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102 minuten

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nord­pol

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : 102 MINUTEN

Vor­mit­tag. Der Him­mel son­nig, die Spit­zen der Ber­ge  weiß seit Tagen. Weni­ge Wochen vor mei­ner Rei­se nach New York, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, will ich Euch berich­ten von einer klei­nen Pro­be, die ich unter­nom­men habe, um vor­zu­prü­fen, ob ich in der Lage sein wer­de in der gro­ßen Stadt mit mei­nen Unter­su­chun­gen der Wirk­lich­keit rasch vor­an­zu­kom­men. Ich habe näm­lich gera­de einen Kof­fer mit allen mög­li­chen Gegen­stän­den gefüllt, die ich vor­ha­be mit­zu­neh­men, ein Jackett, Pull­over, Wild­le­der­fäust­lin­ge, einen Schal, Wan­der­schu­he, zwei Nor­we­ger­müt­zen, sowie einen Schnee­schirm, der in der Lage sein soll­te über mei­nem Kopf durch die Luft zu schwe­ben. Des wei­te­ren eine Schreib­ma­schi­ne, eine elek­tri­sche Maus, zwei Foto­ap­pa­ra­te, ein Ton­band­ge­rät, das gera­de so groß ist, dass ich es mit einer Hand umfas­sen kann. Außer­dem einen Rei­se­be­häl­ter, wie unlängst berich­tet, für Trom­pe­ten­kä­fer pola­ren Ursprungs, Spa­zier­plä­ne, Sub­way­kar­ten, Bücher für Ruhe­zei­ten abends und nachts. Da wären Robert Fal­con Scotts Auf­zeich­nun­gen einer letz­ten Rei­se, Wil­hem Gen­a­zi­nos Roman Wenn wir Tie­re wären, das Buch der 102 Minu­ten, das mich seit Tagen fes­selt, weil es auch von Hol­ly erzählt. Kurz­um, die­se Gegen­stän­de nun waren in einem gro­ßen und einem wei­te­ren, klei­ne­ren Kof­fer auf­ge­ho­ben. Ich habe bei­de Rei­se­ob­jek­te neben mich gestellt und ange­ho­ben für zwei Minu­ten. Ich sage Euch, es geht. Was machen die Sim­mons? Ist alles ok? Ahoi – Euer Louis

gesen­det am
10.12.2011
18.30 MEZ
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lou­is to dai­sy and violet »

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tastende fingerohren

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alpha : 15.01 — Seit Wochen mobi­li­siert eine jun­ge Frau mei­nen rech­ten Arm in Por­tio­nen der Zeit, die wohl­tu­end sind. Eine eigen­ar­ti­ge Erfah­rung. Als wür­de sich die jun­ge Frau mit mei­nem Arm unter­hal­ten in einer Spra­che kom­pli­zier­ter Bewe­gung. Deh­nen. Stre­cken. Dre­hen. Zie­hen. Drü­cken. Krei­sen. Strei­chen. Dann Pha­sen der Ruhe. Bald scheint sie in mei­nen Arm hin­ein­zu­hö­ren, als ob ihre Fin­ger über sen­si­ble Ohren ver­füg­ten, tas­ten­de Ohren, die nach Bewe­gun­gen mei­ner Seh­nen, mei­ner Mus­keln fra­gen. Ein fei­nes Gehör. Eine Spra­che nach­hal­ti­ger Argu­men­te, die mei­ne Mus­keln aus ihrer Schutz­span­nung lösen. Das Gespräch der Hän­de, Beschwö­rung, nach­drück­lich, auch Ermun­te­rung, Ermu­ti­gung: Erin­nert Euch! – Schnee über Nacht. Sturm­wind auf den Ber­gen. Doh­len sind ins Tal gekom­men. — stop.

ping

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geborstene wangen

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marim­ba : 9.28 — Sie­ben­hun­dert Men­schen sol­len vor weni­gen Wochen wäh­rend einer Demons­tra­ti­on auf dem Tah­r­ir-Platz ver­letzt wor­den sein. Das Trau­ma der Ver­sehr­ten, Ver­bren­nung, ver­ätz­te Bron­chi­en, stei­fe Hän­de und Arme, Sprach­stö­rung, blin­de Augen, zer­trüm­mer­te Kie­fer, gebors­te­ne Wan­gen, ver­lo­re­ne Erin­ne­rung. Was bedeu­tet, der Blick ist in dunk­le Sei­ten­stra­ßen der Stadt gerich­tet, in Zim­mer ver­steck­ter, not­dürf­tig aus­ge­rüs­te­ter Ambu­lan­zen, das Wort der Ver­let­zung in die­sen Zusam­men­hän­gen? — stop 

ping

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belichtung

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romeo : 0.01 — Sobald ich einen Satz selt­sa­mer Din­ge gedacht habe, freu ich mich, kann dann nicht blei­ben, sprin­ge auf, wenn ich sit­ze, oder in die Luft, wenn ich bereits auf mei­nen Bei­nen gestan­den habe.  Ich soll­te ein­mal einen Film dre­hen, wie ich durch die Woh­nung hüp­fe. Oder durch eine U‑Bahn sege­le. Oder im Schlaf ein Rad schla­ge, weil ich sehr gern im Schlaf merk­wür­di­ge Din­ge vor­be­rei­te für Sät­ze im Wachen. - Eine Blei­stift­spit­ze an ein lee­res Blatt Papier gelegt, blitzt das Noch­nicht­sicht­ba­re durch Hand und Arm in den Kopf. Alles Notie­ren scheint ein Vor­gang der Belich­tung mit­tels Ver­dunk­lung zu sein. — stop

