tango : 0.18 — Vor wenigen Minuten ist etwas Erstaunliches passiert. Ich habe das feine Jazzstück Take the “A” Train in der Interpretation Dave Brubecks und seines Orchesters gehört, und zwar in einem Zimmer hier in Mitteleuropa bei bester Tonqualität. Das sehr Besondere an diesem Ereignis ist gewesen, dass die Musik Dave Brubecks zunächst in einem Städtchen nahe der Stadt New York aufgelegt worden war, nämlich in den Studios eines Jazzsenders von meiner Zeit nur um Sekundenbruchteile entfernt, sodass ich gern behaupten würde, dass zu derselben Zeit, da ich siebentausend Kilometer weit entfernt westwärts die ersten Geräusche des Orchesters vernehmen konnte, Dave Brubeck im Studio von einer digitalen Tonkonserve her zu spielen begann. Unverzüglich sauste das Stück in kleine Pakete zerlegt und auf einen Protokollfaden gereiht im Datentunnel unter dem Atlantik hindurch zu mir hin, jedes einzelne Paket nur für meine Computermaschine und mich bestimmt, wo es rasend schnell zusammengesetzt und somit hörbar wurde. Das Wunder der Musik. Das Wunder ihrer Reise. Das Wunder meiner Ohren, dass sie existieren. — Kurz nach Mitternacht. Stürmischer Wind pfeift ums Haus. — stop
Aus der Wörtersammlung: jazz
manhattanwelle
marimba : 22.16 — Dampfende Stadt. Dampf aus dem Boden, Dampf von den Wolken, Bäume dampfen, Menschen unter ihren Schirmen, selbst Eichhörnchen des Central Parks dampfen kleine Wolken aus dem Mund. Wie ich so gehe von Harlem aus nach Süden, von jedem Ticketschalter her eine schwarze Stimme von Jazz. Das ratternde Geräusch der Subway, rhythmisch, ihr warmer, öliger Atem, der dem Spazierenden unter den Regenschirm fährt. — Ein Mann zur Mittagsstunde nahe Madison Square Park mitten auf dem Broadway im tosenden Verkehr. Er trägt einen feinen, dunklen Anzug, aber grobe, staubige Schuhe. Immer wieder beugt er sich zur Straße hin, versenkt einen Zollstock in den Asphalt, telefoniert, die Arme, als sei ihm kalt, eng an den Körper gepresst. Der Mann scheint wütend zu sein. Er geht ein paar Schritte südwärts, vermisst ein weiteres Loch, Rauch steigt von dort, ein flatternder Faden. Als ob sich der Mann vergessen haben würde, nun zunächst in die Hocke, dann kniet er nieder, späht in den Schlund. — stop
holly — juli 26
ginkgo : 1.18 — Ein Herr, wie geträumt, sitzt auf einem Klappstuhl nahe der Busstation Port Authority in einem Subwaytunnel. Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Der Mann vollzieht auf einer Hammondorgel Ohrenwurmmelodien ohne Pause. Weißes Haar, gelblich schimmernd, grauer Anzug, blaues Hemd. Dürr springen seine Hände über die Tastatur, auf dem spiegelnden Rücken des Instrumentes tanzt eine elektrische Jazzfigur im schwarzen Anzug. Die kleine Personenmaschine scheint defekt zu sein, hält immer wieder einmal an, bebt ein wenig nach, federt, fordert einen weckenden Stoß unverzüglich. Unweit, auf dem Boden, eine weitere Puppe, rotes Haar, lebensnah, durchblutet, ein Bonsaimädchen, dem zwei Finger der rechten Hand verloren sind. Geschmeidige Bewegungen der hellen Arme in jede Himmelsrichtung, grazil, leicht und rhythmisch, als verfügte sie über wirkliche Ohren ihres hochbetagten Freundes, dessen Kopf von wandernden Wirbelknochen tief über die Tastatur gezwungen wird. Jede Bewegung, jeder Blick in den Raum, scheint aufs Äußerste schmerzhaft zu sein. Für Sekunden sind Augen eines jungen Menschen zu sehen, seltsam helle Augen. Eine elegant gekleidete Frau kniet vor dem Klappstuhl auf dem Boden. Sie betrachtet den alten Mann von unten her, sie lacht, sie spricht. — stop
schweizer jazz : paul nizon
