Aus der Wörtersammlung: bamako

///

ein mann des lichts

9

bamako : 0.01 UTC — Im Alter schwin­det sei­ne Seh­kraft. Es blei­ben ihm noch Hör­bü­cher. Die­ser wür­de­vol­le, fei­ne Mann. Wie er lei­se und lang­sam von mei­nem Fern­seh­bild­schirm aus spricht: Dadurch kom­pen­sie­re ich … damit (mit den Hör­bü­chern) eigent­lich mei­ne … Ver­zweif­lung. Der gro­ße Kame­ra­mann Micha­el Ball­haus ist gestor­ben. — stop

///

von gedankenlichtern

9

bamako : 22.01 UTC — Vor weni­gen Tagen spa­zier­te ich an einem spä­ten Nach­mit­tag in einem Gar­ten. Da ist etwas Merk­wür­di­ges gesche­hen. Wäh­rend ich sehr lang­sam Schritt für Schritt vor­wärts, seit­wärts oder rück­wärts ging, begann ich zu erzäh­len, Geschich­ten wie Blü­ten in mei­nem klei­nen Kopf. Kaum hat­te ich eine Geschich­te zu Ende erzählt, waren wei­te­re Geschich­ten aus den Wör­tern bereits gewach­sen, die sich öff­ne­ten, die erzählt wer­den woll­ten, hel­le oder dunk­le­re Geschich­ten wie Lebe­we­sen, und ich dach­te noch, wie das so geht, wie die Geschich­ten kom­men und gehen, Erin­ne­run­gen, als woll­te sich plötz­lich mein hal­bes Leben erzäh­len. So, im Erzäh­len im lang­sa­men Gehen, habe ich die Zeit ver­ges­sen. Der Flug der Tau­ben­schat­ten vor dem Abend­him­mel, die vom Luft­glück der Vögel erzähl­ten. Ich hör­te von Gedan­ken­lich­tern, von glim­men­den Tas­ta­tu­ren. Seit zwei Tagen sit­ze ich immer wie­der ein­mal ganz still und ver­su­che mir Gedan­ken vor­zu­stel­len, die par­al­le­le Gedan­ken sind, Gedan­ken zur sel­ben Zeit. Ich befin­de mich sozu­sa­gen auf der Suche nach Gedan­ken, die viel­leicht stimm­los, aber voll Licht sind, Gedan­ken wie Bil­der, die sich in der­sel­ben Zeit bewe­gen? Jetzt habe ich einen klei­nen Kno­ten im Kopf. — stop
ping

///

luftcode

9

bamako : 23.55 UTC — Ein­mal, es war zu ihrem 88. Geburts­tag gewe­sen, habe ich N. gefragt, ob ich erzäh­len dür­fe, dass sie ein elek­tro­ni­sches Notiz­buch füh­re, in wel­chem sie jeden Tag eini­ge Sät­ze notiert, die nur für sie selbst bestimmt sei­en, Gedan­ken, die kein ande­rer Mensch als sie selbst jemals lesen wird, Wör­ter dem­zu­fol­ge, mit wel­chen sie kein Geld ver­die­ne, gehei­me Geschich­ten, auf­ge­schrie­ben in der Art und Wei­se einer im Gebir­ge spa­zie­ren­den Sän­ge­rin, die vor sich hin summt, die sich selbst zuhört oder auch nicht, bedin­gungs­los in die­sen Momen­ten sich nahe, Code ohne Absicht mit Sorg­falt ver­schlüs­selt. — Es ist Sams­tag. Beob­ach­te­te vor dem nächt­li­chen Him­mel die ers­te Fle­der­maus des Jah­res. — stop

///

vom tiefschlaf

2

bamako : 18.15 — Frü­her Abend. Viel Regen. Kein Wind. Ich sit­ze in einem Kran­ken­haus am Bett eines Men­schen, der schläft. Der Mensch, von dem ich erzäh­le, ist zur­zeit ein Schlaf­mensch. Er schläft seit 106 Stun­den ohne Unter­bre­chung, weil er in einen Tief­schlaf ver­setzt wur­de, weil sei­ne Lun­ge sehr krank gewor­den ist, ich ahne, er wird wei­te­re 106 Stun­den schla­fen, ehe man ihn wecken wird. Ein selt­sa­mer Tag. Maschi­nen, die mit Schläu­chen und Sen­so­ren nach dem schla­fen­den Men­schen grei­fen. Sie piep­sen, wenn sie nicht zufrie­den sind. Ich habe an die­sem selt­sa­men Tag gelernt, dass es nicht leicht ist einem schla­fen­den Men­schen aus einem Buch vor­zu­le­sen. — stop
match8

