8.27 — Strichzeichnung eines Mannes, der Schritt für Schritt die Küsten dieser Welt spaziert. Er schläft vor den Meeren und ernährt sich aus den Meeren. Er sammelt Dinge, die Meere an Land geworfen haben. Wenn er etwas sieht, das aus einem Meer gekommen ist, dreht und wendet er es mit der einen Hand in der anderen Hand. Dann beschreibt er seinen Fund, notiert Uhrzeit und Position, isst ihn auf oder legt ihn zurück auf den Boden. Der Mann, an den ich denke, schläft in einem Zelt, wenn es kalt ist oder wenn es regnet. Er trägt gute, feste Schuhe, ist ausgerüstet, wie Menschen ausgerüstet sind, die in den Bergen schwierige Wände durchklettern. Sobald er sich bewegt, kann man ein Klimpern hören. Manchmal passiert der Mann eine große Stadt. Dann beschleunigt er seine Schritte. Der Mann weiß aus Erfahrung, dass er immer wieder zurückkommen wird an den Ausgangsort seiner Küstenreise. Heute, in den frühen Morgenstunden, habe ich diesem Mann einen Namen gegeben und ein Alter und eine Statur, eine präzise Angabe, in welcher Höhe über dem Boden sich seine Augen befinden, wenn der Mann aufrecht steht. — stop
Aus der Wörtersammlung: etwas
andrej tarkowskij
5.26 — Gestern Abend einen langen Spaziergang durch eisige Luft unternommen. Gegen 1 Uhr im indischen Café eine Tasse Schokolade, dann nach Hause aufs Sofa unter Andrej Tarkowskijs versiegelte Zeit. Das war natürlich ein Fehler gewesen. Sofort eingeschlafen. Gegen halb 3 werd ich wach. Kentaur Billy zupft am Kragen meines Hemdes: Haben Sie, verdammt, endlich die Farbe meiner Augen entschieden? — Eine wunderbare späte Nacht mit Billy vor der Computermaschine. Ich sitze auf einem Stuhl, Billy auf seinen Hinterläufen. Lese dem kleinen Kentaur aus meinen Entwürfen vor. Gelb, sage ich, ein dunkles, goldenes Gelb, und Billy sieht mich an und schweigt, sitzt schweigend zwei weitere Stunden an meiner Seite, aber dann werde ich müde und sage: Ok, Billy! Blau, und Billy lässt etwas Luft aus seinem schönen Mund entweichen, erhebt sich und springt mit einem Satz ins Nachtsofazimmer, und schon ist er weg. – Kurz nach 5 Uhr. Während ich in die Küche gehe, leichter Seegang. Denkbar, dass ich etwas Fieber bekommen habe. — stop
harold and maude
2.05 — Ich habe mir etwas Luxus gestattet. Ich habe mich mit einer Schachtel Pistazieneis auf mein Sofa gesetzt und einen Film betrachtet, den ich vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen und seither nie wieder vergessen habe : Harold and Maude. Ein großes Vergnügen. Wie weit entfernt in der Zeit doch Harold erscheint. Unlängst noch, ist er vertraut und nah gewesen. Aber Maude ist in meinen Augen sehr viel jünger geworden. Für einen kurzen Moment habe ich überlegt, in welcher Art und Weise ich mein Leben gestalten sollte, um Maude einmal als junges Mädchen wahrnehmen zu können. — Zwei Stunden nach Mitternacht, also später Nachmittag. Nichts zu tun in dieser Nacht, als mit Dorothy Parkers New Yorker Geschichten durch die Zeit zu segeln. — stop
luftgeräuschworte
2.15 — Gestern Abend gegen zehn Uhr wusste ich in einem Text nicht weiter, weil ich mich nicht erinnern konnte, welche Geräusche die Flügel einer Eintagsfliege in der Luft erzeugen. Ich hatte ein helles Propellergeräusch im Ohr, aber immer dann, wenn ich dieses Geräusch zu einem Geräusch hunderttausender Fliegentiere summieren wollte, der Verdacht, mit meiner Erinnerung könnte etwas nicht ganz in Ordnung sein. Ein Schwarm der Ordnung Ephemeroptera ist in der Luft kaum zu vernehmen. Habe fünf oder sechs Schwarmerscheinungen beobachtet, sie sind lautlos, wirbelnder Schnee. Und doch war da ein Ton, sobald eine Fliege dicht an meinem Ohr vorüber gekommen oder in nächster Nähe auf mir gelandet ist. — Ein zartes Klappern vielleicht? — Luftgeräuschworte erfinden. — stop
