romeo : 5.22 — Es war Nacht und ich hockte in meiner Küche und schälte sehr langsam einen Apfel. Kurz darauf hörte ich ein raschelndes Geräusch, dessen Ursache sich in meinem Kühlschrank aufzuhalten schien. Ich wartete einige Minuten. Zunächst wieder Stille, dann erneut ein raschelndes Geräusch. Unverzüglich öffnete ich die Tür zum kühlen Raum, der hell beleuchtet war. Wie ich so auf einem Stuhl im Licht meines Kühlschrankes saß und wartete, dass sich dort etwas Unbekanntes zeigen möge, das Geräusche verursacht, begann ich damit, das sichtbare Gut im Schrank zu befragen, die Marmelade zum Beispiel, ein Gläschen voll Aprikosengelee, ob es denn möglich wäre? Oder der Senf, die Feigen in ihrer Feigenbox, Butterwaren. Aber auch das italienische Brot rührte sich nicht. Ich erinnerte mich in diesem Augenblick der Kühlschrankbeobachtung an ein Kind, das immer wieder einmal die Tür eines längst verschwundenen Eisschranks aufriss, um nach der Dunkelheit zu sehen, die angeblich verlässlich eintreten sollte, sobald die Tür des Kühlschrankes geschlossen wurde. Ich legte mich dann wieder ins Bett. — stop
Aus der Wörtersammlung: arm
vor dem telefon
nordpol : 0.05 — Als ich die alte Dame im Haus der alten Menschen besuchte, war sie schon wach und bekleidet gewesen. Sie saß in einem Rollstuhl, trug Turnschuhe an ihren Füßen, das Haar war gekämmt, rosige Wangen. Anstatt mich zu begrüßen, sagte sie: 7805355, wir müssen uns kümmern, ich telefoniere die ganze Nacht, aber es geht niemand dran, es geht einfach niemand dran, 7805355. Die alte Dame wiederholte diese Nummer 7805355 in hoher Frequenz, sie hörte nicht auf, diese Nummer immer wieder vor sich herzusagen. Wir verließen ihr Zimmer, ich schob sie durch Flure des Hauses der alten Menschen. Wir waren zunächst im Garten, dann im Park, dann auf einem Weg unter Apfelbäumen. Vögel zwitscherten. Die Luft war warm vom Licht der tief stehenden Sonne. Wenn ich anhielt, um nachzusehen, wie es der alten Dame ging, bemerkte ich, dass sie immer noch die Nummer eines Telefons vor sich hin murmelte, als ob sie eine Schallplatte in sich abspielte, die aufhörte, weil sie das Ende ihrer Spur verlor, einen Ausgang. Auch am Nachmittag, die alte Dame hatte geschlafen, wurde unentwegt von genau jener Telefonnummer gesprochen, die schon die Nummer des Morgens gewesen war. Bald wurde Abend. — stop
von kevin und liesl im zug
tango : 22.52 UTC — Ich hörte, er heiße Kevin. Er sagte, er sei ohne Dach über dem Kopf. Auch im Sommer oder im Herbst sei das Leben nicht leicht, im Sommer habe er viel Durst, im Herbst fürchte er sich vor dem Winter. Er würde gern seine Geschichte erzählen, warum er so arm geworden sei, dass er keine Wohnung habe und nichts zu essen. Wenn Kevin spricht, ist seine Stimme wunderschön anzuhören. Es ist eine Stimme, die gut singen könnte, ein Tenor vielleicht. Nur das mit Kevins Geschichte ist so eine Sache, ich höre Kevins Lebensgeschichte seit Anfang des Jahres im Morgenschnellzug zum Flughafen immer wieder. Ich sollte sagen, Kevin erzählt täglich eine andere Geschichte, er ist im Grunde ein guter Erzähler, und auch ein guter Erfinder. Im Winter erzählt er Wintergeschichten, im Sommer Sommergeschichten. Gestern wurde Kevin von einer jungen, mageren Frau begleitet. Sie war sehr schmutzig. Kevin erzählte ihr, dass ich ihm manchmal etwas Geld geben würde oder eine Brezel, auch dass ich aufschreiben würde, was er berichte. Sie setzten sich neben mich. Die junge Frau sagte: Wenn man träumt, ist man im Inneren wach und warm. Am Flughafen stiegen beide mit mir aus. Wir sprachen eine halbe Stunde. Der Bahnhof war wieder einmal undicht. Regen kam von der Decke. Das Licht war teilweise ausgefallen, an den Wänden saßen ein paar dicke Kröten. Sie schnappten mit armlangen Zungen nach Tauben, die über den Bahnsteig segelten. Ich hörte, das Knochengespenst an Kevins Seite soll Lieselotte heißen, sehr seltsam dieser Name für eine recht junge Person. Ich erfuhr, dass sie Literaturwissenschaften in London studierte, sie mag gern lesen, aber sie komme nicht dazu, weil sie das Bild ihres Vaters in sich trage, der immerzu betrunken war, ein schmerzendes Bild, das hell vor ihr leuchte. Ich weiß jetzt, Bilder eines betrunkenen Vaters zu verdunkeln, erfordert ungeheure Kraft und Ausdauer. Lieselotte kann deshalb seit einem Jahrzehnt nicht schlafen. Sie mag Kevin, der so schöne Geschichten erzählt, dass sie beide von seinen Geschichten ein wenig weiterleben können. Es ist jetzt Abend. — stop
bogota
nahe warrenstreet