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ein zierliches mädchen

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echo : 7.18 — In einem Hos­pi­tal­pas­sa­gen­raum saß ein zier­li­ches Mäd­chen in einem Roll­stuhl. Ihr Gesicht war bis unter die Augen hin­auf von einem Mund­schutz bedeckt, von einem gefal­te­ten Segel, das sich bläh­te im Rhyth­mus des Atmens. Sie hat­te ihre Hän­de aus dem Schoß geho­ben und drück­te sie pul­sie­rend so fest gegen­ein­an­der, dass sie zit­ter­ten. Schläu­che, trans­pa­ren­te, gewun­de­ne Röh­ren, führ­ten von einer Sau­er­stoff­fla­sche, — sie war hin­ter der Leh­ne des Roll­stuhls befes­tigt -, zur Nase des Mäd­chens. Wenn sie hus­te­te war ein tie­fes, feuch­tes, ein brum­men­des Geräusch zu ver­neh­men, ein Ton, der durch die Luft roll­te, ein unsicht­ba­res Wesen, das sich befrei­te, um sich irgend­wo in einer Ecke des War­te­rau­mes zu wei­te­ren unsicht­ba­ren Wesen zu fal­te­ten. Hin­ter einem Vor­hang, der eine Behand­lungs­ka­bi­ne ver­deck­te, zwit­scher­te ein Radio. Bald wird Schnee fal­len, bald Eis auf den Stra­ßen wach­sen. Die jun­ge Frau war müde gewe­sen, von einer Art der Müdig­keit, die ich selbst nie erfah­ren habe. Immer wie­der fie­len ihr die Augen zu, sie schwitz­te, ihre Hän­de zu heben, schien ihr alle Kraft abzu­ver­lan­gen, die zu die­sem Zeit­punkt in ihr zu fin­den war. Ein­mal bemerkt sie, dass ich sie anse­he, dass ich notie­re, dass ich ihre Hän­de beob­ach­te. — stop

ping

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anna politkowskaja

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tan­go : 7.05 — Luft, so klar und leicht, dass ich ein Wort erfun­den habe oder kom­po­niert oder gemalt oder wie auch immer. Wenn man das Wort wie­der­fin­den woll­te, müss­te man fol­gen­des sagen: m a n i t u l u l u m b a. Kurz dar­auf ein wei­te­res Wort ent­deckt, ein Wort, das mir noch wun­der­ba­rer zu sein schien, als das ers­te hier genann­te Wort, wes­we­gen ich das Wort im Moment sei­ner Erfin­dung sofort ver­schenk­te. — Natür­lich, bemerkt Anna Polit­kows­ka­ja im Jahr 2003, habe sie Grün­de, Angst um ihr Leben zu haben. Ich ver­su­che, nicht dar­an zu den­ken. — stop
ping

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polartrompete

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gink­go : 6.55 — Eine Käfer­ge­stalt, die glei­cher­ma­ßen die Eigen­schaf­ten eines Trom­pe­ten­kä­fers wie die Eigen­schaf­ten eines Polar­kä­fers in sich ver­ei­ni­gen wür­de, ein Käfer dem­zu­fol­ge, der Trom­pe­ten­ge­räu­sche von sich zu geben in der Lage wäre einer­seits, ander­seits sich vom Licht der Son­ne ernähr­te, von feins­ten Stäu­ben der Luft und vom gefro­re­nen Was­ser zu sei­nen Füßen. Die­se Per­sön­lich­keit wäre das ers­te Wesen sei­ner Gat­tung, die ant­ark­ti­sche Land­schaft bewohn­te, ein Käfer feins­ter Musik. Er wür­de ver­mut­lich Geräu­sche der Eis­stür­me nach­emp­fin­den, wür­de sich mit Horn­fü­ßen in den Boden stem­men, wür­de das erin­ner­te Sau­sen pola­rer Nord­win­de mit dem erin­ner­ten Sau­sen pola­rer Süd­win­de ver­quir­len, West und Ostor­ka­ne dar­über pfei­fen, ohne je zu wis­sen, war­um er in die­ser Wei­se han­del­te. Und wenn man nun reis­te? Nun, der Kof­fer eines Trom­pe­ten­kä­fers pola­ren Ursprungs soll­te einer Zigar­ren­kis­te ähn­lich sein. Ich mei­ne die Grö­ße des Kof­fers, in deren gefüt­ter­ter Mit­te eine Ver­tie­fung zu fin­den wäre, den prä­zi­sen Kör­per­li­ni­en des Käfers fol­gend, so dass sich der Käfer dort ein­schmie­gen wür­de, schla­fen, ohne im Kof­fer selbst hin und her zu fal­len. Nicht rot das Samt des Fut­te­rals, son­dern weiß, näm­lich von Schnee gemacht, weil es sich bei dem Rei­se­kof­fer eines Trom­pe­ten­kä­fers pola­ren Ursprungs nicht eigent­lich um eine Zigar­ren­schach­tel han­del­te, viel mehr um einen Rei­se­kühl­schrank in der Gestalt eines höl­zer­nen Behäl­ters für Rauch­wa­ren in läng­li­cher Form. — Ort: Dome A. Posi­ti­on: 80°22’ S 77° 21’E. Tem­pe­ra­tur: — 82,5 °C. – stop