///

schläfer

2

bamako : 5.14 — Wer um halb vier Uhr mor­gens am Zen­tral­bahn­hof in eine Stra­ßen­bahn steigt, wird bald bemer­ken, dass es sich bei die­sen Stra­ßen­bah­nen um Ver­kehrs­mit­tel han­delt, in wel­chen schla­fen­de Men­schen rei­sen. Mehr­fach habe ich, zufäl­li­gen Him­mels­rich­tun­gen fol­gend, Expe­di­tio­nen unter­nom­men. Ent­we­der ist es die Zeit, weder Tag noch Nacht, die dazu führt, dass kein Mensch dort wach sein kann, oder aber etwas schwebt in der Luft, das unwi­der­steh­lich müde macht. Auch ich selbst schla­fe bei­na­he sofort, wenn ich mich set­ze. Ich gehe also auf und ab, nie­mand bemerkt mich, auch der Fah­rer der Stra­ßen­bahn scheint um die­se Zeit fest zu schla­fen. Ein­mal, kürz­lich, waren unge­wöhn­lich vie­le Fahr­gäs­te unter­wegs. Ich konn­te sie hören, lei­se Lebens­äu­ße­run­gen von der Art des Gesprächs, das wache Men­schen mit­ein­an­der füh­ren, wenn sie sich schon lan­ge nichts mehr zu sagen haben. Sobald ich schla­fen­de Men­schen im Vor­über­kom­men heim­lich betrach­te, Men­schen, die ihre Augen mit etwas Haut zuge­deckt haben, kann ich kaum glau­ben, dass sie jemals gefähr­lich sein könn­ten, böse mit­tels gespro­che­ner oder geschrie­be­ner Wor­te, gewalt­tä­tig mit Fäus­ten, Mes­sern, Pis­to­len. Ich mei­ne, unter ihren schim­mern­den Lid­häut­chen träu­men­de Augen erken­nen zu kön­nen, manch­mal schnap­pen sie nach etwas Licht. — stop
polaroidleuchttierchen2

///

bombay

2

bamako : 2.12 — Auf mei­nem Schreib­tisch bemer­ke ich eine Post­kar­te, die dort eigent­lich nicht exis­tie­ren soll­te. Tau­sen­de Figu­ren bede­cken das Schrift­stück, For­men, die ich einer­seits als Zei­chen iden­ti­fi­zie­ren, ande­rer­seits ihrer Bedeu­tung nach nicht ent­zif­fern kann, auch die Brief­mar­ke der Post­kar­te wur­de mit Zei­chen ver­se­hen. Irgend­je­mand muss, mit­hil­fe einer Lupe, so vie­le Schrift­zei­chen wie mög­lich auf der Post­kar­te unter­ge­bracht haben. Es han­delt sich ver­mut­lich um einen Text in sin­gha­le­si­scher Spra­che. Weder sind Absät­ze zu erken­nen, noch Wör­ter, kein Raum für Lee­re. Die Brief­mar­ke ist unter den Zei­chen nur noch sche­men­haft zu erken­nen, 25 Rupi­en, Ele­fan­ten durch­schrei­ten einen Fluss. Auf die Bild­sei­te der Post­kar­te wur­de kein Schrift­zei­chen gesetzt. Sie trägt eine berühm­te Foto­gra­fie Sebas­tião Sal­ga­dos: Church­ga­te Train Sta­ti­on / Bom­bay. Men­schen strö­men über Bahn­stei­ge. Sie bewe­gen sich so schnell, dass sie unscharf erschei­nen wie eine Flüs­sig­keit. Im lin­ken unte­ren Bereich der Foto­gra­fie eine Frau, die sich ver­mut­lich im Moment der Auf­nah­me kaum oder nur sehr lang­sam beweg­te. Sie hält eine Tasche in der rech­ten Hand, sie scheint die ein­zi­ge nicht flüs­si­ge Per­son zu sein, die auf der Foto­gra­fie wahr­zu­neh­men ist. — stop – Diens­tag. — stop – Sturm von Nord­west. — stop
ping

///

moskau

pic

bamako : 6.55 — Vor einem Schal­ter am Zen­tral­bahn­hof stand eine alte Dame mit einem Kof­fer, den sie hin­ter sich her­zie­hen konn­te. Sie trug ein blau­es Hüt­chen auf dem Kopf, und sie war grell geschminkt und lach­te. Auf den ers­ten Blick schien sie fröh­lich zu war­ten wie ihr klei­ner Kof­fer, auf den zwei­ten Blick aller­dings war zu sehen, dass sie nicht nur war­te­te, son­dern bewacht wur­de von einer wei­te­ren, sehr viel jün­ge­ren Frau und einem Mann, der die Uni­form der Bahn­ge­sell­schaft trug. Wie Säu­len stan­den sie links und rechts der alten Dame, die jun­ge Frau hat­te über­dies die Hand­ta­sche der Bewach­ten an sich genom­men, um sie zu durch­su­chen. Eine ihrer Hän­de wühl­te so hef­tig in der Tasche her­um, dass ein Rascheln weit­hin zu ver­neh­men war. Sie forsch­te ein oder zwei Minu­ten in die­ser wil­den Art und Wei­se. Weil sich aber in der Bör­se der alten Dame kein Doku­ment zur Iden­ti­fi­zie­rung auf­spü­ren ließ, schüt­tel­te sie den Kopf, beug­te sich noch ein­mal her­ab, sprach lei­se zu der alten Dame hin, um sich kurz dar­auf an einen Schal­ter zu wen­den. Dort saß hin­ter spie­geln­dem Glas ein Schat­ten, der ein Mikro­fon an sei­nen Mund führ­te, kurz dar­auf war eine war­me, melo­di­sche Stim­me zu hören, die durch die Bahn­hofs­hal­le schall­te, sie sag­te: Ach­tung! Wir bit­ten um ihre Auf­merk­sam­keit, vor dem Infor­ma­ti­ons­schal­ter Gleis 24 war­tet ein Per­so­nen­fund­stück. Bit­te mel­den Sie sich! — Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich ges­tern am frü­hen Abend, kurz bevor der Fern­zug aus Mos­kau via War­schau den Bahn­hof erreich­te. Auf dem Bahn­steig war­te­ten vie­le Men­schen. Man­che hiel­ten Blu­men in ihren Hän­den. Ande­re foto­gra­fier­ten. — stop

