sierra : 15.08 — Ich spazierte im Park. Und wie ich so spazierte, dachte ich, vielleicht bist Du schon 5105 Male durch diesen Park spaziert, warum nicht. Da entdeckte ich plötzlich, dass jeder der Bäume des Parks zwei Meter über dem Boden ein Schildchen trug an seinem Stamm. Zunächst entdeckte ich ein Schildchen am rauen Stamm einer Spottnuss. Auf dem Schildchen waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen verzeichnet, das könnte ein Code sein, dachte ich, dann ging ich weiter, um an dem Stamm einer Eibe ein ähnliches Schildchen zu bemerken. Wieder waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen auf grünem Hintergrund aufgetragen. Eine Stunde lang betrachtete ich Stämme der Bäume des Parks, Stämme der Rotbuchen, Birken, Zwergnusskastanien, Erlen, Eichen und eines gewöhnlichen Trompetenbaums, sie alle waren mit einem Schildchen von Metall versehen, Ziffern, einem Schatten demzufolge, einem besonderen Blick. Vermutlich, dachte ich, wird irgendwo ein Buch oder ein digitales Verzeichnis existieren, in dem die Existenz der Bäume festgehalten ist, ihre Namen möglicherweise und ihr Alter, vielleicht auch, wie sich die Bäume benehmen im Winter und im Sommer. Zuletzt dachte ich, dass ich eventuell durch ein Museum spaziere. Das denke ich noch immer. Winter ist geworden. — stop
Aus der Wörtersammlung: demzufolge
luftraum
sierra : 0.05 — Ich erinnere mich: Julio Cortázar erzählt in seinem Kaleidoskop Reise um den Tag in 80 Welten eine Geschichte, in welcher eine Fliege von zentraler Bedeutung ist. Diese Fliege soll auf dem Rücken geflogen sein, als der Autor sie entdeckte, Augen nach unten demzufolge, Beinchen nach oben, ein für Fliegentiere nicht übliches Verhalten. Natürlich musste diese seltsame Fliege unverzüglich näher betrachtet werden. Julio Cortázar erfand deshalb ein Zimmer, in welchem die Fliege fortan existierte, und einen Mann, der die Fliege zu fangen suchte. Wie zu erwarten gewesen, war der Mann in seiner Beweglichkeit viel zu langsam, um die Fliege behutsam, das heißt, ohne Beschädigung, erhaschen zu können. Er bemühte sich redlich, aber die Fliege schien jede seiner Bewegungen vorherzusehen. Nach einer Weile machte sich der Mann daran, das Zimmer, in dem er sich mit der Fliege aufhielt, zu verkleinern. Er faltete Papiere zu Schachteln, die den Flugraum der besonderen Fliege schrittweise derart begrenzten, dass sie sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Fliege und Fänger waren in einem lichtlosen Raum innerhalb eines Schachtelzimmers gefangen, daran erinnere ich mich noch gut, oder auch nicht, weil ich diese Geschichte bereits vor langer Zeit gelesen habe, immer wieder von ihr erzählte, weshalb sich die Geschichte verändert, von der ursprünglichen Geschichte entfernt haben könnte. Das Buch, in dem sie sich aufhält, befindet sich zurzeit immer noch außer Reichweite. Weil ich diese Geschichte bereits einmal festgehalten hatte, ist sie noch dieselbe Geschichte geblieben, die Geschichte einer erinnerten Geschichte. — stop
redentore
nordpol : 16.58 UTC — Von der Wasserbusstation Redentore aus ist heute das Schwesterchen Zitelle nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mittels gewöhnlicher Ohren die Luft betastet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudecca, ein leichter Wind weht von Ost. Es ist vielleicht deshalb so still, wo es doch nicht wirklich still sein kann, weil die Luft langsam westwärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stelle in die Tiefe begeben würde, ein Fisch werden, ein Fisch sein, wenn man ins Wasser tauchte, könnte man Zitelle ganz sicher weithin singen hören, ihr Pfeifen und Zetern tagein und tagaus, dass es eine wahre Freude ist, wie sie immer wieder kurz innehält, um zu lauschen, ob ihr jemand antwortet, vielleicht von Palanca her oder von den Giardini – Zwillingen, die sich immer wieder einmal melden, sobald die See stürmisch geworden ist. Es heißt, dieses Singen, Zetern, Jaulen der Wasserbusstationen sei weit ins offene Meer hinaus zuhören. Kein Wunder demzufolge, kein Wunder. – stop
in der straßenbahn
nordpol : 15.02 UTC — Folgendes. Wenn ich mich schreibend mit deutschen Menschen auseinandersetze, die überzeugt sind, afrikanische Menschen, die sich auf die Flucht nordwärts nach Europa begeben, seien selbst schuld, wenn sie im Meer ertrinken, man sollte Ihnen nicht helfen oder nur im Notfall, wenn jemand da ist, also wenn Hilfe unvermeidbar ist, wenn sie demzufolge nicht unsichtbar und ungehört zu ertrinken drohen, stelle ich mir immer wieder einmal vor, was diese Menschen an diesem schönen Sonntag wohl gefrühstückt haben? Ich frage mich, ob sie gut geschlafen haben und wie sie wohnen, ob sie glückliche Menschen oder eher unglückliche Menschen sind? Haben diese Menschen Kinder? Würde ich sie in einer Straßenbahn sitzend erkennen? Also sitze ich etwas später in einer Straßenbahn. Und plötzlich spüre ich einen Blick auf mir lasten, der nicht freundlich ist. — stop
