sierra : 20.01 UTC — Manchmal, wenn es regnete an Nachmittagen, wurde Nacht gemacht. Das Licht des Tages draußen ausgesperrt, nahmen wir Kinder im Wohnzimmer Platz auf dem Sofa, auf dem Boden, auf Stühlen und warteten, dass Vater seine Lichtmaschine, die er längst vorbereitet hatte, endlich starten würde. Da war eine Leinwand, und da waren beschriftete und gerippte Behälter von Kunststoff, in welchen sich Sekundenzeit reihte, Zeitabteile, die wir bald ansehen würden und davon berichten, wann das war und wo das war und wer das gewesen war auf der Leinwand bewegungslos. Da dachte ich einmal, da hast Du Louis aber streng geschaut, da hättest du vielleicht ein Lächeln der Kamera schenken sollen, da kann man jetzt nichts mehr machen. Du schaust aber melancholisch drein, sagte mein Bruder, und ich sagte: Das nächste Bild, weiter, bitte weiter! Und da war dann ein Fliederbaum zu sehen, es war Winter, und der Flieder brütete Schneeflocken aus, und das Lichtgerät rauschte und das blühende Bild stand so lange still, bis mein Vater auf jenen roten Knopf seiner Fernsteuerung drückte. — stop
Aus der Wörtersammlung: kinder
die fotografien meines vaters
marimba : 14.12 UTC — Als ich noch ein Kind gewesen war, lernte ich bald das Geräusch der Fotografien kennen. Es war, zum Beispiel, an einem Samstag. Der Fotoapparat, der das Licht zu fangen vermochte, befand sich irgendwo außerhalb meines rollenden zu Hauses in den Händen meines Vaters, der die Linse auf mich richtete oder in den Himmel hinauf oder auf das lachende Gesicht meiner schönen Mutter, die den Kinderwangen schob und schaukelte. Dann, auch an jenem Samstag zum Beispiel, war sehr bald ein wunderbares Geräusch zu hören, das ich noch immer in meinem Gehirn nachbilden kann, eine Sammlung sehr heller trillernder, auch raschelnder Töne, ein Gleiten von 1 Sekunde Dauer. Und noch einmal, ja, er lacht, sagte mein Vater, und dass ich tatsächlich lachte, würde ich einige Jahre später mit eigenen Augen sehen vor einer Leinwand sitzend, auf die das Licht fiel, das mein Vater eingefangen hatte. Dieses Licht, das aus einem surrenden, hechelnden grauen Kasten strömte, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuchten brachte, als würde es schneien in unserer kleinen Wohnung. Fotografieren war für mich zunächst ein Ton, nachdem sich auch die Vögel in den Wäldern und Parks herumdrehen wollten. — stop
luftgang
echo : 15.12 UTC — Einmal, abends, beginne ich Nathalie Sarrautes Kindheit zum zweiten Male zu lesen. Das Buch begleitet mich seit Jahren. Wundervoll, wie sich ihre Geschichten Lebewesen gleich von den Seiten lösen. Das Mädchen, das so lange kaut, bis alles in ihrem Mund befindliche zu Suppe geworden ist. Wie dasselbe Mädchen die Luft anhält an einer Straßenkreuzung wartend, um dem Essiggeruch ihres Kindermädchens zu entgehen. Wie sie einen Telegrafenmast berührt, und glaubt zu sterben. Wie sie bemerkt, dass die Mutter sich nicht in sie hineinzusetzen vermochte. Wie sie der Mutter einen Löffel Staub reicht, um ein Geschwisterchen zu bekommen. — Auch ich habe heute mehrfach die Luft angehalten, um dem Atem passierender Menschen zu entgehen. — stop
im wartesaal
delta : 11.16 UTC — Alle Welt scheint zu warten auf besseres Wetter, auf E‑Mail, auf Briefe, Anrufe, Begegnungen, Kinder, eine Bitte, eine Entscheidung, einen Dank, eine Nachricht, eine Rückkehr, ein Lebenszeichen, eine Impfung, auf das Ende der Nacht, der Tage, des Lebens. Viel Zeit vergeht. — stop
von der wally nocheinmal
echo : 20.12 UTC — Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen von München aus zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelluft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnenseidiges Haarnetz ( Warum? ), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, und Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, — Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. Seit einigen Stunden versuche ich zu erinnern, ob die alte Tante Wally mir je von der spanischen Grippe erzählte, die sie zweifellos in München erlebt haben muss. — stop
