ginkgo : 15.08 — Nehmen wir einmal an, es existierten Menschen, die je über ein schlagendes, demzufolge ein aktives Herz verfügen, und außerdem über ein wartendes Herz, das ganz still im Brustkorb liegt, klein, gefaltet, ein Altersherz oder ein Winterherz. Von dieser Vorstellung wollte ich gestern einer Bekannten am Telefon erzählen als unsere Verbindung plötzlich unterbrochen wurde. — Claude Lanzmann ist im Alter von 92 Jahren gestorben. — stop
Aus der Wörtersammlung: demzufolge
verschwinden no 2
echo : 20.05 UTC — Manchmal, während ich hinter dem Rollstuhl meiner Mutter spaziere, sehe ich etwas, und dann sehe ich wieder nichts für längere Zeit. Ich sehe Schwalben über den Himmel huschen, ich sehe das Strohhütchen meiner Mutter auf ihrem Kopf, ich sehe ihre alten Hände, die miteinander ringen. Wenn ich etwas wirklich sehe, also erkenne, kann ich es formulieren. Ich sehe demzufolge mit Wörtern. Wenn ich ohne Wörter gedankenlos sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und vergesse in ein und dem selben Moment. Ich vergesse Schwalben, Rosenblüten, die Hände meiner Mutter, ihr Hütchen auf dem Kopf, den Himmel über mir, Bäume, das Licht in den Pfützen, und schon habe ich meine Füße und kurz darauf mich insgesamt vergessen. – stop
vom gehör
romeo : 0.12 UTC — Ich stelle fest, ich habe zwei Ohren. Mit zwei Ohren schon bin ich zur Welt gekommen. Meine Ohren hörten demzufolge von der Welt, noch ehe ich angekommen war. Ich hörte von der Welt da draußen, und ich hörte, so wurde erzählt, das Herz meiner Mutter schlagen, das war nicht fern. — Erstaunlich. — stop
vor dem radio
himalaya : 18.55 UTC – Ich stelle mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen einerseits und an welchen ich drehen kann andererseits. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich kann das Radio öffnen. Als ich es öffne, entdecke ich weitere sehr kleine Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik spielt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — stop
im aufzug
sierra : 22.01 UTC — Stellen Sie sich vor, ich war in einem Aufzug gewesen, der nicht weiterfuhr, weder nach oben noch nach unten, keinerlei Bewegung, eine eigentlich harmlose Geschichte, aber ich war nicht allein in dem Aufzug, wir waren zu fünft, zum Glück nur zu fünft, nicht etwa zu siebt oder zu acht, dann wäre wirklich Ernst geworden. Da waren also ich und vier weitere Personen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, Personen von der Art, von welchen man sagen könnte, dass sie nicht gerade freundliche Menschen sind. Ich würde sogar sagen, sie waren in ihrem Auftreten unhöfliche Wesen, ich kann das beurteilen, ich war der erste in dem Aufzug gewesen, alle weiteren vier Personen kamen etwas später hinzu, traten in die Aufzugkabine herein, ohne zu grüßen. Den ersten Herrn grüßte ich noch, aber bei dem zweiten Herrn war ich schon vorsichtig gewesen, ich grüßte ihn nicht, vielleicht wird der vierte Besucher des Aufzuges demzufolge gedacht haben, was sind das nur für unfreundliche Menschen an diesem Ort, weil wir drei, die vor ihm im Aufzug gewesen waren, uns bereits ärgerten, deshalb entsprechende Gesichter zeigten. Wir hatten kein Glück, so könnte man das vielleicht sagen, auch die Besucher vier und fünf waren keine Frohnaturen, sie traten herein, beobachteten, was da für Menschen sich im Aufzug befanden, und sagten sich vermutlich, wir werden schweigen, weil alle schweigen. Dann blieb der Aufzug also stehen, ohne dass sich eine Tür geöffnet haben würde, das Licht ging aus, auch die Anzeigen der Stockwerke, wir standen im Dunkeln. Unverzüglich holten wir unsere Diensttelefone aus den Taschen, es wurde Licht, fünf Gesichter, die beleuchtet waren, ängstliche Gesichter, weil wir ahnten, dass wir uns nicht mochten, dass wir unfreundliche Menschen waren, die vermuteten, dass sofort oder in Kürze etwas Schreckliches geschehen könnte. — stop
von kakteen
ulysses : 19.35 UTC — Einmal wollte ich einen Text notieren, der möglichst noch nie zuvor aufgeschrieben wurde. Ich wollte diesen Text in das Magazin einer Servermaschine transferieren, versehen mit einer allgemeinen Anweisung für Suchmaschinen, diesen Text nicht zu beachten. Ich plante demzufolge mittels einer Verlockung ( Textköder ) sowie einer Anweisung für entsprechende Verzeichnisse ( .htaccess noindex ) zu erproben, ob Suchmaschinen meinen Wunsch wahrnehmen und akzeptieren, oder ob sie meinen Wunsch wahrnehmen und sich ihm widersetzen werden. Ich notierte: marimba : 8.02 – Palmengarten. stop. Wüstenhaus. stop. Das feine Geräusch der Kakteen, sobald ich ihr Stachelhorn mit einem Pinsel, einem Mikadostäbchen, einem Finger berühre. Hell. stop. Federnd. stop. Propellernd. stop. Klänge, für die in meinem suchenden Wortgehör noch keine eigene Zeichenfolge zu finden ist. stop. stop. Die Stille beim Durchblättern eines feuchten Buches in der Mangrovenabteilung. stop. stop. Zweiter Versuch. — Ich könnte vom heutigen Tage an Suchmaschinen als Lebewesen betrachten, die über Wille, Lust und Laune gebieten. — stop