winterherz
ginkgo : 15.08 — Nehmen wir einmal an, es existierten Menschen, die je über ein schlagendes, demzufolge ein aktives Herz verfügen, und außerdem über ein wartendes Herz, das ganz still im Brustkorb liegt, klein, gefaltet, ein Altersherz oder ein Winterherz. Von dieser Vorstellung wollte ich gestern einer Bekannten am Telefon erzählen, als unsere Verbindung plötzlich unterbrochen wurde. — Claude Lanzmann ist im Alter von 92 Jahren gestorben. — stop
verschwinden no 2
echo : 20.05 UTC — Manchmal, während ich hinter dem Rollstuhl meiner Mutter spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Ich sehe Schwalben über den Himmel huschen, ich sehe das Strohhütchen meiner Mutter auf ihrem Kopf, ich sehe ihre alten Hände, die miteinander ringen. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter gedankenlos sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und demselben Moment. Ich vergesse Schwalben, Rosenblüten, die Hände meiner Mutter, ihr Hütchen auf dem Kopf, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
vom gehör
romeo : 0.12 UTC — Ich stelle fest, ich habe zwei Ohren. Mit zwei Ohren schon bin ich zur Welt gekommen. Meine Ohren hörten demzufolge von der Welt, noch ehe ich angekommen war. Ich hörte von der Welt da draußen, und ich hörte, so wurde erzählt, das Herz meiner Mutter schlagen, das war nicht fern. — Erstaunlich. — stop
vor dem radio
himalaya : 18.55 UTC – Ich stelle mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen oder an welchen ich drehen könnte. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich könnte das Radio öffnen. Als ich das Radio öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik zu spielen beginnt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — stop
im aufzug
sierra : 22.01 UTC — Stellen Sie sich vor, ich war in einem Aufzug gewesen, der nicht weiterfuhr, weder nach oben noch nach unten, keinerlei Bewegung, eine eigentlich harmlose Geschichte, aber ich war nicht allein in dem Aufzug, wir waren zu fünft, zum Glück nur zu fünft, nicht etwa zu siebt oder zu acht, dann wäre wirklich Ernst geworden. Da waren also ich und vier weitere Personen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, Personen von der Art, von welchen man sagen könnte, dass sie nicht gerade freundliche Menschen sind. Ich würde sogar sagen, sie waren in ihrem Auftreten unhöfliche Wesen, ich kann das beurteilen, ich war der erste in dem Aufzug gewesen, alle weiteren vier Personen kamen etwas später hinzu, traten in die Aufzugkabine herein, ohne zu grüßen. Den ersten Herrn grüßte ich noch, aber bei dem zweiten Herrn war ich schon vorsichtig gewesen, ich grüßte ihn nicht, vielleicht wird der vierte Besucher des Aufzuges demzufolge gedacht haben, was sind das nur für unfreundliche Menschen an diesem Ort, weil wir drei, die vor ihm im Aufzug gewesen waren, uns bereits ärgerten, deshalb entsprechende Gesichter zeigten. Wir hatten kein Glück, so könnte man das vielleicht sagen, auch die Besucher vier und fünf waren keine Frohnaturen, sie traten herein, beobachteten, was da für Menschen sich im Aufzug befanden, und sagten sich vermutlich, wir werden schweigen, weil alle schweigen. Dann blieb der Aufzug also stehen, ohne dass sich eine Tür geöffnet haben würde, das Licht ging aus, auch die Anzeigen der Stockwerke, wir standen im Dunkeln. Unverzüglich holten wir unsere Diensttelefone aus den Taschen, es wurde Licht, fünf Gesichter, die beleuchtet waren, ängstliche Gesichter, weil wir ahnten, dass wir uns nicht mochten, dass wir unfreundliche Menschen waren, die vermuteten, dass sofort oder in Kürze etwas Schreckliches geschehen könnte. — stop
von kakteen
ulysses : 19.35 UTC — Einmal wollte ich einen Text notieren, der möglichst noch nie zuvor aufgeschrieben wurde. Ich wollte diesen Text in das Magazin einer Servermaschine transferieren, versehen mit einer allgemeinen Anweisung für Suchmaschinen, diesen Text nicht zu beachten. Ich plante demzufolge mittels einer Verlockung (Textköder) sowie einer Anweisung für entsprechende Verzeichnisse (.htaccess noindex) zu erproben, ob Suchmaschinen meinen Wunsch wahrnehmen und akzeptieren, oder ob sie meinen Wunsch wahrnehmen und sich ihm widersetzen werden. Ich notierte: marimba : 8.02 – Palmengarten. stop. Wüstenhaus. stop. Das feine Geräusch der Kakteen, sobald ich ihr Stachelhorn mit einem Pinsel, einem Mikadostäbchen, einem Finger berühre. Hell. stop. Federnd. stop. Propellernd. stop. Klänge, für die in meinem suchenden Wortgehör noch keine eigene Zeichenfolge zu finden ist. stop. stop. Die Stille beim Durchblättern eines feuchten Buches in der Mangrovenabteilung. stop. stop. Zweiter Versuch. — Ich könnte vom heutigen Tage an Suchmaschinen als Lebewesen betrachten, die über Wille, Lust und Laune gebieten. — stop