bamako : 2.01 – r i p p e n b o g e n
Aus der Wörtersammlung: bamako
moskau
bamako : 6.55 — Vor einem Schalter am Centralbahnhof stand eine alte Dame mit einem Koffer, den sie hinter sich herziehen konnte. Sie trug ein blaues Hütchen auf dem Kopf, und sie war grell geschminkt und lachte. Auf den ersten Blick schien sie fröhlich zu warten wie ihr kleiner Koffer, auf den zweiten Blick allerdings war zu sehen, dass sie nicht nur wartete, sondern bewacht wurde von einer weiteren, sehr viel jüngeren Frau und einem Mann, der die Uniform der Bahngesellschaft trug. Wie Säulen standen sie links und rechts der alten Dame, die junge Frau hatte überdies die Handtasche der Bewachten an sich genommen, um sie zu durchsuchen. Eine ihrer Hände wühlte so heftig in der Tasche herum, dass ein Rascheln weithin zu vernehmen war. Sie forschte ein oder zwei Minuten in dieser wilden Art und Weise. Weil sich aber in der Börse der alten Dame kein Dokument zur Identifizierung aufspüren ließ, schüttelte sie den Kopf, beugte sich noch einmal herab, sprach leise zu der alten Dame hin, um sich kurz darauf an einen Schalter zu wenden. Dort saß hinter spiegelndem Glas ein Schatten, der ein Mikrofon an seinen Mund führte, kurz darauf war eine warme, melodische Stimme zu hören, die durch die Bahnhofshalle schallte, sie sagte: Achtung! Wir bitten um ihre Aufmerksamkeit, vor dem Informationsschalter Gleis 24 wartet ein Personenfundstück. Bitte melden sie sich! — Diese Geschichte ereignete sich gestern am frühen Abend, kurz bevor der Fernzug aus Moskau via Warschau den Bahnhof erreichte. Auf dem Bahnsteig warteten viele Menschen. Manche hielten Blumen in ihren Händen. Andere fotografierten. — stop
codegeräusch
bamako : 2.26 — Bemerkenswert vielleicht die Vorstellung, das Wort h i b i s c i l l i könnte nach seiner Enttarnung genaue die selbe Bedeutung haben wie die Zeichenfolge x l / * q k o y. Es existieren demzufolge Codes, die wohlklingend sind für menschliche Ohren, während andere eventuell fleissigen Rechenmaschinen gefallen. — stop
ein leises pfeifen
bamako : 2.25 — Eine kurdische Freundin alevitischen Glaubens erzählte mir eine Geschichte, die eigentlich keine Geschichte ist, sondern ein Bericht, weil sie persönlich mehrfach erleben musste, wie ihre Tochter eine Freundin mit nach Hause brachte, eine junge Kurdin sunnitischen Glaubens, die zwar mit der Tochter Zeit verbringen, aber nicht mit der Familie essen wollte, weil sie fürchtete, vielleicht vergiftet zu werden. Ich beobachtete einen tiefen Schmerz in den Augen meiner Freundin während sie erzählte, und auch Zorn und Enttäuschung. Sie erklärte: Das sind die Eltern, die ihre Kinder impfen. Wir Aleviten sind gefährliche Leute, verstehst Du, wir sind lebensgefährliche Leute. Ich fürchte, das alles geht ein Leben lang nicht mehr aus den armen Kinderseelen raus! – Es ist jetzt 0 Uhr und 55 Minuten. Nicht wahr, das ist eine wirklich merkwürdige Begebenheit, die ich in dieser Nacht notiere, um sie nicht zu vergessen. Überhaupt vergesse ich zur Zeit recht viel. Vor einigen Tagen, während ich mit einer weiteren Freundin telefonierte, machte ich eine kurze Pause, um Kaffee zu kochen. Ich bat meine Freundin in der Leitung zu bleiben und stand also in der Küche und erhitzte das Wasser, als eine Taube auf dem Fensterbrett landete. Immer, wenn ich eine Taube sehe, denke ich an Wolfgang Koeppen. Ich habe Wolfgang Koeppen einmal in München in einem Kino beobachtet, einen gebückt gehenden, alten Mann mit Brille, der sich sehr langsam bewegte. Niemand schien ihn erkannt zu haben, worüber ich mich damals wunderte. Ich erinnere mich genau, ich wunderte mich viele Tage lang und überlegte, ob ich Wolfgang Koeppen nicht einen Brief schreiben sollte, um ihm zu erzählen, dass ich ihn gesehen habe im Kino und dass ich mich darüber sehr freute. Plötzlich hörte ich vom Tisch her, auf dem mein Telefon lag, ein leises Pfeifen. Das Pfeifen kam tatsächlich aus dem kleinen Apparat heraus. Als ich das Telefon anhob, wurde das Pfeifen lauter und lauter, und meine Freundin erzählte nur Sekunden später, sie habe nicht mehr daran geglaubt, dass ich sie noch hören würde oder mich an sie erinnern. Sie habe meine Schritte deutlich gehört, außerdem soll ich mit mir selbst gesprochen haben. – stop
