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lissabon

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nord­pol : 22.01 — Unter Zei­tun­gen, die sich in mei­nem Brief­kas­ten befan­den, ent­deck­te ich eine selt­sa­me Post­kar­te. Auf der einen Sei­te des Papiers war die Stadt Lis­sa­bon zu erken­nen, eine gel­be Tram­bahn zwi­schen Häu­sern einer steil anstei­gen­den Stra­ße. Es muss spä­ter Abend gewe­sen sein, als die Auf­nah­me gefer­tigt wur­de. Men­schen sit­zen in beleuch­te­ten Abtei­len, eini­ge schla­fen, ande­re schau­en aus den Fens­tern der Wag­gons her­aus. Wie ich sie betrach­te­te, die Über­le­gung, man­che der foto­gra­fier­ten Men­schen könn­ten viel­leicht nicht mehr unter uns Leben­den sein, weil ihr Licht bereits Anfang der Fünf­zi­ger­jah­re ein­ge­fan­gen wur­de. Das jeden­falls ist so auf der Rück­sei­te der Ansichts­kar­te ver­merkt, Lis­boa 1952. Ihr Post­wert­zei­chen, das tat­säch­lich in Lis­sa­bon abge­stem­pelt wor­den war, ist eines, wie man sie zu jener Zeit ver­wen­de­te, sodass ich ver­mu­te­te, die Post­kar­te habe eine sehr lan­ge Rei­se­zeit hin­ter sich gebracht. Sie ist in mei­nen Augen über­haupt eine erstaun­li­che Erschei­nung. In die­sem Moment ruht sie im Nacht­licht auf mei­nem Schreib­tisch. Wör­ter, die ich nicht ken­ne. Nicht ein­mal die Buch­sta­ben, die Wör­ter bil­den, ver­mag ich zu ent­zif­fern, äußert fei­ne Zei­chen, eine Art gehei­mer Schrift, Male­rei, die vie­le Stun­den Arbeit gefor­dert haben dürf­te. Merk­wür­dig vor allem, auf der Post­kar­te ist kei­ne Anschrift zu fin­den. Sosehr ich nach mei­nem oder einem ande­ren Namen such­te, nichts ist zu ent­de­cken, was eine Begrün­dung dafür dar­stel­len könn­te, dass gera­de ich die­se Kar­te erhal­ten soll­te. Ich habe kei­ne Vor­stel­lung, wer sie geschrie­ben haben könn­te, auch nicht, ob eine Anschrift ver­se­hent­lich oder mit Absicht ver­ges­sen wur­de. — Däm­me­rung. Fle­der­mäu­se zwit­schern durch die Luft. Vor weni­gen Tagen ist Urs Wid­mer gestor­ben, vor genau zwei Jah­ren mein Vater um 17.32 Uhr. — stop
ping

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sahara

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sier­ra : 3.28 — Jane Goo­dall erzählt eine fas­zi­nie­ren­de Geschich­te von Wahr­neh­mung und Wirk­lich­keit in den ers­ten Minu­ten eines Doku­men­tar­films, der ihr Leben schil­dert. Sie sagt Fol­gen­des: Ich hat­te es ziem­lich satt, dass mich die Leu­te für Dia­ne Fos­sey hiel­ten und sag­ten: Ihr Film Goril­las im Nebel war wun­der­voll. Ich sag­te dann immer: Sie haben den Film gese­hen? — Ja! — Dann wis­sen die doch, dass die Dame getö­tet wur­de, oder? — Ja!  ‑Aber ich bin doch da! — stop. Frü­he Nacht. In die­sem Jahr zum ers­ten Mal die Fens­ter nach Mit­ter­nacht geöff­net. Esme­ral­da sitzt auf dem Brett neben Kak­teen, sie scheint Ster­ne zu betrach­ten. Gedämpf­tes Licht vom nord­ost­wärts rei­sen­den Staub der Saha­ra. Ges­tern noch träum­te ich von einem Tele­fon­ge­spräch mit Jules Ver­ne, der mit hel­ler Stim­me Züge eines Schach­spiels mel­de­te. Merk­wür­dig ins­be­son­de­re das Vor­kom­men einer Ken­tau­ren­fi­gur im Spiel, wel­che sich durch Bewe­gung auf unsicht­ba­re Spiel­fel­der in der Luft vor jedem Zugriff in Sicher­heit brin­gen konn­te. — stop