denken
5.18 — Ich bemerke vom Prozess des Denkens immer nur das Ergebnis, wenn angehalten wird, eine Sekunde, ein Bild, einen Satz. Oft geglaubt, dass ich nicht eigentlich denke, dass, wenn mir etwas einfällt, etwas von Außen hereinfällt, nicht von Innen heraus. — stop
kolibri
3.01 — Ich wurde, noch nicht lang her, gefragt, worin denn die Vorzüge eines Lebens auf Bäumen zu sehen seien. Hört zu, habe ich geantwortet, keine Zeitung, kein TV. Ruhe. Fast Stille. Etwas Pfeifen, etwas Schnattern. Käfer. Ameisentiere. Und Affen, größere Gruppen frecher Affen. Tamarine. Die Kerle drohen mit längst vergorenen Früchten, die sie für Geschenke halten. Moskitos. Fauchende Schaben. Kein Besteck, keine Waffen, keine Telefone. Abendsegler. Leichtere Fliegen. Fliegen in Blau, in Rot, in Schwarz. Schnelle Spinnen. Abwartende Spinnen. Regen. Warmes Wasser. Die Stämme der Bäume, die so hoch aufragen, dass man ihre Kronen nicht mit Blicken erreichen kann, auf und ab, auf und ab, Schiffsmasten im Hafen vor Sturm. Deshalb Seekrankheit, deshalb Höhenangst. Aber Vögel, sehr kleine Vögel. Flügel. Unschärfen der Luft. Öffnet man vorsichtig den Mund, wird man für eine Blüte gehalten. — stop
wim wenders
15.32 — Viel, wieder nachts, spaziert. Trage einen Stapel kleiner Karten in der Hosentasche und einen Bleistift. Sobald mir etwas einfällt im Gehen, notiere ich. Einmal, im Sommer, sehe ich einen Mann, der in einem Bahnhof neben einem Zug auf dem Boden liegt. Der Zug war soeben via Mailand aus Rom gekommen, und als ich den Mann frage, ob er Hilfe benötige, antwortet er, dass er sie hören, nicht aber sehen könne. — Wim Wenders, stelle ich mir vor, würde diesen liegenden Herrn sofort fotografiert haben und seine Geschichte zur Fotografie würde mit dem angenehmen Wort — E i n m a l — beginnen. Einmal, an einem späten Abend, lag ein Mann auf einem Bahnsteig neben einem Zug und lauschte italienischen Zikaden. — stop
propellerfliege
1.02 – Heute Nacht ist etwas Seltsames geschehen. Ich habe einer Fliege beim Fliegen zugehört. Vielleicht könnte ich sagen, dass Fliegentiere Propellerflugzeugen in ihrer akustischen Erscheinung ähnlich sind. Sie sind bereits zu hören, wenn sie noch zu weit entfernt sind, um sie mit den Augen wahrnehmen zu können. Das Geräusch einer fliegenden Fliege lässt mich an feuchtes Holz denken und an geölte Zahnräder und an Schrauben, die aus Elfenbein gemacht sind. Wie ist diese lebende Fliege in meinem Winterzimmer möglich gewesen? — stop
take five
10.16 — Eigenartig, wie sie vor mir sitzt, die flachen Schuhe gegen die Beine des Stuhles gestemmt, beide Hände auf dem Tisch, Innenseiten nach oben, derart verrenkt, als gehörten diese Hände nicht zu ihr, als seien sie vorsätzlich angebrachte Instrumente, Werkzeuge des Fangens, Blüten. Jetzt schließen sie sich, Finger für Finger, Nacht wird. — ::: — Eine Fotografie kommt über den Tisch, Take Five, lässige Geste, als würde eine Karte ausgespielt. „Was siehst Du?“, fragt sie. – ::: — „Landschaft!