echo : 0.12 — New York ist ein ausgezeichneter Ort, um unterzutauchen, zu verschwinden, sagen wir, ohne aufzuhören. Ich stellte mir vor, wie ich in dieser Stadt Jahre spazieren würde und schauen, mit der Subway fahren, auf Schiffen, im Central Park liegen, in Cafés sitzen, durch Brooklyn wandern, ins Theater gehn, ins Kino, Jazz hören, sein, anwesend sein, gegenwärtig, ohne aufzufallen. Ich könnte existieren, ohne je ein Wort zu sprechen, oder vielleicht nur den ein oder anderen höflichen Satz. Ich könnte Nacht,- oder Tagmensch sein, nie würde mich ein weiterer Mensch für eine längere Zeit als für eine Sekunde bemerken. Sehen und vergessen. Wenn ich also einmal verschwinden wollte, dann würde ich in New York verschwinden, vorsichtig über Treppen steigen, jeden Rumor meiden, den sensiblen New Yorker Blick erlernen, eine kleine Wohnung suchen in einer Gegend, die nicht allzu anstrengend ist. In Greenwich Village vielleicht in einer höheren Etage sollte sie liegen, damit es schön hell werden kann über Schreibtisch und Schreibmaschine. Ich könnte dann von Zeit zu Zeit ein Tonbandgerät in meine Hosentasche stecken und einen oder zwei meiner Tage verzeichnen, nur so zur Vorsicht, um nachzuhören, ob ich nicht vielleicht schon zu einer selbstsprechenden Maschine geworden bin. — stop
brighton beach : mr. singer
delta : 0.03 — Nach Coney Island eine halbe Stunde mit der Subway vom Washington Square aus in südwestliche Richtung. Der Himmel hell über dem Meer, heftige Sandwellenwinde. Es lässt sich gut gehen auf diesem Boden, der fest ist. Zerbrochene Muscheln, Scherben von buntem Glas, Sommerbestecke, Schuhe, Wodkaflaschen, Lippenstifte, Holz, Knochen. Da und dort haben sich scharfe Kanten gebildet unter der strengen Hand der Winterstürme, dunkle, feste Strukturen, in welchen sich Spuren menschlicher Füße finden als wären sie versteinert, als wären sie tausende Jahre her. Bald Brighton Beach. An den Wänden der Häuser entlang der Seepromenade sitzen alte russische Frauen wohl verpackt, aufgehoben in diesem Bild frostiger Temperatur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Singer, der hier spazierte lang vor meiner Zeit. — stop
south ferry : elektrischer vogel
delta : 0.08 — Im Regen gestern am frühen Morgen meinte ich, einen elektrischen Vogel wahrgenommen zu haben zunächst in der digitalen Fassadenhaut der Port Authority Busstation, später am Times Square, Ecke 46. Straße, ein Phänomen, das sich in die Anzeigen der Stadt eingefädelt haben könnte, einen Code, eine Irritation, ein Lebewesen, ein mit mir durch den Tag wanderndes Sekundengeschöpf. Auch im Wartesaal der Staten Island Fähre war der Vogel gegenwärtig gewesen, dort als ein Schatten, der von Ost nach West über eine Wetteranzeigetafel raste. Gleich darunter warteten Menschen, die ihre nassen Schirme zausten. Leichter Seegang. — stop
chinatown : kandierte enten
nordpol : 2.06 — Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan. Wunderbares Licht, klar und sanft. Da ist ein Wind, der aus dem Landesinneren kommt, ein beständiger, kalter Strom, gegen den sich Möwen in einer Weise stemmen, dass sie in der Luft zu stehen scheinen. Helle Augen, grau, blau, gelb, das Gefieder dicht und fein wie Pelz. Ich folge kurz darauf einem alten chinesischen Mann durch Chinatown. Tack, tack, tack, das Geräusch seines Stocks auf dem Boden, ein Faden von Zeit über enge Straßen. Links und rechts des Weges, schmale Läden in roten, in goldenen Farben, Waren, die Harmonie bedeuten, Bänder, Fächer, lächelnde Masken. Ich rieche heute nichts, oder die Gerüche, wenn sie noch existieren, bewegen sich dicht über den Boden hin, Morchelberge, getrocknete Schwämme, Muscheln, Nüsse, Algenwedel, Krabben, zwei Hummertiere, sie leben noch, sind für 20 Dollar zu haben. Im Restaurant nahe der Mottstreet, eine milde Entensuppe gegen den Abend zu. Messer der Köche, die vor meinen speisenden Augen lautlos durch halbe Schweine flitzen. Gebratene Entenkörper, glänzend, als wären sie von der Art kandierter Früchte, baumeln in den Fenstern. Dann Dämmerung und Wärme im Bauch und das Schwingen der Brücke noch in den Beinen. – stop
roosevelt island : lawrence
