delta : 0.15 — Einmal, an einem Spätsommernachmittag, erzählte mir eine ältere Frau von einer seltsamen Erfahrung, die sie gemacht hatte, nachdem ihre Schwester unerwartet gestorben war. Zwei Jahre lag dieser schwere Verlust damals zurück. Die Schwester hatte sich kurz nach ihrem Tod, auf eigenen Wunsch hin, in ein anatomisches Präparat verwandelt. Ich erinnere mich an den wilden Blick der Frau, an ihre zierliche Gestalt, wie sie vor mir steht und vom Trauern und vom Warten berichtet, das heißt, genauer, davon berichtet, dass sie um ihre Schwester bisher nicht trauern konnte, so wie sie sich das Trauern gewünscht hatte, weil der Körper ihrer Schwester gegenwärtig, noch in dieser Welt gewesen sei. Manchmal habe sie daran gedacht, ihre geliebte Schwester zu besuchen, sie noch einmal zu berühren. Wir standen vor einer Kirche. Um uns herum fröhliche, von Last und Anforderung befreite Studenten. Sie hatten ihren anatomischen Präparierkurs an diesem Tag abgeschlossen, und den Menschen, die ihre Körper spendeten, betend gedankt. Auch die alte Frau schien nun leichter geworden zu sein, entschlossen. — Wie sie sagt, sie könne ihre Schwester jetzt endlich beerdigen. — Und wie sie kurz darauf durch die Menge junger Menschen verschwindet, ein Wölkchen schlohweißen Haares. — stop
Aus der Wörtersammlung: delta
synchron
delta : 22.26 — Blühende Stille
update
romeo : 0.05 — Vor wenigen Minuten hatte ich das Licht über meinem Schreibtisch ausgeschaltet und etwas Lebenszeit in Dunkelheit verbracht. Ich will Ihnen rasch erzählen, warum ich so gehandelt habe. Ich war nämlich spazieren gewesen stadtwärts unter Menschen in Warenhäusern und auf einem Weihnachtsmarkt, weil ich nachsehen wollte, ob sich in dieser Welt, die wir bewohnen, etwas geändert haben könnte, da doch vor wenigen Stunden durch Unterlassung entschieden worden ist, dass Bangladesch, dass das Gangesdelta in den Golf von Bengalen sinken wird. Ich dachte, das eine oder das andere sollte doch spürbar, sichtbar, fühlbar werden, ein wenig Unruhe, ein leises Klappern der Zähne vielleicht. Aber nein, alles Bestens, alles im Lot. Und als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, war da plötzlich ein starker Eindruck von Unwirklichkeit, das alles und ich selbst könnte reine Erfindung sein. Ich löschte das Licht über dem Schreibtisch und wartete. Und während ich so wartete, lauschte ich den Stimmen der Tiefseeelefanten, einem Orchester zartester Rüsselblumen, wie sie auf hoher See den Himmel lockten. Und als ich das Licht wieder eingeschaltet hatte, saß ich dann noch immer vor dem Schreibtisch, die Hände gefaltet. — Schnee fällt. stop. Langsam. stop. Leise. stop. – Frohe Weihnachten und ein gutes, ein nachdenkliches, ein glückliches Jahr 2010! — stop
engelgeschichte für geraldine