“, — antworte ich, „Afrika. Südliches Afrika. Einen Affenbrotbaum und zwei Männer. Einen jungen Mann schwarzer Hautfarbe, der einen hellen Anzug trägt, und einen älteren, einen weißen Mann, der einen dunkelgrauen Anzug trägt, einen Strohhut und eine Brille. Eine staubige Straße. Menschen, die schwarz sind und bewaffnet. Gewehre. Macheten. Harte Schatten. Spuren von Hitze, infernalischer Hitze. Sie sehen alle so aus, als schwitzten sie. Jawohl, alle, die dort auf der Straße stehen, schwitzen.“ — ::: — „Was noch?“ -, fragt sie, — „was siehst Du noch?“ – ::: — Sie fährt sich mit ihrer rechten Hand über die Stirn. – ::: — „Ich sehe ein Auto. Das Auto steht rechts hinter dem weißen Mann, eine dunkle Limousine, ein schwerer Wagen. Ich sehe einen Chauffeur, einen Chauffeur von schwarzer Haut, Schirmmütze auf dem Kopf. Der Chauffeur lächelt. Er schaut zu den beiden Männern hinüber, die unter dem Baum im Schatten stehen. Der weiße Mann reicht dem schwarzen Mann die Hand oder umgekehrt. Sieht ganz so aus, als sei der weiße Mann mit dem Auto angekommen und der schwarze Mann habe auf ihn gewartet. Historischer Augenblick, so könnte das gewesen sein, ein bedeutender Moment, eine erste Begegnung oder eine letzte. Beide Männer haben ernste Gesichter aufgesetzt, sie stehen in einer Weise aufrecht, als wollte der eine vor dem anderen noch etwas größer erscheinen. Da ist ein merkwürdiger Ausdruck in dem Gesicht des jungen, schwarzen Mannes, ein Ausdruck von Überraschung, von Verwunderung, von Erstaunen.“ – ::: — „Das ist es!“, sie flüstert. „Treffer!“- ::: — Jetzt lacht sie, öffnet ihre Fäuste und das Licht kehrt zurück, der ganze Film. “Die Klimaanlage. Der verdammte Wagen dort unterm Baum. Der Weiße hat dem Schwarzen eine kühle Hand gereicht, Du verstehst, eine kühle Hand. Der Kerl hatte eiskalte Hände.” — stop
nebelhorn
1.28 — Gestern Abend in der Dämmerung bin ich durch den Regen gestapft, weil ich gelesen hatte, auf dem Postamt würde ein Paket auf mich warten. Ich ging also los mit meinem Regenschirm, der sehr schöne Geräusche macht, wenn Wasser aus großer Höhe auf ihn herabfällt. Und weil es sehr windig war, musste ich den Schirm etwas schräg vor mich stellen, wie einen Schild vielleicht, deshalb habe ich von den Menschen, die mir begegneten, nur Schuhe gesehen oder Beine in Strümpfen oder Hosen oder flatternde Mäntel. Sehr seltsam, dieser exquisite Blick auf die Werkzeuge des Gehens, sehr seltsam, wie schnell menschliche Wesen sich doch bewegen. Bald war ich wieder auf dem Weg zurück, ein Paket unter dem Arm, den Schirm nun, ein Segel, im Nacken, Blick auf feuchte Schilde, die sich mir entgegenstemmten, darunter Artgenossen, geräuschlos. — Aber jetzt zu dem, was ich eigentlich erzählen will. Auf meinem Schreibtisch ruht seit sechs Stunden ein fein gestaltetes Buch von rauem, kräftigem Papier, ein Buch, das mit dem Schiff zu mir über den Atlantik reiste, weswegen es fünf Wochen unterwegs gewesen war, in einem Container vermutlich bei Wind und Wetter, also rollte und übers Wasser schlingerte, auf und ab getragen von sehr hohen und kleineren Wellen. Ich habe lange Zeit auf dieses Buch gewartet, eine sehr lange Zeit. Als ich zu warten begann, war noch Sommer gewesen und jetzt ist schon Winter geworden. Nun endlich liegt das kleine Buch, das von den Zwillingen Daisy und Violet Hilton erzählt, auf meinem Schreibtisch oder in meiner Küche oder auf meinem Sofa oder auf meiner Brust, wenn ich trotz der Begeisterung kurz einmal eingenickt sein sollte. Da ist eine Bewegung im Halbschlaf, ein kaum wahrnehmbares Schaukeln. Und da sind zwitschernde Mädchenstimmen, und das Nebelhorn eines Dampfers vor Brighton. — stop