ginkgo : 2.33 UTC — Ich wählte meine eigene Telefonnummer, ich wollte mich in dieser Weise erkundigen, ob meine Wohnung noch existierte. Ich dachte, wenn meine Wohnung vielleicht unter Wasser stünde oder in Brand geraten sei, da wäre auch mein Telefon selbst schwer betroffen, demzufolge müsste, wenn mein Telefon sich mit einem langsamen Freizeichen melden würde, eine Aussage möglich sein wie diese in etwa: Weder Wasser, noch Feuer! Ich lauschte ein oder zwei Minuten jenem beruhigenden Tonzeichen, plötzlich aber meldete sich eine Stimme: Ja bitte? Das war nun meine eigene Stimme gewesen, die sich meldete und behauptete, gerade erst aufgewacht zu sein. Es ist noch Nacht, sagte meine Stimme, und ich sagte noch, Du hörst Dich an, als wäre ich es selbst, der sich meldete. Kann ich nur bestätigen, antwortete die Stimme, die meine Stimme zu sein schien, das machst Du sehr gut! Ist alles in Ordnung, fragte ich? Ich habe überlegt, ob vielleicht ein Brand ausgebrochen sein könnte wegen Vergesslichkeit, oder Wasser bis an die Decke wegen Vergesslichkeit. Einige Minuten lang sprachen wir noch über das Wetter, es regnete da und dort, und darüber, dass wir vielleicht nicht ganz wach gewesen waren, als wir telefonierten. — stop
Aus der Wörtersammlung: demzufolge
abend
ginkgo : 20.18 UTC — Man könnte sich vor eine Schreibmaschine setzen mit etwas Schokolade zur Seite und Wasser und Kaffee für ein oder zwei Tage Zeit, auch eine Ente könnte gegenwärtig sein, die bereits gebraten ist, und Brot und Reis. Weil die ausgedachte Schreibmaschine ohne jedes Papier notieren kann, muss man sich über Papiere keine Gedanken machen. Man beginnt zu schreiben. Man schreibt vielleicht zunächst nur ein Wort: Regen. Man schreibt das Wort Regen, weil in diesem Augenblick, da man zu schreiben beginnt, Regen vor den Fenstern vom Himmel fällt. Mit Regen könnte man beginnen, mit dem Wort Regen. Man schreibt also das Wort Regen, das unverzüglich auf dem Bildschirm erscheint. Es regnet. Ich höre, dass es regnet, das Geräusch des Regens, das mir vertraut ist, ein Geräusch, das ich als Kind bereits hörte, wie in diesem Augenblick. Kann mich nicht erinnern, wann es anfing zu regnen, vielleicht während ich noch überlegte, was ich notieren sollte, ein gütiger Regen, ein Regen, mit dem ich beginnen konnte. Wann lernte ich, was Regen ist? Wann hörte ich zum ersten Mal von dem Wort, das Regen bezeichnet? Was kann ich sagen über das Wort Regen. Wie lange Zeit müsste ich notieren in diesem meinem fortgeschrittenen Alter, um all das aufschreiben zu können, was ich weiß vom Regen? Wie viel Gramm? — Was weiss ich noch? — stop
#HongKongProtests
ulysses : 22.46 MESZ — Seit einigen Jahren, ich muss das schnell erzählen, kaufe ich immer wieder einmal ein digitales Buch, obwohl ich mir vorgenommen hatte, papierenen Büchern, die ich in die Hand zu nehmen vermag, treu zu bleiben, ihren Geräuschen und ihrem Duft. Nun ist das zunächst so gewesen, dass ich Romananfänge in der digitalen Sphäre zu sammeln begann. In meiner kleinen handlichen Schreibmaschine waren bald über eintausend Leseproben versammelt. Melvilles Erzählung Bartleby war der erste digitale Text gewesen, den ich zu mir holte. Etwas später folgten Dostojewskij, Auster, DeLillo, Humboldt, John Dos Passos. Plötzlich bemerkte ich, dass mir John Dos Passos’ Buchtext Manhattan Transfer fehlen würde, ich meine, dieser wundervolle Roman als wirkliches Buch, das in meinem Bücherregal stehen würde, sichtbar sein Rücken, dieses Buch habe ich gelesen. Auch Humboldt Ansichten der Natur würde fehlen und Austers Roman 4321. Ich ertappte mich bei der Überlegung, ein Stück Holz in mein Regal zu stellen in der ungefähren Größe des originalen papierenen Buches. Ich dachte, ich könnte das Stück Holz mit einem Buchrücken versehen, einer Kopie, ich könnte demzufolge, eine Instanz des digitalen Buches kreieren, die mir anzeigt, dass ich das Buch besitze, dass ich es gelesen habe oder bald einmal lesen könnte. Oder die Instanz eines Buches, das überhaupt noch als ein papierenes Buch zu schreiben wäre: #HongKongProtests — stop