lufträume
bamako : 6.30 — Der Stuhl meines Vaters im Zimmer vor den Bäumen. Sobald ich mich setze, spüre ich seine Gegenwart als wäre er gerade erst aufgestanden, um kurz in ein anderes Zimmer zu gehen. Genau dieser Ort, ja, dieser Raum, so viele Jahre so viele Stunden lang hatte mein Vater an dieser Stelle verbracht, dass er nur sehr langsam weichen kann in der Wahrnehmung seines Sohnes. Da ist seine Schublade, sein Lichtmessgerät, sein Brieföffner, sein Radiergummi, sein Bleistift, seine Lupe, sein Fotoapparat. Und das hier ist seine Aussicht auf den winterlichen Garten, auf den Computerbildschirm, auf die Tastatur seiner Schreibmaschine, auf seine Lampe, die noch immer warmes Licht ins Zimmer sendet, Licht, das mein Vater sich wünschte. Es ist eine seltsame Erfahrung, dass sich mit den Spuren eines Menschen spürbare Gegenwart verbindet. Das Geräusch einer Zeitung, die raschelt. Eine Tür, die sich öffnet. Vor wenigen Tagen noch hörte ich meine Mutter davon erzählen, wie sehr ihr mein Vater fehle. Und weil die Worte nicht ausreichten, dieses Fehlen zu beschreiben, machte sie eine sehnende Geste, als würde sie einen unsichtbaren Mann umarmen, einen Raum, der nur noch Erinnerung ist, einen Raum, der weder mit Händen noch Lippen berührt werden kann. — stop
mululela
bamako : 3.05 — Habe in den vergangenen Wochen verschiedene Wörterbücher untersucht, insbesondere jene Sammlungen, die im Hintergrund zahlreicher Texteditoren heimliche Arbeit verrichten. Es ist so, dass auf der Ebene der Sprachen, Nachtmenschen in einem Wort existieren, aber nicht Tagmenschen. Das Wort Tagmensch wird sofort als nichtkorrektes Wort ausgewiesen. Es scheint demzufolge für am Tage lebende Menschen möglich zu sein, andere, nämlich Menschen, die überwiegend in der Nachtzeit existieren, mit einem Wort zu kennzeichnen, während hingegen Nachtmenschen nicht möglich ist, jene Menschen, die die Nacht verschlafen, mit einem eindeutigen Wort zu bezeichnen. Das ist aus meiner Sicht zunächst seltsam, eine Übung, die sich vermutlich bald ändern wird, indem sich Lebensarten und Arbeitswelten der Menschen immer fort verdichten. — Flughafen. Leichter Schneefall. Es ist kurz vor drei Uhr. Eine riesige Antonow-Maschine rollt über das Flugfeld. Kein Laut zu hören vom Ungetüm, das doch fliegen kann. Wenigen Minuten zuvor erzählte mir Mululela, 24, Trainee aus Kamerun, dass sich das Leben in Deutschland doch sehr vom Leben in Afrika unterscheide. In ihrem Dorf, zum Beispiel, spaziere sie einfach los, wenn sie an jemanden denken würde, um diesen Menschen sofort zu besuchen. In Deutschland müsse man zunächst telefonieren, fragen, sich ankündigen. Überhaupt müsse man hier für alles, aber auch wirklich alles bezahlen, nur das Wasser in den Trinkbrunnen scheine kostenlos zu sein und die Luft zum atmen. Ganz sicher sei sie sich in dieser Sache aber nicht! — stop
mr. blankfeins schweigen
bamako : 6.45 — In der 37. Minute einer Filmdokumentation, die von den Strukturen der Goldman Sachs Bank erzählt, ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges. Lloyd Blankfein, Vorstandsvorsitzender genau dieser Bank, wurde in einem Fernsehinterview befragt. Ein äußerst scharfzüngiger Redner mit heller Stimme, erkundigte sich Mr. Blankfine zunächst bei dem Moderator der Sendung, wie oft er ihn, Blankfine, im Fernsehen gesehen habe? Nie! Wissen Sie was. Das war vermutlich ein Fehler. Wir müssen uns jetzt bemühen, den Leuten zu erklären was wir tun. Sofort spitzte sich die Lage zu. Der Moderator der Sendung, der Mr. Blankfine unmittelbar gegenüber saß, parierte mittels einer weiteren Frage, die der Banker so nicht erwartet haben mag. Er formulierte präzise: Ist es vorgekommen, dass ihre Investment-Berater einem Kunden Anlagen verkauft haben, gegen die Goldman zur selben Zeit spekulierte? Nun geschah folgendes: Mr. Blankfines Augen weiteten sich, er senkte seinen Blick, setzte zu einer Antwort an, ein Geräusch war zu hören, der Teil eines nicht