lampen
delta : 22.16 UTC — Im Spazieren den Blick gegen den Boden richten, suchende Lampe. Kinderzeichnungen von Kreide, Sonnensterne, Flugdrachen, Bäume, Linien mit freier Hand da und dorthin gezogen, über Linien vorangegangener Tage geschichtet, Kreideschatten nach Regen, Kreideflüsse. Vor den Läden Punkte und Streifen, dort sollte man stehen, wenn man ein Mensch ist. Aber doch ist es so geworden, dass Personenabstände im Gehen geringer werden, man muss, wenn man geht, auf die Straße treten, ausweichen, sobald sich Sorglose nähern, muss man Räume berechnen, das Gehen gedankenlos nur am Abend durch den Park, oder Nachts in den Stunden, da man Igeln begegnet und Mäusen mit rot glühenden Augen im Licht einer Taschenlampe. Einmal träumte ich von Virentieren, die leuchten. Wie es mir in diesem Traum selbst goldfarben von den Lippen staubte, wachte ich auf. — stop
polio
echo : 15.08 UTC — Nach Alkohol bitter duftende Wolke, Erinnerung einer Turnhalle mit hölzernem Boden, vor Kletterseilen Tische, hinter welchen Lehrer hockten. Sie führten Namenslisten, und jene weiteren Personen in weißen Kitteln, die nicht bekannt gewesen waren, bereiteten den Impfstoff vor, der uns, wir waren Kinder, vor Polio schützen sollte, vor der Lähmung unserer Beine, unserer Arme, vor eisernen Lungen und vor den schrecklichen Krücken aus Metall oder Holz. Ich erinnere mich an einen dunkelbraun gefärbten Tropfen, der auf einen Zuckerwürfel fällt. Wir albern herum, eine wogende, kichernde Schlange von Kindern in Sommerkleidchen und Sommerhosen. Sehr ernst der Moment, da sich der Löffel nähert. Zucker. Bitter. Süß. Das Schlucken. Es war kurz vor der Zeit der Kartoffelfeuer. Gestorben ist damals niemand, nicht an Polio. Heut, da ich beginne Phillip Roth Roman Nemesis zu lesen, war dieses seltsames Wort meiner Kindheit wieder gegenwärtig geworden. — stop
zwei wale
marimba : 12.01 UTC — An einem nebligen Abend fuhr ich mit einem Fährschiff nach Staten Island. Ich ging eine Stunde spazieren, kaufte etwas Brot und Käse, dann wartete ich in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Einige Kinder spielten vor einem mächtigen Aquarium, sie tollten um den Glasbehälter herum. Plötzlich blieb eines der Kinder stehen, aufgeregt deutete es zum Aquarium hin. Weitere Kinder näherten sich. Sie schienen begeistert zu sein. Ich schlenderte zu ihnen hinüber, stellte mich neben sie. Da war etwas Erstaunliches zu sehen, da waren nämlich Elefanten im glasklaren Wasser, sie wanderten auf dem sandigen Boden des Aquariums in einer Reihe von Westen nach Osten. Ihre meterlangen Rüssel hatten sie zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der Seeluft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören, sobald ich eines meiner Ohren an das handwarme Glas des Wassergeheges legte. Auch Geräusche, wie ich sie von Mikrofonen kenne, die Walgesänge nahe Grönland aufgezeichnet hatten. Wie ich zur Oberfläche des Wassers hin blickte, entdeckte ich zwei Wale, die durch das Wasser schwebten, sie waren je groß wie eine Faust und stießen etwas Luft aus von Zeit zu Zeit, wie man das von wilden Walen kennt, die so groß sind, dass wir über sie staunen. Manchmal tauchten die kleinen Wale zu den Elefantentieren hin, behutsam näherten sie sich und schauten sich interessiert unter den Wandernden um, man schien sich natürlich zu kennen. — Ich konnte nicht schlafen. Noch in derselben Nacht fuhr ich nach Manhattan zurück. Ich machte einen Textentwurf für eine Zeitung, obwohl ich noch keine wirkliche Ahnung hatte, wie von den Zwergwalen zu erzählen sei. Ich notierte: Man möchte vielleicht meinen, bei der Gattung der