polaroidstrand1

///

codegeräusch

2

bamako : 2.26 — Bemer­kens­wert viel­leicht die Vor­stel­lung, das Wort h i b i s c i l l i könn­te nach sei­ner Ent­tar­nung genaue die­sel­be Bedeu­tung haben wie die Zei­chen­fol­ge x l / * q k o y. Es exis­tie­ren dem­zu­fol­ge Codes, die wohl­klin­gend sind für mensch­li­che Ohren, wäh­rend ande­re even­tu­ell flei­ßi­gen Rechen­ma­schi­nen gefal­len. — stop

ping

///

ein leises pfeifen

pic

bamako : 2.25 — Eine kur­di­sche Freun­din ale­vi­ti­schen Glau­bens erzähl­te mir eine Geschich­te, die eigent­lich kei­ne Geschich­te ist, son­dern ein Bericht, weil sie per­sön­lich mehr­fach erle­ben muss­te, wie ihre Toch­ter eine Freun­din mit nach Hau­se brach­te, eine jun­ge Kur­din sun­ni­ti­schen Glau­bens, die zwar mit der Toch­ter Zeit ver­brin­gen, aber nicht mit der Fami­lie essen woll­te, weil sie fürch­te­te, viel­leicht ver­gif­tet zu wer­den. Ich beob­ach­te­te einen tie­fen Schmerz in den Augen mei­ner Freun­din, wäh­rend sie erzähl­te, und auch Zorn und Ent­täu­schung. Sie erklär­te: Das sind die Eltern, die ihre Kin­der imp­fen. Wir Ale­vi­ten sind gefähr­li­che Leu­te, ver­stehst Du, wir sind lebens­ge­fähr­li­che Leu­te. Ich fürch­te, das alles geht ein Leben lang nicht mehr aus den armen Kin­der­see­len raus! – Es ist jetzt 0 Uhr und 55 Minu­ten. Nicht wahr, das ist eine wirk­lich merk­wür­di­ge Bege­ben­heit, die ich in die­ser Nacht notie­re, um sie nicht zu ver­ges­sen. Über­haupt ver­ges­se ich zur­zeit recht viel. Vor eini­gen Tagen, wäh­rend ich mit einer wei­te­ren Freun­din tele­fo­nier­te, mach­te ich eine kur­ze Pau­se, um Kaf­fee zu kochen. Ich bat mei­ne Freun­din in der Lei­tung zu blei­ben und stand also in der Küche und erhitz­te das Was­ser, als eine Tau­be auf dem Fens­ter­brett lan­de­te. Immer, wenn ich eine Tau­be sehe, den­ke ich an Wolf­gang Koep­pen. Ich habe Wolf­gang Koep­pen ein­mal in Mün­chen in einem Kino beob­ach­tet, einen gebückt gehen­den, alten Mann mit Bril­le, der sich sehr lang­sam beweg­te. Nie­mand schien ihn erkannt zu haben, wor­über ich mich damals wun­der­te. Ich erin­ne­re mich genau, ich wun­der­te mich vie­le Tage lang und über­leg­te, ob ich Wolf­gang Koep­pen nicht einen Brief schrei­ben soll­te, um ihm zu erzäh­len, dass ich ihn gese­hen habe, im Kino und dass ich mich dar­über sehr freu­te. Plötz­lich hör­te ich vom Tisch her, auf dem mein Tele­fon lag, ein lei­ses Pfei­fen. Das Pfei­fen kam tat­säch­lich aus dem klei­nen Appa­rat her­aus. Als ich das Tele­fon anhob, wur­de das Pfei­fen lau­ter und lau­ter, und mei­ne Freun­din erzähl­te nur Sekun­den spä­ter, sie habe nicht mehr dar­an geglaubt, dass ich sie noch hören wür­de oder mich an sie erin­nern. Sie habe mei­ne Schrit­te deut­lich gehört, außer­dem soll ich mit mir selbst gespro­chen haben. – stop

ping



ping

ping