delta : 0.03 — Vor langer Zeit habe ich eine kleine Geschichte geschrieben, die von Engeln erzählt. Ich kann nicht genau sagen warum, ich habe diese Geschichte bereits zweimal aus dem Licht der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie aber nie gelöscht. Als ich gestern nun über die Kindheit eines Mädchens nachdachte, das in einer vornehmen Gegend Manhattans aufgewachsen ist, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich habe nach ihr gesucht. Ich werde sie jetzt für Geraldine an dieser Stelle endgültig notieren. Liebe Geraldine, wo auch immer Du sein magst, diese folgende Geschichte gehört Dir. Hör zu: Einmal, immer nur einmal im Jahr, kommen die Engel der Stadt New York in einer Kirche zur großen Versammlung geflogen. Die steinernen Engel kommen von den Friedhöfen her, die hölzernen Engel aus den Gartenlauben, kostbare Porzellanengel öffnen ihre Vitrinen und segeln über den Hudson durch die kühle Abendluft. Auch von den Tapeten steigen Engel auf, verlassen ihre Postkartenzimmer, Bücher und Zeilen, in welchen sie vermerkt worden sind Zeichen für Zeichen. Sie steigen aus den Träumen der Kinder, der Mütter, der Väter, wie Menschen aus Straßenbahnen steigen sie aus. Sobald sie Luft unter ihren Schwingen fühlen, werfen sie ihre Goldstaubmäntel von den Schultern, springen aus Badewannen, stark schon unterm Wasser geschmolzen, löschen das Licht, das auf ihren Köpfen flackert, umflattern noch einmal kurz die Häupter der steinernen Marien, auf deren Händen sie um ein weiteres Jahr gealtert sind. Es ist kaum richtig Nacht geworden, da kann man es in den Kellern schon ächzen hören, wenn sie sich mit vereinten Kräften gegen die schweren Deckel der Truhen stemmen, in denen sie aufgehoben sind von Fest zu Fest. Man muss sich, sofern man ein Mensch ist, nur im Dezember in Manhattan, Queens oder Brooklyn am richtigen Tag zur richtigen Stunde vor einen Engel setzen. Sobald es dunkel geworden ist, setzt man sich hin und wartet. Man wartet nicht lange, man wartet eine Stunde oder zwei und plötzlich ist der Engel fortgeflogen. Nach Süden ist er geflogen, oder nach Norden, auf kürzestem Weg vorbei an bebenden Vögeln zur größten Kirche der Stadt. Dort nimmt der Engel unter Engeln Platz. Überall sitzen sie inzwischen bis unter die Gewölbe, auf der Kanzel, den Betstühlen, den heiligen Figuren, auch auf den Mosaiken des Bodens, den Chören, dem Altar, den Verstrebungen der Kreuze, den Knochenfiguren, ja, auf Christus selbst haben sie Platz genommen. Sie sind alle sehr leicht. Im Grunde wiegen sie nichts. Sie sind von der Schwere eines Wunsches und sprechen in einer von keinem Forscher erschlossenen Sprache. Fröhliche Engelgestalten, jawohl. Sie lachen, das Lachen der Engel, wie tolle Fledermäuse lachen sie, so hell. Dann, kurz nach Mitternacht ist’s geworden, kommt einer der drei großen Engel, immer kommt nur einer von ihnen und immer kommt er zu spät, wurde aufgehalten im Auftrag befindlich, einmal ist es Gabriel, dann Raphael, dann Michael. Sehr langsam, ein Künstler des Fliegens, schwebt er herein, nimmt Platz auf den Stufen, schlägt die Beine übereinander und leuchtet. Ruhig sieht er unter die Versammlung, während er seine gewaltigen Schwingen hinter dem Rücken faltet. Jetzt werden die kleinen Engel andächtig und still. Vereinzelt kommt noch ein vergesslicher Kundschafter durchs Kirchenschiff gerast, da und dort trudelt ein betrunkenes Federwesen von höherer Stelle. Ist dann alles schön geordnet, erhebt der Erzengel seine Stimme. Es ist ein Singen, ein wunderbarer Altsopran, eine unerhört schöne Sprache. Er sagt: Guten Abend, Engel.