erkennbaren Wortes, sein Mund stand leicht offen, er schwieg, er schwieg sehr gründlich, sieben Sekunden lang, für eine üblicherweise sehr schnell sprechende und denkende Person, die sich unter öffentlicher Beobachtung weiß, ein bedeutender Zeitraum. Ich habe diese Sentenz des Gespräches mehrfach vor und zurück gespielt, da mir Lloyd Blankfine in jenem Moment eine außerordentlich authentische Persönlichkeit gewesen zu sein schien. Ein Mensch, der nach einzelnen Wörtern suchte, nach einem angemessenen Gedanken in seinem Kopf, weil sich bislang dort Sätze formulierten, die so aufrichtig waren, dass Mr. Blankfine sie nicht aussprechen durfte, um nicht für immer Schaden zu nehmen, er selbst nicht und seine Bank nicht. Ich beobachtete sein Gesicht. Dreifach war Lidschlag zu erkennen, seine Augäpfel machten den Eindruck, als würden sie wachsen unter dem Druck eines Blickes, der nicht entscheiden konnte, ob er sich nach innen oder nach außen richten sollte, während ungeheuere, vorbewusste Rechenleistung entfesselt war, um vielleicht doch einen Ausweg zu finden. — stop
ohrentraum
bamako : 5.55 — War im Restaurant. Dort schritt die Zeit sehr viel schneller als üblicherweise voran. Jeder eintretende Besucher wurde gewarnt, ungefähr so: Guten Abend mein Herr, wir wollen sie darauf hinweisen, dass ein Abend bei uns sie um etwa ein Jahr älter werden lässt. Tatsächlich flackerte im Saal das Licht aufgeregt, das waren vielleicht Dämmerungen, Nächte und Tage. Auch mein Herz schlug wie verrückt und das Blut zischte durch meine Blutgefäße. Ich verspeiste 250 Gramm gerösteter menschlicher Ohren in einer sanften Zitronensauce. Als ich erwachte, hörte ich meine eigene Stimme, die etwas sagte, das ich nicht verstand. Ich machte Kaffee und ich notierte meinen Traum unverzüglich. Über die Notiz setzte ich das Wort: Ohrentraum. — stop
brummkreisel DOYU 66Y
bamako : 18.55 — Ich habe über das Problem lebender Brummkreisel nachgedacht. Das ist nämlich so, dass ein Lebewesen, das einem Brummkreisel ähnlich sein würde, über zwei Abteilungen verfügen sollte, über eine der Erde verbundene Fuß — oder Basisabteilung einerseits, sowie über eine sich drehende, kreisende Einheit andererseits, die sich in den Momenten der Karussellfahrt in Freiheit, also unabhängig von dem geerdeten Teil des Brummkreiselwesen bewegen müsste und doch eindeutig zu ihm gehören würde. Demzufolge würde die kreisende Abteilung dieses Wunschwesens nach Ende ihrer rasenden Fahrt zu sich selbst zurückkehren, das heißt, sich mit der wartenden Fußabteilung in organischem Sinne wieder vereinen. Eigentlich ist das insgesamt nicht schwer zu denken. Ein Gefäß, anstatt eines Kopfes, könnte auf den Schultern der Basisabteilung existieren, eine Fassung, in welcher sich die untere Spitze des wirbelnden Körperteiles frei drehend bewegen würde. In diesem Gefäß sollten sich Öle befinden, die dem menschlichen Liquor ähnlich sind. Nach einer Phase der Rotation würden sich in dieser Flüssigkeit Blutgefäße und Nervenbahnen, die zuvor gelöst worden waren, von unten nach oben erneut miteinander in Verbindung bringen, so dass das Wesen bald wieder zu einer vollständigen Person geworden sein wird. Augen und Ohren, so stelle ich mir vor, sollten sich in der unteren Abteilung befinden, auch Füße zum Stehen und Wandern und alle Organe, die für einen gesunden Stoffwechsel notwendig sind. Ja, so könnte das möglich sein, das ist denkbar, das macht Knoten im Kopf. — stop
windrad
bamako : 8.05 — Auf meiner letzten Ruhestätte könnt einmal ein Windrad stehn. Das Rad würde, in dem es sich drehte, Strom erzeugen. Mittels eines Kabels würde dieser Strom zu einer Batterie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräftige Winde ausreichende Mengen von Strom gesammelt sein werden, würde sich ein Musikabspielgerät in Bewegung setzen, um etwas Charlie Parker oder Benny Goodman zu spielen. Eine reizende Vorstellung. Ob man vom Musikgeräusch etwas vernehmen könnte an der Erdoberfläche? Wie würden Eichhörnchen reagieren? Ob sie sich vielleicht um die Musik, die aus dem Boden kommt, versammeln werden? All diese Fragen. — stop