am telefon
marimba : 17.55 UTC — Plötzlich kracht es. Sie muss während unseres Gespräches in irgendetwas gebissen haben. Ja, sagt sie, ich habe furchtbaren Hunger, war den ganzen Tag in irgendwelchen Sitzungen, ich muss etwas essen, ich habe gerade in einen Apfel gebissen. — Das war wohl ein sehr fester Apfel, bemerke ich. Willst Du mal eine Banane hören, fragt sie? Das Meer vor Thessaloniki sei unruhig an diesem Tag, die Nächte sind wärmer geworden, auf den Straßen und Plätzen, in den Parks campierten noch immer tausende Flüchtlinge. Ich stelle mir vor wie L. mit lächelndem und doch ernstem Gesicht Obst verteilt, Brote, Tee, dann wieder in irgendwelche Sitzungen eilt, um hungrig zu werden. Bananen, das weiß ich nun mit Sicherheit zu sagen, sind kaum zu hören über eine Telefonverbindung hin. Was man von einer Banane in dieser Situation zu hören vermag, ist allein die Vorstellung, dass gerade eben in größerer Entfernung ein Mensch in eine Banane beißt. Ich höre demzufolge ein vorgestelltes Geräusch, weshalb ich sagen kann, dass die Vorstellungskraft wirkungsvoll sein kann wie ein Mikrophon oder wie eine Lupe. — Das war gestern. Heute ist es kurz vor sechs Uhr. Die Luft ist warm und feucht. Noch zu tun: Lektüre — Italo Calvino Herr Palomar. Nichts weiter. — stop
luftcode
bamako : 23.55 UTC — Einmal, es war zu ihrem 88. Geburtstag gewesen, habe ich N. gefragt, ob ich erzählen dürfe, dass sie ein elektronisches Notizbuch führe, in welchem sie jeden Tag einige Sätze notiert, die nur für sie selbst bestimmt seien, Gedanken, die kein anderer Mensch als sie selbst jemals lesen wird, Wörter demzufolge, mit welchen sie kein Geld verdiene, geheime Geschichten, aufgeschrieben in der Art und Weise einer im Gebirge spazierenden Sängerin, die vor sich hin summt, die sich selbst zuhört oder auch nicht, bedingungslos in diesen Momenten sich nahe, Code ohne Absicht mit Sorgfalt verschlüsselt. — Es ist Samstag. Beobachtete vor dem nächtlichen Himmel die erste Fledermaus des Jahres. — stop
bbc
alpha : 15.22 UTC — Mein Freund Samuel ist ein Freund, mit dem ich sehr gerne spreche, weil ich immer wieder beobachte, dass Wörter oder Sätze, die ich in dem Glauben verwende, sie seien für alle menschlichen Wesen gleichermaßen gültig, in unserer gemeinsamen Welt nicht existieren. Selbst die beiläufige Betrachtung eines Fernsehbildschirms provoziert Diskussionen. Wir sitzen, es ist später Abend, in einem Café am Flughafen. Die BBC zeigt Ausschnitte einer Pressekonferenz des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in einem Loop. Wiederholt demzufolge hören und sehen wir wie der 45. Präsident eine farbige Journalistin beschimpft, die ihm eine sachliche Frage stellte. Ich sage zu meinem Freund, schau, hör zu, er beschimpft diese Frau. Nach fünfzehn Minuten, die Szene der Beschimpfung war dreimal wiedergekehrt, sagt mein Freund mit trockener Stimme: Das ist nicht Wirklichkeit, das ist eine Erfindung des Fernsehens. — stop
manhattan, 5th avenue no 45
himalaya : 15.15 UTC — Vor einigen Wochen hörte ich, das New Yorker Wohngebäude eines wohlhabenden Mannes in der 5th Avenue sei nicht etwa 68, sondern in Wirklichkeit, also mit bloßem Auge zählbar, 58 Stockwerke hoch. Ich dachte, der wohlhabende Besitzer des Hauses könnte vielleicht in mittlerer Höhenlage seines Gebäudes äußerst flache, kaum sichtbare Stockwerke errichtet haben. Kurz darauf las ich, der wohlhabende Mann habe seinem Gebäude tatsächlich zehn nicht existierende Stockwerke mittels Sprache hinzugefügt, demzufolge erfunden. Ich las weiterhin, dass der wohlhabende Mann selbst diesen Vorgang geistiger Erhöhung seines Bauwerkes bestätigt und als einen Vorgang wahrhaftiger Überteibung ( “truthful hyperbole” ) bezeichnet haben soll. Das scheint nun doch eine irgendwie verrückte Geschichte zu sein, oder aber eine Geschichte, die von einem Verrückten handelt. Wie, frage ich mich, kann man einer Personengruppe oder einer Person argumentierend begegnen, die offensichtlich mit dem Gedanken spielt, eine Welt alternativer Wahrheit ( Fakten ) mittels permanenter Wiederholung in Wahrnehmung und Überzeugung der Menschen einzustempeln? — Früher Morgen. Ich habe noch etwas Weiteres zu vermelden, das schmerzt. Ein Freund, der am kommenden Donnerstag zum 26. Mal New York besuchen wollte, weil er seit drei Jahren Lilly liebt, die zeitlebens in Brooklyn in der Atlantic Avenue lebt, weil sie dort geboren wurde, wird seinen Koffer nicht packen, weil er wiederum in der persischen Stadt Izeh das Licht der Welt erblickte. Er lebt seit 28 Jahren äußerst friedvoll in der Bundesrepublik Deutschland. — stop