Zwergwale handele es sich um Wale, die dem Wortlaut nach kleiner sind, als ihre doch sehr großen Verwandten, Pottwale oder Grönlandwale, sagen wir, oder Blauwale. Nun sind sie bei genauerer Betrachtung wirklich sehr klein, nur 8 cm in der Länge. Als man sie in einer künstlich erzeugten Gebärmutter, ebenfalls sehr klein, heranwachsen ließ, glaubte im Grunde niemand, dass sie lebend zur Welt kommen würden. Plötzlich waren sie da, und verschwanden zunächst in einem Aquarium, das für sehr viel größere Fischwesen angelegt worden war. Nun waren die Wale zu klein, sie verloren sich in den Weiten des Beckens. Man legte zierliche Behälter an, versorgte sie mit Meereswasser, kühlte die Gewässer, sorgte für Wind und Wellen, selbst an Eisberge wurde gedacht, Eis von der Höhe eines menschlichen Fingers, die dort in der künstlichen Naturumgebung einfach so vom Himmel fielen. Jetzt konnte man sie sehr gut sehen, aus der Nähe betrachten. Es waren zunächst drei Wale, sie existierten zwei Jahre, ehe man über eine Ausstellung, demzufolge über ihre Veröffentlichung diskutierte. Bislang hatte man gesagt: Wir dementieren und wir bestätigen nicht. Soviel sei bemerkt: Diese sehr kleinen Wale ernähren sich von Plankton, sie lieben Meerwalnüsse, sie tauchen oft stundenlang. Auch wurden Sprünge beobachtet, aber nur selten und nur bei Nachtlicht. Derzeit leben noch zwei kleinen Wale, der dritte wurde zwecks Erforschung geöffnet.
logik
india : 18.08 UTC — Morgens im Pendlerzug skizzierte ich einen Flugdrachen, wie ich sie der Form nach von meiner Kinderzeit kenne. Neben mir hockte zufällig ein Mädchen, das meine Hände beobachtete, auch meinen kleinen Computer auf dessen Glasscheibe ich zeichnete mit einem Stift, der für dieses digitale Zeichnen ausgedacht worden ist. Ich habe so einen Drachen, sagte das Mädchen plötzlich, er ist viel größer als dieser da. Ich fragte, welche Farbe ihr Drache denn haben würde. Das Mädchen antwortete: Rot und blau. Warum ist Deiner nicht bunt, fragte das Mädchen. Ich sagte: Weisst Du, ich überlege, ob man einen Drachen bauen könnte, der aus Eis gemacht ist, aus Schnee, ein Schneedrachen, der fliegen kann? — Bestimmt, sagte das Mädchen, das geht! Das Mädchen schwieg kurz, dann verdrehte es die Augen. Verrückt, sagte es, das ist schon verrückt, er kann aber nicht fliegen, weil wir im Winter keine Drachen steigen lassen. Da machen wir andere Sachen, aber weil es sowieso nicht schneit, könnten wir doch mal einen Schneedrachen bauen. Claro! — stop
peter handke : über die mütter von srebrenica
himalaya : 21.18 — Als ich jung gewesen war, hab ich immer wieder einmal gern in Peter Handkes Journal „Das Gewicht der Welt“ gelesen. Am Nachmittag, heute, suchte ich in meinen Regalen, ich glaube, ich muss das Buch verlegt haben oder verstellt, ich werde später noch einmal nach ihm sehen. Auch habe ich heute in der digitalen Sphäre Hinweise entdeckt auf ein Interview, das Peter Handke mit Alexander Dorin im Jahr 2011 geführt haben soll. Dieser wesentliche Hinweis auf ein furchtbares Gespräch ist in einer präzisen Analyse ( Die Spur des Irrläufers ) der Schriftstellerin Alida Bremer zu finden. Ich frage mich, ist es nicht vielleicht so, dass das Gespräch eines Autors als sehr viel authentischer anzusehen ist, wahrhaftiger, als Texte, die in den Büchern desselben Autors zu finden sind, vielfach gewendet und überprüft? Hat Peter Handke tatsächlich so gesprochen? Ich las: Überhaupt, diese sogenannten »Mütter von Srebrenica«: Denen glaube ich kein Wort, denen nehme ich die Trauer nicht ab. Wäre ich Mutter, ich trauerte alleine. Es gab die Mütter von Buenos Aires, sehr richtig, die hatten sich zusammengeschlossen und die Militärdiktatoren gefragt, was mit ihren Kindern geschehen ist. Aber diese billige Nachahmung ist scheußlich. Es gibt die Mütter von Buenos Aires, und das genügt. — stop