polaroidgondeln

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o l i m a m b o

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del­ta : 22.01 — Neh­men wir ein­mal an, eine noch nie zuvor gehör­te Spra­che wäre über Nacht, wäh­rend ich schlief, wie Regen vom Him­mel gefal­len und hät­te sich in mei­nem Gehirn ver­sam­melt, in dem sie alle dort ges­tern noch vor­han­de­nen Wör­ter und Wen­dun­gen ersetz­te. Und wie ich nun erwa­che, sehe ich einen Lam­pi­on, eine Lam­pe, aber ich den­ke ein Wort, das ich nicht ken­ne. Und so wun­de­re ich mich, und auch das Wun­dern selbst wird mit selt­sa­men Geräu­schen bezeich­net. Da ist ein Kühl­schrank, und da sind eine Com­pu­ter­ma­schi­ne und ein Tele­fon, je Erschei­nun­gen ohne ver­trau­tes Wort. Ich kann sie sehen, ich kann sie berüh­ren, aber nicht ein­deu­tig bezeich­nen, wie mei­ne Augen nicht und mei­ne Nase und mei­nen Mund. In die­ser ers­ten Stun­de des Tages mit neu­er Spra­che ver­mag ich nur zu deu­ten, nicht zu erzäh­len. Ja, neh­men wir das ein­mal an, merk­wür­di­ge Sache. mika­di­ka­ma­du. — stop
ping

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bonsaimenschen

picping

MELDUNG. Bon­sai­men­schen, 12 Per­so­nen jün­ge­ren Alters a 54 cm, nahe Tin­douf [ Alge­ria ] zur Hit­ze­pro­be ein­ge­trof­fen. Wüs­ten­wan­de­rung [ 125 Mei­len ] : Mitt­woch, 5. April 2011, ab 14 Uhr mit­tel­eu­ro­päi­scher Som­mer­zeit. Call : 00386 / 5476823 — stop

ping

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lichtbild : eine straße in manhattan

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ulys­ses : 8.05 — Ein­mal ent­deckte ich nach stun­den­lan­ger Suche in den Archi­ven der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek eine Foto­gra­fie auf einem Mikro­film­strei­fen und ich wuss­te sofort, dass ich die­ses Licht­bild besit­zen muss­te. Ich bat eine Biblio­the­ka­rin, aus dem Mate­rial das Bes­te her­aus­zu­ho­len, höchs­te Auf­lö­sung, wes­we­gen ich bald einen klei­nen Sta­pel Papiers ent­ge­gen­neh­men konn­te, den ich im Arbeits­zim­mer an einer Wand zum Bild zurück sor­tier­te, wie in der ver­gan­ge­nen Nacht noch ein­mal, zurück zur Ansicht einer Stra­ße des Jah­res 1934 prä­zise, einer Stra­ße nahe des Bel­le­vue Hos­pi­tals zu New York. Stau­bige Bäu­me, eilen­de Men­schen­schat­ten, die Sil­hou­ette einer alten, in den Kno­chen gebeug­ten Frau, der Wagen eines Eis­ver­käu­fers, ros­tige Hydran­ten, die sprö­de Stein­haut der Stra­ße, zwei Vögel unbe­kann­ter Gat­tung, Spu­ren von Hit­ze, und ich erin­nere mich noch gut, dass ich eine Zei­le von links nach rechts auf das Papier notier­te: Die­se Stra­ße könn­te Mal­colm Lowry über­quert haben, an einem Tag viel­leicht, als er sich auf den Weg mach­te, sei­nem Kör­per den Alko­hol zu ent­zie­hen. Und weil ich schon ein­mal damit begon­nen hat­te, das Bild zu ver­fei­nern, zeich­nete ich in Wor­ten wei­tere Sub­stan­zen auf das Papier, Unsicht­ba­res oder Mög­li­ches. Einen Schuh notier­te ich west­wärts: Hier flüch­tet Jan Gabri­el, weil sie Mr. Low­ry’s Lie­be nicht län­ger glau­ben konn­te. Da lag ein Notiz­buch im Schat­ten eines Bau­mes und ich sag­te: Die­ses Notiz­buch wird Mal­colm Lowry fin­den von Zeit zu Zeit, er wird es auf­he­ben und mit zit­tern­den Hän­den in sei­ne Hosen­ta­sche ste­cken. Schon segel­ten fie­bernde Wale über den East River, der zwi­schen zwei Häu­sern schim­merte, ein Schwarm irrer Bie­nen tropf­te von einer Fens­ter­bank, und da waren noch zwei Mäd­chen, bar­fuß, — oder tru­gen sie doch Strümp­fe, doch Schu­he? — sie spiel­ten Him­mel und Höl­le, ihre fröh­li­chen Stim­men. Ich geste­he, dass Dai­sy und Vio­let nicht damals, son­dern in die­ser letz­ten Stun­de einer hei­te­ren Arbeits­nacht ins Bild gekom­men sind. — stop

