ulysses : 6.25 UTC — Was für ein schöner Morgen unter Kastanienbäumen. Sommerfäden treiben durch die warme Luft. Atemzüge der Spinnen, der Falter, der Käfer, sanft streifen sie durch Blütenstaubwolken. In diesem Moment, da ich mir ein Baummikroskop erfinde, höre ich aus dem Radio, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika habe versucht, Ermittlungen des FBI zu behindern. Das ist eine ziemlich interessante Geschichte. Das Kurzwort FBI war schon immer ein leuchtendes Wort. Wenn ich mich nicht irre, ist das so, dass ich in meinem wirklichen Leben noch nie einem FBI – Beamten begegnet bin. Vielleicht habe ich einmal in einer U‑Bahn, die in Richtung Coney Island fuhr, neben einem FBI – Beamten Platz genommen, das ist möglich, ich habe ihn nicht bemerkt. Mit dem Wort FBI ist in meiner Erinnerung zunächst ein heftiges Gespräch verbunden, welches ich einmal in meiner Kindheit mit einem Jungen namens Jonny führte, der war uniformiert und bewaffnet gewesen, zur Karnevalszeit. Ich sagte: Du, Jonny, Du bist Polizist! Er sagte: Nein, ich bin vom FBI, und zückte seine Waffe. Seit etwa einer halben Stunde trage ich die Formulierung Summer of Sam wie einen Stempel in meinem Kopf. Warum? — stop
Aus der Wörtersammlung: affe
früher morgen
lima : 7.30 UTC — Vor einiger Zeit einmal wachte ich auf und dachte: Heute wirst Du einen Text notieren, der reinen Unsinn erzählt. Ich trank einen Kaffee, aß einen Apfel, öffnete das Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Dort bewegten sich Menschen. Ich beobachte, wie sie aus Straßenbahnen stiegen, wie sie die Straße überquerten, manche rauchten noch schnell eine Zigarette, andere telefonierten, manche durchsuchten ihre Taschen oder schauten in die Bäume, alle aber bewegten sich fast senkrecht vorwärts. Als ich ihnen so zuschaute, ahnte ich, dass es nicht einfach sein würde, einen Text zu schreiben, der reinen Unsinn erzählt. — stop
eine telefongeschichte
himalaya : 17.50 UTC — Gestern klingelte mein Telefon, nein, wirklich, mein Telefon meldete nicht nur einen Anruf, es klingelte tatsächlich, weil ich einen Signalton eingestellt hatte, der einem Klingelton der Telefone meiner Kindheit sehr ähnlich ist. Mein Telefon vermag gleichwohl zu zwitschern oder zu summen oder zu trompeten, wie Elefanten sprechen, aber wenn mein Telefon klingelt in der Weise meiner Kindheit, mag ich das am liebsten, oder wenn es Benny Goodman spielt, aber dann gehe ich nicht dran, dann hebe ich nicht ab, dann höre ich zu und tanze ein wenig in der Wohnung herum bis die Vögel an mein Fenster klopfen: Louis komm, die Arbeit wartet! — Gestern also klingelte mein Telefon. B. mein Patenkind, war in der Leitung, und ich freute mich sehr, weil ich ein halbes Jahr nichts von ihr gehört hatte. Kannst du dich erinnern an unsere Affengeschichte? Oh, ja, sagte B., da habe ich mich gefürchtet, da war ich noch klein. Es ist interessant, fuhr sie fort, ich fürchte mich vor der Geschichte noch immer, obwohl ich schon erwachsen geworden bin. B. erzählte noch ein wenig von Berlin und von New York, und als sie aufgelegt hatte, suchte ich nach einer Notiz der Affengeschichte, die schon so lange Zeit in der Vergangenheit liegt, dass B. bald selbst einmal von Affen erzählen wird. Die Geschichte geht so: Einmal, frühmorgens, kam ein