marimba : 16.12 UTC — Hinter dem Tresen eines Backwarenladens stand eine junge Frau. Sie beobachtete, wie ich mein Portemonnaie durchsuchte. Lassen Sie sich Zeit, sagte sie. Sie war mir bereits früher einmal angenehm aufgefallen, eine sehr geduldige und immer freundliche Person. Ich sagte: Ich werde doch langsam ein alter Mann. Ja, sagte sie, ja, ja, lassen Sie sich ruhig Zeit, wir können kleines Wechselgeld gut gebrauchen. Ich durchsuchte das Täschchen, das für Münzen eingerichtet war, bald aber drehte ich meinen Geldbeutel einfach auf den Kopf und ließ eine Handvoll Münzen auf einen Teller auf dem Tresen fallen. Es waren sicher 20 Münzen gewesen, die vor unseren Augen lagen, 1 Cent, 2 Cent auch 10 Centmünzen. Kaum 1 Sekunde war vergangen, die junge Frau hatte nur einen knappen Blick auf den Teller vor uns geworfen, da sagt sie: Das sind 40 Cent zu viel. Sie zählte das Geld in einer rasenden Geschwindigkeit mit zwei Fingern durch, und sie lachte, vermutlich weil sie meinen staunenden Blick bemerkte. Wie machen sie das, fragte ich. Die junge Frau antwortete: Es geht nicht langsamer. Nein, sagte ich, ich meine, wie haben Sie mit nur einem Blick den Wert des Geldes auf dem Teller festgestellt? Das ist Übung, sagte sie, ich kann das auch mit Perlen oder mit Linsen, aber das, was ich als Summe erkennen möchte, muss auf einem kleinen Teller wie diesem Teller hier liegen. Erstaunlich, sagte ich. Sie sind nicht alt, antwortete die junge Frau. Doch, doch, sagte ich, ich halte mich beim Treppensteigen am Geländer fest, das ist neu, das kam einfach so von einem Tag auf den anderen Tag. Erstaunlich, sagte die junge Frau, das wird schon wieder. — stop
Aus der Wörtersammlung: halt
vom walfischorchester
india : 20.33 UTC — Manchmal erfinde ich eine Geschichte. Kurz darauf vergesse ich die Geschichte oder verliere sie wieder aus den Augen. Wenn ich die Geschichte nach Wochen oder Jahren wieder bemerke, scheint sie zu einer wirklichen Geschichte geworden zu sein, das ist seltsam. Auch weil Geschichten, die einmal erfunden worden sind, sich Lebewesen ähnlich verhalten, sie machen sich immer wieder bemerkbar, wie die Geschichte von Louis Kekkola’s Eisbuch Das Walfischorchester. Es war damals kurz nach vier Uhr gewesen, Dämmerung. Ich trug Handschuhe. Ich schaltete mein Tonbandgerät an und sprach leise, in dem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen hielt. Kaum war eine Seite des Buches von meinen Augen abgetastet, schloss ich den Kühlschrank, ging in der Wohnung spazieren und ließ mir alles, was ich gelesen hatte, durch den Kopf gehen. Dann kehrte ich zurück und las mit dampfendem Atem vor dem Kühlschrank sitzend weiter. Es war die nächste Seite, die ich vorsichtig unter meine Augenlupe nahm, auch sie war sehr vertraut, sie war wie erlebt, vermutlich deshalb, weil ich sie erinnern konnte. Manchmal muss nur eine Nacht vergehen, manchmal ein Jahr. — stop
nahe uummannaq
marimba : 16.11 UTC — Gestern ist mir etwas Lustiges mit mir selbst passiert. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde. Der vorgestellte Eisbär sollte ein ernst zu nehmender Eisbär sein, ungefähr drei Meter in der Höhe, sofern er sich auf seine Hinterbeine stellt. Ich stand also in meinem Zimmer und überlegte, wie es wäre, wenn ein Eisbär vor mir stehen würde, der gerade noch unter meiner Zimmerdecke Platz finden würde. Plötzlich saß ich auf dem Boden und fand diese Haltung angesichts eines Polarbären in meinem Zimmer sehr angemessen. Kurz darauf wurde ich gefressen. Ich meine mich erinnern zu können, der Bär begann mit der Schulter, meiner rechten. — stop
ai : RUANDA
MENSCH IN GEFAHR: „Jackie Umuhoza, die Tochter des im Exil lebenden Pastors Deo Nyirigira, wurde am 27. November in Kigali festgenommen. Die Untersuchungsbehörde Rwanda Investigation Bureau bestätigte am 28. November auf Twitter, dass Jackie Umuhoza in Untersuchungshaft sei. Ihr werden Landesverrat und Spionage vorgeworfen. Bei einem Schuldspruch muss sie mit bis zu 25 Jahren Gefängnis rechnen./ Die Staatsanwaltschaft hat ihren Fall jedoch bisher nicht bestätigt, und sie wurde keinem Gericht vorgeführt. Ihre anhaltende Untersuchungshaft ist daher nicht richterlich angeordnet. Laut ruandischer Strafprozessordnung dürfen Strafverdächtige lediglich bis zu fünf Tage lang in Untersuchungshaft gehalten werden. Danach muss die Staatsanwaltschaft eine richterliche Anordnung zur Haftverlängerung einholen, die auf soliden Fakten zur Rechtfertigung eines Verfahrens basiert.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 31.1.2020 unter > ai : urgent action