radar
lima : 0.08 UTC — Man möchte einen Vorschlag bedenken, demzufolge Menschen, die von der Steppe her oder aus Städten kommend, zukünftig auf Bäumen leben werden, dringend zu optimieren sind, zum Beispiel, in dem man ihre Fähigkeiten, sich an Hölzern festzuhalten, durch kleinere körperliche Fortentwicklungen erweitern könnte, oder ihr Vermögen durch die Luft zu fliegen. Andere, zeitnah lebende Persönlichkeiten, sollten vielleicht mit einem filigranen Motor versehen werden, welcher Bereitschaft zu Mitgefühl erzeugen könnte. — stop
satellit
sierra : 15.08 UTC — Ich erzählte gestern wieder einmal, dass ich mir gerne vorstelle, wie es wäre, wenn ich über ein besonderes Auge verfügte, ein Auge nämlich, das ich meinem Kopf entnehmen und vor mich hin auf den Tisch ablegen könnte, ein lebendes Auge, ein Auge, mittels dem ich einerseits von meinem Kopf aus fröhlich in die Welt hinausschauen würde, andererseits ihm Freiheit des Raumes gewähren, ohne dass es sofort Schaden nehmen sollte, ein Augenwesen demzufolge, ein Augentier, mit einem selbstständigen Gehirn, mit einem Magen, Blutgefäßen, Ohren ( ich bin mir nicht sicher ), einem Mund und einem Verdauungsapparat, alles sehr klein und feinst gewirkt, eine Persönlichkeit von 7.5 Gramm Gewicht, die mich gern von einem Tisch her betrachten würde, diesen Mann mit fehlendem Auge, was nicht wirklich der Fall ist, weil das Auge, das fehlt, eigentlich anwesend ist, aber nicht dort, wo man es erwartet unweit der Nase, sondern längst auf dem Tisch. Stellt sich nun die Frage, was so ein Auge zu sich nehmen wollte, wie man es füttert, was und wie viel an einem der Lebenstage eines unabhängigen Augengeschöpfes getrunken werden sollte, und was in Etwa geschehen würde, wenn sich das Auge in ein weiteres Auge vernarrt? — stop
unter freiem himmel
sierra : 15.08 — Ich spazierte im Park. Und wie ich so spazierte, dachte ich, vielleicht bist Du schon 5105 Male durch diesen Park spaziert, warum nicht. Da entdeckte ich plötzlich, dass jeder der Bäume des Parks zwei Meter über dem Boden ein Schildchen trug an seinem Stamm. Zunächst entdeckte ich ein Schildchen am rauen Stamm einer Spottnuss. Auf dem Schildchen waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen verzeichnet, das könnte ein Code sein, dachte ich, dann ging ich weiter, um an dem Stamm einer Eibe ein ähnliches Schildchen zu bemerken. Wieder waren zwei Buchstaben und fünf Zahlen auf grünem Hintergrund aufgetragen. Eine Stunde lang betrachtete ich Stämme der Bäume des Parks, Stämme der Rotbuchen, Birken, Zwergnusskastanien, Erlen, Eichen, und eines gewöhnlichen Trompetenbaums, sie alle waren mit einem Schildchen von Metall versehen, Ziffern, einem Schatten demzufolge, einem besonderen Blick. Vermutlich, dachte ich, wird irgendwo ein Buch oder ein digitales Verzeichnis existieren, in dem die Existenz der Bäume festgehalten ist, ihre Namen möglicherweise und ihr Alter, vielleicht auch, wie sich die Bäume benehmen im Winter und im Sommer. Zuletzt dachte ich, dass ich eventuell durch ein Museum spaziere. Das denk ich noch immer. Winter ist geworden. — stop
luftraum