schläfriges Mädchen zu mir in die Küche, setzte sich auf meine Knie und sagte: Du, Louis, ich muss Dir was erzählen. Ein Mann lebt in Amerika. Er lässt sich seinen Kopf abnehmen und auf einen Affen verpflanzen. – Warum, fragte ich, will der Mann das tun? – Bei dem Mann lebt nur noch der Kopf, antwortete das Mädchen und gähnte. – Warum nur noch der Kopf, fragte ich. – Er ist gelähmt. – Und der Affe? – Der Affe nicht. – Was geschieht mit dem Kopf des Affen? – Weiß nicht, sagte das Mädchen, und stürmte davon. — stop
2 engel
sierra : 16.15 UTC — Ein Freund zeigte eine Mappe, die er stets mit sich nimmt, um zur Arbeit zu fahren. Schau, sagte er, bei diesem Fach hier handelt es sich um ein operatives Fach, in welchem sich vier weitere Fächer befinden, dort ruhen Schlüssel, Portemonnaie, Codekarten, Handytelefon. Das zweite größere Fach linker Hand birgt Abteile für meine Reisebücher für die Straßenbahn, 1 Kühlfach für Schokolade, 1 Fach, in welchem 2 fingerlange Engel hausen, das öffnen wir lieber nicht, und in diesem Fach hier nun befinden sich weitere sehr wesentliche Dinge, Blütensamen beispielsweise, 1 Streichholzschachtel, 1 Kompass und 1 Wanderkarte, 1 Kaffeethermoskanne, 1 Fotoapparat, 28 Beutel Trinkwasser des Jahres 1988, 16 Portionen Fertignahrung, 3 Kilogramm Trockenbrot, 36 Tabletten gegen Seekrankheit, 1 schwimmfähiges Messer, 5 Signalfackeln in Rot, 2 Signalfackeln in Gelb, 1 Signalflöte, 1 Schöpfgefäß, 1 Rettungswesten, 1 Wurfring mit Leine, 1 wasserdichte Taschenlampe, 14 Batterien, 1 Gasfeuerzeug, 5 Fettstifte, 1 Überlebenshandbuch in finnischer Sprache, 1 Funkschreibmaschine mit Handkurbel. — Seltsame Geschichte. — stop
nachtzug nach douala
tango : 7.15 UTC — Akossiwa, die ihr junges Leben überwiegend in der Stadt Yaoundé verbrachte, erklärte während eines Gespräches im Zug, Tiere, die ich als wilde Kreaturen bezeichnete, Affen, sagen wir, Löwen, Antilopen, würden in ihrem Heimatland im zentralen Zoo der Hauptstadt leben. Man könne sie dort besuchen, man müsse sich nicht fürchten, allerdings würde der Besuch Eintritt kosten. Erst einmal musst Du überhaupt nach Kamerun fliegen. Du fliegst, sagt Akossiwa, am besten über Paris oder Amsterdam nach Yaoundé, das ist überhaupt kein Problem. Ich hatte Akossiwa eine dramatische Vorstellung ihres Landes skizziert, in der vermutlich wirkliche wilde Tiere natürlicherweise auch jenseits der Naturreservate existieren. Kurz darauf entwickelte sich ein aufregendes Gespräch über Wahrnehmung, Wirklichkeit und Projektion einerseits, andererseits über die Existenz wiederum der niederbayrischen Auerhähne in meinem persönlichen Leben. Eine Zugfahrt von Ngaoundéré nach Douala sei reizvoll, berichtete Akossiwa, es existiere auch eine Nachtzugverbindung, die würde sie aber nicht empfehlen: Weil Du nichts siehst! — stop
transformation : zeit