ein heller windiger märztag
olimambo : 15.55 UTC — Fangen wir noch einmal von vorn an: Ein junger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unterhielt, erzählte, er lade sich im Zug reisend sehr gerne Romane und Erzählungen auf sein Kindlelesegerät. Er habe bereits eine Sammlung mehrerer Tausend Bücher, deren Lektüre im Grunde jederzeit möglich wäre, weil sie in digitaler Form existieren. Er lese je so weit, wie es die Leseprobe ermögliche. In dieser Weise habe er schon sehr viel Literatur zu sich genommen, auch einführende Vorworte, die meistens vollständig ausgeliefert werden. Oder Kurzgeschichten, eine oder zwei Kurzgeschichten seien beinahe immer vollständig in den Proben enthalten. Das ist schon irgendwie eine Sucht, sagte er. Er habe, seit er lesen lernte, stundenlang in Büchern geblättert, da und dort einen Satz oder eine vollständige Buchseite gelesen, ein komplettes Buch habe er niemals studiert. — Heute nun, es ist Mittwoch am Nachmittag, habe ich selbst in einer digitalen Probe folgende Textpassage gelesen, die mich berührte. Christoph Ransmayr hat sie notiert: „Mir war die Tatsache oft unheimlich, dass sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschichte, die man nur lange genug verfolgt, irgendwann in der Weitläufigkeit der Zeit verliert – aber weil nie alles gesagt werden kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahrhundert genügen muss, um ein Schicksal zu erklären, beginne ich am Meer und sage: Es war ein heller, windiger Märztag des Jahres 1872 an der adriatischen Küste. Vielleicht standen auch damals die Möwen wie filigrane Papierdrachen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Himmels glitten die weißen Fetzen einer in den Turbulenzen der Jahreszeit zerrissenen Wolkenfront – ich weiß es nicht.“ aus: Die Schrecken des Eises und der Finsternis: Roman von Christoph Ransmayr — stop
zuggeschichte
nordpol : 15.55 UTC — Ein junger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unterhielt, erzählte, er lade sich im Zug reisend sehr gerne Romane und Erzählungen auf sein Kindlelesegerät. Er habe bereits eine Sammlung mehrerer Tausend Bücher, deren Lektüre im Grunde jederzeit möglich wäre, weil sie in digitaler Form existieren. Er lese je so weit, wie es die Leseprobe ermögliche. In dieser Weise habe er schon sehr viel Literatur zu sich genommen, auch einführende Vorworte, die meistens vollständig ausgeliefert werden. Oder Kurzgeschichten, eine oder zwei Kurzgeschichten seien beinahe immer vollständig in den Proben enthalten. Das ist schon irgendwie eine Sucht, sagte er. Er habe, seit er lesen lernte, stundenlang in Bücher geblättert, da und dort einen Satz oder eine vollständige Buchseite gelesen, ein komplettes Buch habe er niemals studiert. — stop
vom schnee
echo : 22.08 UTC — Vor zwei Jahren notierte ich eine Geschichte von zwei alten Frauen, die seit Monaten aufgehört haben zu sein. Die Geschichte aber, die ich erzählte, existiert weiter fort. Sie geht so: Vor dem Rollstuhl, in dem die alte Dame hockte, kniete ein Mädchen im Alter von 6 Jahren. Die alte Dame erzählte dem Mädchen eine Geschichte. So leise war die Stimme der alten Dame geworden, dass sie kaum noch zu hören war, manche der leisen Wörter waren nur in Gedanken zu vernehmen, waren Vermutung. Je mehr der Vermutungen sich in den laut ausgesprochenen Wörtern der Erwachsenen, die links und rechts des Rollstuhles stehend, in gebückter Haltung lauschten, aneinander reihten, desto strenger wurde der Blick der alten Dame, sie schien unzufrieden, vielleicht sogar verzweifelt zu sein. Plötzlich sagte das Mädchen: Ihr hört nicht richtig zu! Die Tante sagt, dass sie an Weihnachten immer den Gottesdienst in der Kirche St. Paul besuchte. Sie sagt überhaupt gar nichts über das Wetter morgen. Unverzüglich begann die alte Dame zu lächeln. Sie winkte das Mädchen zu sich heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ja, sagte das Mädchen, das stimmt, ich kann gut hören, ich glaube, ich kann auch Fledermäuse hören, wenn sie bei uns im Garten herumfliegen. Die alte Dame flüsterte etwas Weiteres in das Ohr des Mädchens, sofort stand das Mädchen auf und schob den Rollstuhl der alten Dame auf den Flur hinaus. Im Flur vor einem Fenster hockte eine weitere alte Dame in einem Rollstuhl, sie schien zu schlafen. Schnee fiel vor dem Fenster, dichte, große und runde Flocken. Bald saßen nun zwei alte Damen Seite an Seite in ihren Stühlen. Und das Mädchen ging vor den Damen in die Hocke. Sie weckte die schlafende alte Dame und sagte mit ihrer hellen Stimme: Du, du wolltest heute Morgen meiner Tante etwas erzählen. Ich bin jetzt ganz Ohr! — stop
reisende pinguine
nordpol : 20.01 UTC — Lese in Louis Kekkolas Eisbuch Jennifer.Five. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends, Vögel pfeifen. In diesem Moment trage ich Handschuhe. Ich habe mein Tonbandgerät angeschaltet und spreche leise, indem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen halte. Kaum habe ich eine Seite abgetastet, schließe ich den Kühlschrank, gehe in der Wohnung spazieren und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Dann kehre ich zurück und lese mit dampfendem Atem weiter. Höre in diesen Minuten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekunden Zeit erteilt, um das Buch ungestüm warmer Heizluft auszusetzen. Auf Seite 52 entdecke ich Louis Kekkola’s Notiz über 22 Pinguine, die nordwärts reisten in Flugzeugen in hölzernen Behältern, um auf Grönland weiterzuleben. Sie sollen dort das Nordlicht (Aurora borealis) studieren. — stop
vorletztes telefon
viktory : 15.02 UTC — D. rief an. Sie habe, sagte sie, eben noch einmal unsere gemeinsame Freundin B. besucht, die im Sterben liege. Es war spät am Abend und ich dachte, ich könne nicht anrufen am Bett einer Sterbenden um diese Uhrzeit. Ich wartete also und schlief, dann war die Nacht vorüber. B. meldete sich mit kaum noch hörbarer Stimme. Ihre Tochter sitze neben ihr und würde das Telefon halten, ja, es wird langsam Zeit, sagte sie, 94 Jahre, nein, ins Krankenhaus mag sie nicht mehr gehen, sie möchte jetzt aufhören, sie sei dankbar, es gehe ihr gut, ich solle an sie denken und wünschen, dass es nicht lang dauern möge, ja, sie könne schlafen. Schöne Gespräche, sagte sie, haben wir geführt in diesem Sommer, Walter Kempowski, ja, den kenne ich persönlich. Ich antwortete, dass ich ihr dankbar sei für ihre Geschichten von der Geschichte, von Rostock, und diesen Dingen, wie sie den Krieg gerade so überlebte. Und ich hörte, dass sie immer müder wurde, und ich frage noch, ob ich sie vielleicht morgen noch einmal anrufen dürfe. Du kannst es versuchen, sagte sie. — stop
ki
romeo : 15.05 UTC — Vor einigen Wochen habe ich ein Buch, sagen wir genauer, ich habe einen Text mit dem Titel CIMBEL 8 auf meinem Paperwhite-Lesergerät entdeckt. Es ist merkwürdig, ich kann mich zu diesem Zeitpunkt nicht erinnern, wie und wann und woher dieser Text auf mein Lesegerät gereist sein könnte. Er scheint vom Vergessen und von Wörtern zu erzählen, von Entdeckungen und auch vom Erinnern. Der Text wurde von Helen KI. Liebermann notiert, die mir vollkommen unbekannt. Auch will der Text nicht enden, er setzt sich immer weiter fort, obgleich mir die Fortschrittsanzeige den Eindruck vermittelt, ich würde bereits 98 Prozent des Textes studiert haben. Ich lese nun bereits seit zwei Wochen täglich mehrere Stunden. Manchmal habe ich den Eindruck, mich in einem mir bekannten Garten von Wörtern aufzuhalten. Heute las ich Folgendes: Überlegte, was wäre, wenn ich einmal meine Sprache verloren haben würde, wenn eine Ameise vor einer nunmehr sprachlosen Person über einen Tisch spazierte? Was würde ich noch denken, wenn ich dieses Tier sehen, aber kein Wort für seine Erscheinung in meinem Kopf entdecken könnte? Ich müsste vielleicht ein Wort erfinden in diesem Moment, um das Ameisentier wahrnehmen, das heißt, über das Tier nachdenken zu können. Vielleicht würde ich mich an das Wort Eisenbahn erinnern. Vielleicht würde ich sagen, das ist eine winzige Eisenbahn, die über den Himmel laufen kann. — stop