ulysses : 1.58 — Wolkenloser Himmel. ‑8° Celsius. Ich trage heute zum ersten Mal Lawrence spazieren unter Mantel, Pullover, Hemd unmittelbar auf meiner Haut, ein Schlangenwesen mit einem kleinem Kopf, der in der Nähe meines Halses zu liegen gekommen ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal hervor, man muss sich das einmal vorstellen, Lawrence’s sandfarbenen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrockneten Speckstreifen füttere, während ich durch die knisternde Winterluft stelze. Ich kann Lawrence hören, er ist ein leiser, ein gemächlicher Fresser. Und die Wärme fühlen, wundervoll, die sein feinhäutiger Körper erzeugt, der mich fest umwickelt, meine Brust, meinen Bauch, meine Arme, meine Beine. Speck für sechs Stunden Wanderzeit hab ich in meine Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vormittags, um kurz vor vier Uhr nachmittags sollt ich zurück gekommen sein, dann sehen wir weiter. Sonntag ist geworden. Und so gehen wir an diesem Sonntag also spazieren, Lawrence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Avenue nordwärts und ein wenig durch den Central Park. Tausende heller Wölkchen steigen dort aus den Mündern tausender New Yorker Menschen. Höhe 67. Straße drehen wir wieder um, laufen zurück, folgen der 59. Straße westwärts bis wir den East River erreichen, Roosevelt Island Tramstation. In der Seilbahn übergesetzt, einmal hin, und sofort wieder zurück, pingpong. In einem Baum, 61. Straße, lungerten hunderte schlafender Tauben als wären sie Blüten. — stop
manhattan : atome
tango : 1.56 — Ich hatte in einem Café nahe Times Square ein elektronisches Tonbandgerät aus der Manteltasche gezogen und richtete es auf ein Fenster, um den Tumult menschlicher Stimmen, Sirenen, Luftpumpen und weiterer unbestimmbarer Geräusche aufzunehmen. Ein junger Mann, der neben mir vor seinem Notebook saß, beobachtete mich eine Weile aufmerksam. Plötzlich lacht er: Das ist New York. Verrückt, nicht wahr? Ob ich in dieser Stadt öffentlich zugängliche Orte von Stille finden könnte, wollte ich wissen. Gibt es nicht, antwortete der Mann. Es würden jedoch Orte existieren, die beinahe still sind. Dort aber hörst Du Geister! — Sonntag. Minus 5° Celsius. Lässt sich vielleicht errechnen, aus wie vielen Atomen die Stadt New York sich fügt? Wie viele Atome werden die Stadt täglich verlassen, wie viele Atome einreisen in unsere Rechnung? Subway 28. Straße wartete ein Mann kurz nach Mitternacht mit Angelrute in hüfthohen Fischerstiefeln auf dem Bahnsteig. — stop
brooklyn : ausgebeulte Stimmen
foxtrott : 2.32 — Wenn ich aus dem Fenster sehe wenn tiefe Nacht ist, dann scheinen die Menschen alle gleichwohl noch immer zu arbeiten oder sie verfügen über keinerlei Lichterschalter in New York. Ja, die Menschen arbeiten und arbeiten und arbeiten und dann sitzen sie eine halbe oder eine ganze Stunde Fahrt in der Subway und schlafen. Das Seltsame ist, dass sie zur rechten Zeit aufwachen, jawohl, sie scheinen mit ihrem Gehör an einer Geräuschspur zu hängen, wie Straßenbahnen in Europa an einer Oberleitung. Einerseits schlafen sie, andererseits warten sie darauf von einem vertrauten Signal geweckt zu werden. Vielleicht ist da ein besonderes Kreischen oder Rütteln, das nur an einer bestimmten Stelle ihrer Strecke heimwärts zu vernehmen ist, die ausgebeulte Stimme einer Maschineninformation. Kurz darauf stehen sie auf, so als wär kein Schlaf gewesen und spazieren aus dem Zug, erstaunlich! — Samstag. Später Abend. Es heult wieder herum da unten auf Höhe der Straße, ein Unglück irgendwo vielleicht. Wenn man den Feuerwehrautos so zuhört den Tag entlang, dann möchte man bald meinen, die Stadt insgesamt würde in Flammen stehn. – stop
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echo : 0.02 — p a u k e n h ö h l e
queens : ein mädchen
lima : 22.06 — Es ist später Nachmittag. Queens. Eigentlich wollt ich durch die Gegend streifen in der Louis Armstrong gelebt hatte, sein Haus besuchen, das zu einem Museum geworden ist. Als ich eintreffe, Station North Corona, bereits Dämmerung. Die Straßen schwach beleuchtet. In der Nähe eines Fensters, das von der Subway in einem Abstand von 1 Meter passiert wird, sitzt ein dunkelhäutiges Mädchen vor einem Fernsehgerät. Ich würd das Mädchen gern fragen, ob es mich sehen kann, ob es die Züge noch hört, die in fünf Minuten Frequenz an ihrem Wohnzimmer vorüberkommen. Das sind scheppernde Züge, kreischende, quietschende, blecherne Röhren. stop. Schlangen. stop. Ungetüme. stop. Wie viele Jahre, wie viele Züge, die das Mädchen vielleicht nicht hörte? — stop
central park : hurly-burly
lima : 12.05 — Im Lärm ( noise . hubbub . hurly-burly ) der Stadt im Central Park südlich der Strawberry Fields ( 72nd Street ) das Singen oder Klagen der Kinderschaukeln, leise und doch weithin hörbar. Die Idee, eines der muskulösen Eichhörnchen des Gartens würde mir folgen, würde mich erkennen, würde sich erinnern, Squirrel No 5256, Frankie, Billy. — stop