india : 22.55 UTC — Es ist Abend und ich sitze seit ein oder zwei Stunden im Dunkeln, weil ich herauszufinden wünsche, ob Libellen auch in lichtleeren Räumen fliegen, schweben, jagen. Als ich gestern erwachte gegen 7 Uhr in der Früh war es schon hell. Eine Libelle, marineblau, balancierte auf dem Rand einer Karaffe Tee, die ich neben meinem Bett abgestellt hatte. Sie schaute mir beim Aufwachen zu und naschte, solange ich nur ein Auge und nichts Weiteres bewegte, indem sie rhythmisch mit einer sehr langen Zunge bis auf den Grund des zimtfarbenen Gewässers tauchte. Vielleicht jagte sie nach Fischen oder Larven oder kleinen Fliegen, nach Teefliegen, kochend heiß, die über die Nacht kühler geworden sein mochten, während ich schlief. Oder aber sie hatte endlich Geschmack gefunden auch an süßen Dingen des Lebens, weshalb ich vor einer halben Stunde einen Löffel Honig erhitzte und auf die Fensterbank tropfen ließ, um dann sofort das Licht wieder zu löschen. Und so warte ich nun bereits seit einer vollen Stunde und höre seltsame Geräusche, von Menschen vielleicht oder anderen wilden Tieren. — stop
zylinder
india : 12.01 UTC – Vor einigen Wochen besuchte ich B., der noch immer in einer kleinen Wohnung über einem Jazzcafé wohnt, weswegen sein hölzerner Fußboden manchmal bebt, sodass auch seine Gäste beben und der Kaffee in den Tassen, und im Sommer fliegen die kleinen Sommerfliegen los, weil das Beben dermaßen schrecklich für ihre Beinchen ist, dass sie lieber stundenlang herumfliegen als wären sie Vögel ohne Füße. B. wohnt also in dieser kleinen Wohnung und ist noch immer traurig. Ich kenne ihn seit 15 Jahren, niemals habe ich ihn glücklich wahrgenommen, nicht eine Sekunde lang, oder in einem Zustand, den man als weder glücklich noch unglücklich bezeichnen könnte. B. ist unglücklich, weil er das so will, er hat sich in seiner Traurigkeit eingerichtet, wie in einem unsichtbaren Zelt, in dem er lebt, das er mit sich auf jede Reise nimmt, er reist ja nicht viel, aber er ist ein guter Gastgeber, sehr feinfühlig, ein geduldiger Zuhörer, der niemals lacht. Er schreibt im Übrigen an einem Buch, das rund ist, ich meine, er schreibt an einem Winterbuch von der Gestalt eines Zylinders. Man kann in dem Buch blättern, aber man weiß nicht, wo das Buch anfängt, weil in B.s Buch kein Anfang existiert, man liest, und wenn man lange genug liest, wird man plötzlich meinen, sich zu erinnern, oder man hat eine Markierung in das Buch notiert, was eigentlich nicht gestattet ist. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. — stop
basskäfer : es ist samstag
alpha : 17.15 UTC — Ein Basskäfer (Coleoptera chamberus) ist tatsächlich in etwa geformt wie ein Kontrabass. Einen Finger lang oder hoch, vermag der Käfer zu fliegen, aber nicht zu gehen. Nähert man sich einem Basskäfer vorsichtig, wird man sonore Töne vernehmen, die einem Gehäuse entkommen, das vorn wie hinten, oben wie unten, ähnlich beschaffen ist, eine Art Zeppelinluftschiff mit einem Kopf, das auf dem Bauch landete. Das Gehäuse glänzt, als wäre es von poliertem Holz. Der Käfer scheint nun auf den zweiten Blick hin, tatsächlich ein Käferwesen zu sein, insbesondere sein Kopf zeigt alle Merkmale eines Käferkopfes, Fühler, Augen, Mundwerkzeuge, darüber hinaus verfügt sein zentraler Körper über Deckflügel, welche sachte beben, darunter ruhen durchsichtige Schwingen, die den Käfer durch die Luft transportieren, jedoch nicht sehr dauerhaft oder weit, weil es nicht vornehme Aufgabe der Basskäfer ist, herumzufliegen, vielmehr ist vornehme Aufgabe der Basskäfer, Geräusche zu erzeugen, die von der Art der Kontrabassinstrumente sind, so wie wir Menschen sie kennen, weil wir sie erfunden haben. Deshalb sind an der äußeren Gestalt der Basskäfer keinerlei Beine oder Füße zu erkennen, weil sie sich im Inneren des Käfers befinden. Dort zupfen sie an Saiten von Chitin, stunden-gar tagelang. Basskäfer scheinen in dieser Weise miteinander zu kommunizieren. Sobald ein Basskäfer auf einen Trompetenkäfer trifft, sind beide Käfer glücklich. — stop