india : 0.03 — Gestern bin ich Paul Nizon wiederbegegnet. Durfte beobachten, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trägt jetzt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar ist grau geworden, und doch ist er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. In diesem Moment, grad ist Dienstag geworden, erinnere ich mich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnet war in der Straße, in der ich wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Und da war noch etwas gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. — Ja, ein Frühlingsabend. — Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. – Nacht. stop. Schnee. stop. Flügel. — stop
rüsselhupe
echo : 12.03 — Sagen wir das so: Tiefseeelefanten, sobald sie geboren werden auf hoher See in großer Tiefe, bleiben ihren Müttern lange Zeit verbunden. Solange Zeit genau wandern sie in nächster Nähe, bis ihre Rüssel ausreichend gewachsen sind, um zur Oberfläche des Meeres gelangen zu können. Wie sie sich küssen von Zeit zu Zeit in ewiger Dunkelheit, wie eine Mutter ihrem kleinen Elefanten Luft einhaucht, wie das taumelnde Wesen im Moment der Übergabe lustvoll seine blinden Augen schließt, eine Ahnung vom berauschenden Duft der Welt weit über ihm, von salzigen Schäumen, von Motorölen, Tang und weiteren angenehmen Substanzen, die ihm bald unmittelbar begegnen werden. Manchmal, eher selten, steigen sie, Miniaturen einer späteren Zeit, langsam aufwärts. Sie haben dann aus dem Munde ihrer Mutter einen Ballon süßer Luft entgegengenommen, der zu groß geworden sein könnte von Sorge und Liebe. Zwei oder drei Tage sind sie nun schwebend unterwegs, bis die Oberfläche des Wassers erreicht sein wird. Das feine Geräusch ihrer ersten Rüsselhupe, mit der sie die lichte Welt begrüßen. – Sonntag. Leichter Schneefall. Viel Jazz im Kopf. — stop
symphonie
romeo : 0.01 — Da sind im Konzertsaal 8 Kontrabassisten und sie flüstern miteinander, während sie leise etwas Jazzmusik spielen, vielleicht weil das schon immer die beste Methode gewesen ist, ein Instrument aus dem Schlaf zu holen. Auch der Chor ist schon eingetroffen und raschelt mit seinen Papieren. Eine entspannte Atmosphäre, eine Stimmung, wie in den Wäldern kurz vor Anbrechen der Dämmerung, erste Geräusche, schon bewusste, aber auch noch Traumgeräusche, alles nur zur Probe. Und ich lausche und denke, dass ich in wenigen Minuten Zubin Mehta sehen werde, wie er Mahlers Symphonie No 3 dirigieren wird. Und wie ich so sitze, erinnere ich mich an Fingerbewegungen einer jungen Frau, die im Präpariersaal der Münchener Anatomie mit Sehnen und Muskeln eines Armes spielt, eine Geste, als würde sie versuchen, jenem namenlosen Arm ein Geräusch zu entlocken. Schnee fällt. Kniehoch wird er noch fallen. Jack London lesen, notiere ich. Und jetzt ist der Abend eines späteren Winters und ich sehe meine Schriftzeichen, ungelenk, weil schon im Halbdunkel des Konzertsaales ins Notizbuch geschrieben. Alles das, in meinem Kopf durcheinander. Ich fange am besten noch einmal von vorn an. Da sind also im Konzertsaal 8 Kontrabassisten, sie flüstern miteinander. Schnee fällt. Kniehoch wird er noch fallen. — stop
chicago
11.48 — Seit einer Stunde bereits versuche ich den Namen einer jungen Frau wiederzufinden, das heißt, hervorzuholen, um mich auf die Suche nach jener Musik machen zu können, die ihre Trompete einmal spielte oder vielleicht noch immer spielt. Ich laufe auf und ab. Ich spüre, dass er da ist, dass ich den Namen noch in meinem Kopf gespeichert habe. Aber selbst mit geschlossenen Augen komm ich nicht heran. — stop