ping

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emilia nabokov no2

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hima­la­ya : 5.15 — Vor län­ge­rer Zeit hat­te ich von einem Freund erzählt, der den foto­gra­fi­schen Schat­ten einer Künst­le­rin via Inter­net ver­folg­te. Er arbei­tet selbst seit vie­len Jah­ren in digi­ta­len Räu­men, bei­na­he könn­te ich sagen, dass er seit vie­len Jah­ren in digi­ta­len Räu­men zu exis­tie­ren scheint. Zahl­rei­che sei­ner Arbei­ten ver­bin­den sich mit Arbei­ten ande­rer Men­schen, weil man auf ihn ver­weist, weil man auf ihn war­tet, auf Tex­te, auch auf Bil­der, Fil­me, Geräu­sche, die er auf­nimmt, sobald er etwas Inter­es­san­tes zu hören meint. Mit jeder Minu­te der ver­ge­hen­den Zeit wächst sein elek­tri­scher Schat­ten. Er macht das ähn­lich wie eine New Yor­ker Foto­gra­fin, die stun­den­lang durch die Stadt spa­ziert und mit einem iPho­ne all das foto­gra­fiert, was ihr ins Auge fällt. Manch­mal sind es hun­der­te Foto­gra­fien an einem ein­zi­gen Tag, die nur Sekun­den nach Auf­nah­me von ihrem Foto­ap­pa­rat, mit dem sie gleich­wohl tele­fo­nie­ren kann, an das Flickr – Medi­um gesen­det wer­den. Mein Freund erzähl­te, dass er den Ein­druck habe, die jun­ge foto­gra­fie­ren­de Frau in Echt­zeit zu beob­ach­ten, ihr im Grun­de so nah gekom­men zu sein, dass er kurz vor Weih­nach­ten fürch­te­te, etwas Ernst­haf­tes könn­te ihr wider­fah­ren sein, weil drei Tage in Fol­ge kei­ne Foto­gra­fie gesen­det wur­de. Am vier­ten Tag erkun­dig­te er sich mit­tels einer E‑Mail, die er an Flickr sen­de­te, ob es der schweig­sa­men Foto­gra­fin gut gehe, er mache sich Gedan­ken oder Sor­gen. Man muss das wis­sen, mein Freund hat­te der Foto­gra­fin nie zuvor geschrie­ben, kann­te nicht ein­mal ihren wirk­li­chen Namen, son­dern nur ein Pseud­onym: Emi­lia Nabo­kov No2. Eine hal­be Stun­de, nach­dem die E‑Mail gesen­det wor­den war, erschien, als habe ihm die spa­zie­ren­de Künst­le­rin zur Beru­hi­gung geant­wor­tet, eine Foto­gra­fie ohne Titel. Die­se Foto­gra­fie erzähl­te davon, dass sich Emi­lia Nabo­kov No2 ver­mut­lich nicht in New York auf­hielt, son­dern in Montauk, weil auf der Foto­gra­fie ein Leucht­turm auf einem ver­schnei­ten Hügel zu sehen war, der ein­deu­tig zur klei­nen Stadt Montauk an der nord­öst­li­chen Spit­ze Long Islands gehör­te. Im Hin­ter­grund das Meer, und vorn, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gum­mi­stie­fel von knall­ro­ter Far­be. stop. Es ist jetzt April 2014 gewor­den. Nach Erschei­nen der Foto­gra­fie, die den roten Gum­mi­stie­fel zeigt, wur­den von der Künst­le­rin Emi­lia Nabo­kov No 2 wei­te­re 2756 Foto­gra­fien gesen­det, im Okto­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res dann die letz­te Auf­nah­me, seit­her Stil­le. — stop

polaroidflug

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manhattanstunde

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ulys­ses : 1.58 — Ich stel­le mir eine hand­li­che Box vor, nicht grö­ßer als eine Streich­holz­schach­tel. Wenn ich die­se Box öff­ne­te, wür­de 1 Stun­de der Stadt New York in ihr fest­ge­hal­ten sein, jeder Mensch und jeder sei­ner Atem­zü­ge, Gedan­ken, Gesprä­che und Wün­sche. Auch alle gro­ßen und klei­nen Häu­ser, Stra­ßen, Züge wären ver­sam­melt, das Licht und sei­ne Schat­ten, Vögel und Wol­ken, das Was­ser der Flüs­se, das Meer, das Lachen der Kin­der, und jede der Beckett­ge­stal­ten, die mir begeg­nen, wohin ich auch geh. Könn­te zufrie­den bald in einem Park sit­zen und war­ten, 1 Stun­den­zeit in der Hosen­ta­sche. Auf dem Tisch eine Trau­be, mein Blick ruht sich aus. Dann wie­der gehen, Stun­de um Stun­de gehen und schla­fen, schau­en und zugleich nicht schau­en, kur­ze Bli­cke, Sekun­den­bil­der, Augen geschlos­sen, Bli­cke durchs trans­pa­ren­te Lid abends auf der gro­ßen alten Brü­cke mit der blät­tern­den ros­ti­gen Haut, das Vibrie­ren der Schrit­te, der Stim­men auf höl­zer­nen Ste­gen von Insel zu Insel. — stop
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