lichtzeituhr
ulysses : 3.28 UTC — Es ist spät, ich fahre mit dem Taxi. Ein Marder beobachtet, wie ich aus dem Wagen steige, er hockt auf dem Schalensitz einer Kinderschaukel im Park. Das Schlafzimmerfenster Mutters ist hell erleuchtet, das einzige Licht, das inmitten der Nacht noch brennt, vermutlich ist sie mit der Zeitung in der Hand eingeschlafen. Auf dem Tisch im Wohnzimmer ein Teller, auf dem Teller ruht ein Mohnkuchen, der noch warm ist. Ich lösche das Licht neben der schlafenden alten Dame, es ist kurz nach drei Uhr. Der Schalter der Lampe leise, sehr leise, ich würde beinahe sagen, der Schalter ist ein Schalter ohne Geräusch. Aber der Lichtwechsel selbst, wenn das Licht ausgeht, scheint ein geräuschvoller, heftiger Vorgang zu sein. Und ich denke noch, morgen, wenn es wieder hell geworden sein wird, am Nachmittag bei Kaffee und Mohnkuchen, werde ich Mutter eine Geschichte vorlesen, die sie nachdenklich stimmen könnte. Die Geschichte, die ich im Jahr 2015 notierte, geht so: Liesl, die vor wenigen Tagen 85 Jahre alt wurde, erzählte von einer Zeitschaltuhr, die ihr Sohn gleich neben ihrem Bett anzubringen wünschte. Er habe, hatte ihr Sohn berichtet, nachts immer wieder einmal wahrgenommen, dass Liesl einschlafen würde, ohne ihre Nachttischlampe gelöscht zu haben, er sei dann, ob des Lichtscheins, den er vom Schlafzimmer der Mutter her kommen sah, aufgestanden und habe sich vorsichtig an ihr Bett begeben und das Licht gelöscht. Einmal habe er überlegt, ob er nicht das Gesicht seiner schlafenden Mutter, wie zum Beweis fotografieren sollte, ein so helles Gesicht, dass man sich kaum vorstellen konnte, das Gesicht einer tatsächlich Schlafenden zu betrachten. Das war vor sechs Jahren gewesen. Damals habe sie ihrem Sohn gesagt, dass sie keine Zeitschaltuhr neben sich wünsche, sie sei doch kein Aquarium, habe sie gesagt, lieber schlafe sie im strahlenden Licht der Nachtlampe ein, plötzliche Dunkelheit, um Himmelswillen, nein. Ihr Sohn reiste wieder ab. Liesl erzählte, dass sie mit ihm nie wieder über Zeitschaltuhren gesprochen habe, unlängst aber, in einer Septembernacht, sei dann plötzlich das Licht ausgegangen um 1 Uhr, sie habe geschimpft und sei dann vorsichtig aus dem Bett gestiegen, sei auf Knien durch das stockdunkle Zimmer gekrochen zu einem Lichtschalter hin, der sich auf dem Flur befand, auch da war kein Licht gewesen, Donnerwetter! — stop
jazz
delta : 22.08 UTC — Ich nehme an, es könnte sinnvoll sein, dass ich, sobald ich über Echokammern nachzudenken beginne, mich zunächst nach meinen eigenen Echokammern erkundige, digitalen wie analogen Räumen, wie sie beschaffen sind, wie lange ich bereits unter ihren Filterschirmen lebe, was sich einmal da und einmal dort finden lässt, was ich höre, sehe, lese, demzufolge bald Ermittlungen möglich werden könnten über alle jene Substanzen, die ich nicht sehe, nicht höre, nicht zu lesen vermag. Es ist kurz nach 10 Uhr abends: Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? / Daniil Charms — stop