alpha : 22.28 UTC — Louis erzählte mir eine heitere Geschichte, die er nicht erfunden, vielmehr von Monroe erzählt bekommen haben will, Monroe, die in Brooklyn in der Baltic Street seit fünf Jahren lebt. Sie habe, erzählte Monroe, ihre Freundin Lilly besucht in der Warrenstreet an einem fürchterlich heißen Tag im August. Sie habe Lillys Wohnung betreten und sofort gespürt, dass etwas seltsam ist. Das linke Augenlid Lillys flatterte nämlich wie ein wild gewordener Falter über ihrem Augapfel herum. Dieses Flattern habe nicht aufgehört, sagte Lilly, seit in der Nacht vor drei Tagen über ihrem Bett ein Feueralarmmelder angesprungen sei, ein äußerst strenger heller Ton, der so komponiert worden sei, dass man unbedingt wach werden müsse, weswegen sie sogleich senkrecht im Bett hockte und nach Feuer suchte, aber keinerlei Feuer gefunden habe. Sie habe dann etwas abgewartet, aber das Wesen an der Decke wollte sich nicht beruhigen, da sei sie dann auf einen Stuhl gestiegen und habe das pfeifende, blinkende Tier flugs abgeschraubt, habe versucht, das Tier zu beruhigen, habe Schalter und Knöpfe gedrückt, dann das Tier in einen Pullover gewickelt, eine Decke darüber gelegt, und noch eine Decke, schließlich habe sie ihre Handtasche geöffnet, sei auf die Straße getreten, um zu Fuß in Richtung der Brooklyn Bridge zu marschieren. Indessen flatterte ihr Augenlid noch immer herum wie ein gefangener Falter, weswegen sie sich sehr konzentrieren musste im wilden Straßenverkehr. Das Tier, das in einer Weise in der Handtasche pfiff, dass Seemöwen Lillys Gegenwart flüchteten, habe sie dann in den East River geworfen, was ihrem Auge ganz offensichtlich nicht sofort geholfen habe. — stop
irrarm
nordpol : 15.38 UTC — Eine alte, ärmlich gekleidete, stets verwirrt wirkende Frau, die mir in meinem Quartier jahrelang immer wieder begegnete, nie hörte ich ein Wort aus ihrem Mund. Als ich sie einmal anspreche, um ihr etwas Geld zu geben, antwortet sie mit heller, kindlich klingender Stimme: Danke! Warum tun Sie das. Warum geben Sie mir Geld? — Ich gehe weiter. Ich drehe mich um, auch die alte Frau dreht sich um, sieht mir nach. In diesem Moment denke ich: Du könntest meine Mutter sein, wärst von der Armut verschont geblieben. — stop
korken
delta : 0.15 UTC — Das waren Zeiten, als wir noch Kinder waren, die unter freiem Himmel mit Flugdrachen spielten. Wie wir durch die Wälder krochen, um Knochen zu sammeln. Ein Bild zeigt mich in kurzen Hosen, wie ich einen Erdapfel über offenes Feuer halte, ich sammelte Briefmarken, Schmetterlinge, Steine und Kronkorken, ließ Seilbahnen über Bindfäden fahren von Haus zu Haus. Heute sammele ich gerne Geschichten von Kiemenmenschen, hölzerne Elefanten oder Marienkäfer, die nachts schlafend an warmen Lampenschirmen sitzen. — stop
sekundengeschichte
echo : 0.26 UTC — Unsere Betriebssysteme harmonierten nicht, erzählte ein junger Mann, es war nichts mehr zu retten. Er fragte: Ja, kann sich ein Mensch denn für Gefühle entscheiden? Existieren in meiner Seele Algorithmen, die steuerbar sind? — Der junge Mann sprach mit heller Stimme. Neben ihm im Schnellzug hockte ein Hund auf einem Sitzplatz für sich. Der Hund war nicht viel größer als eine Maus, ein Zwerghund mit riesigen runden Augen. Er schaute sein Herrchen, das von der Liebe traurig war, bewundernd an. Ein heißer Tag. Der Maushund zeigte eine schöne Zunge, sie war vom Sommerblau der Karpfenzungen. — stop
tibet
alpha : 8.02 UTC — In einem feinen Gespräch über das Schreiben tauchte plötzlich Dürrenmatt auf, seine Geschichte vom Winterkrieg in Tibet, dort ein einarmiger Söldner, der in einem Tunnelsystem im Rollstuhl sitzend entlang feuchter Wände vor- und rückwärts fährt. Er ritzt einen Textfaden von mehreren Kilometern Länge in die Felswand eines Bergmassives. Ich erzählte von dieser Geschichte, wenige Stunden später war ich mir nicht sicher, ob meine Erinnerung präzise gewesen war. Sofort suchte ich nach dem Buch in meiner Bibliothek, dann erinnerte ich mich, das Buch verliehen zu haben, aber nicht an wen. Wenn ich versuche, mich zu erinnern, gehe ich gern auf und ab. Ich gehe so lange, bis ich ahne, dass ich mich nicht erinnern werde. Kurz darauf sitze ich auf einem Stuhl und plane an etwas anderes zu denken. Es regnet, ein Gewitter, oder es regnet nicht. — stop
lucinda
MELDUNG. An diesem warmen Mittwoch, es war 7 Uhr und 8 Minuten in der Früh, wurde Käferdame Lucinda [ 15 Gramm ] von Käfer Joseph [ 22 Gramm ] erstmals mittels rhythmischer Lumineszenzen von violetter Farbe begrüßt. Sie selbst morst in gelblicher Beleuchtung. ~ MPI für Biotechnologie, Ungererstr 12, 6. Stock : Labor IIc‑8 : Level 4. — stop