nachricht
delta : 0.02 — Jede 6. Sekunde stirbt auf dieser Welt an Nahrungsmangel ein Kind. — Ist das eine Nachricht? — stop
manhatten / hippodrom
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : HIPPODROM
Liebe Violet! Liebe Daisy! Ich grüße Euch ganz herzlich. Ich hoffe, Ihr seid fröhlich! War gestern lange spazieren, folgte dem Duftfaden der Kohleöfen durch die Stadt. Und wie ich so ging, dachte ich an Euch, weil ich wieder einmal Fotografien betrachtet hatte, die Euer Lachen zeigen, eine Freude, die mir so wirklich zu sein scheint, obwohl ich manchmal denke, dass ihr doch unglücklich gewesen sein könntet, genau in dem Moment unglücklich, als Euer gesammeltes Licht von einem Fotoapparat eingefangen wurde. Vor wenigen Tagen, das will ich Euch rasch erzählen, ehe ich wieder an meine nächtliche Arbeit gehen werde, habe ich gelesen von Euerem Engagement 1924 in New York. Wie nur konnte man Euch das antun! Eine Arena, groß wie ein Baseballstadion, das Hippodrom, und dort ihr zwei kleinen Wunderwesen im blendenden Licht der Scheinwerfer. Euer Zittern, Euer Beben. Bald einmal werde ich Manhattan besuchen. Ich habe den Ort des Vergehens an Euch in meinem Spazierplan vermerkt. Ich werde, versprochen, die Gegend für Euch fotografieren. Eine aufregende Geschichte, ich bin mir sicher, vom Verschwinden, wird sich wie von selbst notieren. — Euer Louis.
gesendet am
7.11.2009
0.05 MEZ
1228 zeichen
liu xiaobo und liu xia
delta : 0.02 – Mitternacht vorüber. Gleich, in wenigen Minuten, werde ich das Haus verlassen und ein wenig spazieren gehen, rüber zu den Wächtern, die vor dem Frankfurter Messeturm Stände antiquarischer Bücher umsorgen. Vielleicht haben sie schon offenes Feuer in einer Tonne entzündet. — Wie gut die Luft heut riecht! — Gebratene Tauben segeln durch die Nacht und die Straßenbahnen fahren jenseits der Gleise, wie sie wollen. Es schneit, aber es schneit rückwärts, der Schnee fällt zum Himmel hinauf. Eine gute Stunde ist das, Schritt für Schritt im Kreis herumzulaufen und an jene Menschen zu denken, die nicht anwesend sind, weil sie nicht anwesend sein können, weil sie verhaftet oder weil sie in ihren Häusern arretiert worden sind. — stop
schneelicht
delta : 0.14 – Von einer Reise himmelwärts geträumt. Suchte auf Bildschirm nach Fährschiffverbindungen Athen – Santorini und stieß auf eine seltsame Offerte. Der Text zu einer Fotografie, die eine Formation wilder Gewitterwolken zeigte, lautete in etwa so: Tagesreise ins Jenseits. Buchen Sie noch heute. Flüge ab London, Madrid, München, auch an Sonntagen, stündlich. Unverzüglich flog ich los. Eine äußerst kurze Reise, ein Wimpernschlag nur und das Flugzeug landete in einem schneeweißen Raum ohne jede Begrenzung. Ich erinnere mich, dass ich eine Flugbegleiterin, die nahe der Gangway wartete, fragte, ob es an diesem Ort jemals dunkel werden würde, ich könne im Hellen nicht schlafen. Sie antwortete lächelnd: Wenn Sie hier einmal für immer angekommen sein werden, müssen sie nie wieder schlafen. – Kurz nach Mitternacht. Ein Buch Julio Llamazares’ liegt vor mir auf dem Schreibtisch. Ich habe das Buch geöffnet, um nach einem zärtlichen Satz zu sehen. Der Satz ist auf Seite 4 einer feinen Sammlung erzählender Stummfilmszenen zu finden. Er geht so: Für meine Mutter, die schon Schnee ist. — stop
erfindung
delta : 17.10 – Schirmchen von Haut, die sich in dampfenden Nächten lindernd über lesende Augen entfalten. Transparent. Und kühl. Nach Art der Schneepapiere. Irislamellen. — stop.