sierra : 0.05 — Ich erinnere mich: Julio Cortázar erzählt in seinem Kaleidoskop Reise um den Tag in 80 Welten eine Geschichte, in welcher eine Fliege von zentraler Bedeutung ist. Diese Fliege soll auf dem Rücken geflogen sein, als der Autor sie entdeckte, Augen nach unten demzufolge, Beinchen nach oben, ein für Fliegentiere nicht übliches Verhalten. Natürlich musste diese seltsame Fliege unverzüglich näher betrachtet werden. Julio Cortázar erfand deshalb ein Zimmer, in welchem die Fliege fortan existierte, und einen Mann, der die Fliege zu fangen suchte. Wie zu erwarten gewesen, war der Mann in seiner Beweglichkeit viel zu langsam, um die Fliege behutsam, das heißt, ohne Beschädigung, erhaschen zu können. Er bemühte sich redlich, aber die Fliege schien jede seiner Bewegungen vorherzusehen. Nach einer Weile machte sich der Mann daran, das Zimmer, in dem er sich mit der Fliege aufhielt, zu verkleinern. Er faltete Papiere zu Schachteln, die den Flugraum der besonderen Fliege nach und nach derart begrenzten, dass sie sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Fliege und Fänger waren in einem lichtlosen Raum innerhalb eines Schachtelzimmers gefangen, daran erinnere ich mich noch gut, oder auch nicht, weil ich diese Geschichte bereits vor langer Zeit gelesen habe, immer wieder von ihr erzählte, weshalb sich die Geschichte verändert, von der ursprünglichen Geschichte entfernt haben könnte. Das Buch, in dem sie sich aufhält, befindet sich zur Zeit immer noch außer Reichweite. Weil ich diese Geschichte bereits einmal festgehalten hatte, ist sie noch die selbe Geschichte geblieben, die Geschichte einer erinnerten Geschichte. — stop
redentore
nordpol : 16.58 UTC — Von der Wasserbusstation Redentore aus ist heute das Schwesterchen Zitelle nicht zu hören, nicht wenn man ein Mensch ist, nicht wenn man mittels gewöhnlicher Ohren die Luft betastet. Es ist warm und feucht über dem Kanal vor Giudecca, ein leichter Wind weht von Ost. Es ist vielleicht deshalb so still, wo es doch nicht wirklich still sein kann, weil die Luft langsam westwärts fließt. Wenn man sich nun aber auf der Stelle in die Tiefe begeben würde, ein Fisch werden, ein Fisch sein, wenn man ins Wasser tauchte, könnte man Zitelle ganz sicher weithin singen hören, ihr Pfeifen und Zetern tagein und tagaus, dass es eine wahre Freude ist, wie sie immer wieder kurz innehält, um zu lauschen, ob ihr jemand antwortet vielleicht von Palanca her oder von den Giardini – Zwillingen, die sich immer wieder einmal melden, sobald die See stürmisch geworden ist. Es heißt, dieses Singen, Zetern, Jaulen der Wasserbusstationen sei weit ins offene Meer hinaus zu hören. Kein Wunder demzufolge, kein Wunder. – stop
in der straßenbahn
nordpol : 15.02 UTC — Folgendes. Wenn ich mich schreibend mit deutschen Menschen auseinandersetze, die der Ansicht sind, afrikanische Menschen, die sich auf die Flucht nordwärts nach Europa begeben, seien selbst schuld, wenn sie im Meer ertrinken, man sollte Ihnen nicht helfen oder nur im Notfall, wenn jemand da ist, also wenn Hilfe unvermeidbar ist, wenn sie demzufolge nicht unsichtbar und ungehört zu ertrinken drohen, stelle ich mir immer wieder einmal vor, was diese Menschen an diesem schönen Sonntag wohl gefrühstückt haben? Ich frage mich, ob sie gut geschlafen haben und wie sie wohnen, ob sie glückliche Menschen oder eher unglückliche Menschen sind? Haben diese Menschen Kinder? Würde ich sie in einer Straßenbahn sitzend erkennen? Also sitze ich etwas später in einer Straßenbahn. Und plötzlich spüre ich einen Blick auf mir lasten, der nicht freundlich ist. — stop
winterherz
ginkgo : 15.08 — Nehmen wir einmal an, es existierten Menschen, die je über ein schlagendes, demzufolge ein aktives Herz verfügen, und außerdem über ein wartendes Herz, das ganz still im Brustkorb liegt, klein, gefaltet, ein Altersherz oder ein Winterherz. Von dieser Vorstellung wollte ich gestern einer Bekannten am Telefon erzählen als unsere Verbindung plötzlich unterbrochen wurde. — Claude Lanzmann ist im Alter von 92 Jahren gestorben. — stop