Kühle der Uhr meines Vaters. Ich habe sie zur Probe angelegt. Vor zwei Wochen war sie noch an seiner Hand gewesen. Es ist erstaunlich, die Uhr geht noch immer auf die Sekunde genau, wie seit vielen Jahren schon. Immer dann, wenn ich sie betrachte, meine ich, die Zeit als ein eigensinniges Wesen zu sehen, die Zeit meines Vaters, die sich ohne ihn fortsetzt. Ich gehe mit den Augen durch das Zimmer spazieren. An den Wänden Bilder, die Lebende und Tote zeigen. Und dieser Regen. Sandwarm und müde. — stop
die stimme meines Vaters
ulysses : 22.18 — Im Sommer des Jahres 2007, während ich gerade an meiner Birdymaschine arbeitete, telefonierte ich mit meinem Vater. Es war eine warme Zeit gewesen, die Fenster im weit entfernten Arbeitszimmer standen offen. Ich hörte über eine Telefonleitung, die vermutlich durch den Weltraum führte, Vögel im Garten pfeifen. Und da war noch etwas anderes, da waren Funkgeräusche und der Gesang der Wale und ein Raspeln, das Stimmgeräusch Birdys. Ich erinnere mich, mein Vater beobachtete in jenem Sommer Birdy täglich stundenlang vor seinem Computer sitzend. Sobald er einen Fehler bemerkte, meldete er den Fehler unverzüglich an mich weiter. Er nahm in dieser zeitlichen Nähe Instrumente der kleinen Erzählmaschine wahr, die ich gerade erst in Betrieb genommen hatte. Von jeder Entdeckung berichtete er in einer Weise, als ob er der erste Mensch gewesen sei, der sie zu Gesicht bekommen hatte, aufgeregt, kommentierend, fragend. Ein sanfter Gedanke an einem Tag, da ich seit wenigen Stunden weiß, dass ich die Stimme meines Vaters nie wieder hören werde. — stop
ein zimmer
zoulou : 1.02 – Ich fahre eine Stundenzeit mit dem Aufzug aufwärts. Wo ich herauskomme, wachsen Aprikosenbäume aus den Wänden. Ein Flur, helles Licht, der Boden von Kirsche, Walnuss, Esche. Und Türen. Türen in Blau, Grün, Gelb und Rot. Durch eine der Türen hindurch: Was für ein hübscher Raum! Fenster mit Wolken. In der Mitte des Raumes kauert ein junger Mann auf dem Boden. Er scheint mich nicht zu sehen und nicht zu hören. Es ist so als wär ich abwesend. Ein kleines Netbook, ein Tier, das knistert, sitzt wie der Mann auf dem Boden. Lichtschlitten fahren pausenlos in seinem Gehäuse auf und ab. Da war ein Glas Milch und da war eine Schale von Hummerschwänzen. Weiter nichts. Aber Schatten doch auf dem Boden und an den Wänden, Schatten von Tischen, Stühlen, Bilderrahmen. Plötzlich gehe ich über eine Straße. Es ist die 8th Avenue. Ich weiß das. Ich weiß das noch immer. Es war Sonntag. Grad bin ich wach geworden. — stop