india : 6.28 — Eine Fliege war unlängst aus großer Höhe abgestürzt und vor mir auf den Tisch gefallen. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, aber nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf Fünfen ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen, vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. Nein, fangen wir noch einmal von vorne an. Unlängst. Eine Fliege. — stop
Aus der Wörtersammlung: kopf
PRÄPARIERSAAL : skalpell
tango : 8.58 — Lydia, 23, notiert über ihre Erfahrung eines Präpariersaal-zeppelins Folgendes: > Ist Dir das auch aufgefallen, dass sich während des Sezierens kaum jemand verletzte? Ich habe mich darüber immer wieder gewundert. Vor allem dann, wenn ich auf dem Tisch Skalpelle und Gewebeteile liegen sah. Ich erinnere mich, dass ich zusammengezuckt bin, wenn jemand schrie oder laut lachte. Ich habe dann gedacht: Jetzt ist es passiert. Diese Skalpelle sind sehr scharf. Aber vielleicht hat die Art und Weise, wie wir das Werkzeug in Händen hielten, das Schlimmste verhindert. Wir haben aus dem Handgelenk heraus gearbeitet und nicht mit der Kraft des ganzen Arms. Faszinierend fand ich, den Brustkorb zu präparieren; die Lunge zu sehen, wie groß sie eigentlich ist und in welchem Bezug sie genau zum Herzen liegt. Vor allem war es aber spannend, die Konsistenz einiger Organe oder Organteile zu erfahren. Die Herzklappen sind unglaubliche Konstruktionen und auch das schwammähnliche Gewebe der Lunge ist anfangs sehr ungewöhnlich. Schwierigkeiten hatte ich mit keiner Region direkt, aber ich war sehr froh gewesen, dass die Präparationsarbeiten am Kopf meist von anderen Studenten erledigt wurden. Ich habe gerade das Gesicht eines Menschen als etwas sehr Persönliches angesehen. Das Gesicht ist das, was die Individualität eines Menschen ausmacht, ein Gesicht zu zerstören, war für mich eine schwierige Situation. Alles Gute! – stop
beobachtung
india : 14.55 — Ich habe folgendes beobachtet: Wenn ich für ein oder zwei Minuten mit geschlossenem Auge in einem Zimmer stehe, der Eindruck, eine Hälfte meines Kopfes verloren zu haben. Sobald ich das geschlossene Auge wieder öffne oder mein zweites Auge mit einem Lid bedecke, kehrt in der Empfindung die verschwundene Hälfte meines Kopfes zurück. Einäugig erkenne ich weiterhin eine Seite meiner Nase, die unverzüglich verschwindet, in dem ich beide Augen öffne. – stop
schnürlkäfer
charlie : 8.58 — Wenn man mich fragen würde an diesem schönen Morgen im November, was ich mir wünsche, ich würde antworten, einen Banderlkäfer oder Schnürlkäfer in diesem Moment, einen Käfer, der an seiner Spitze aus einem Kopf und einem gepanzerten Brustsegment bestehen könnte, Fühlern, Augen, Beinen, Flügeln, einem Käfergefüge demzufolge wie wir es kennen, wenn da nicht eine bemerkenswerte Fortsetzung in der Gestalt des Käfers zu verzeichnen wäre, ein Hinterleib von enormer Größe, schmal und lang und feucht, als habe sich dem Käfer ein Regenwurm angeschlossen, der nun selbst an seinem Ende der Käfergestalt ein Paar weiterer Augen hinzufügte, und einen triebhaften Willen sich auf jeden Schuh zu stürzen, um ihn auf der Stelle, ob nun mit oder ohne Fuß, zu verschließen. – stop
bojen
romeo : 0.03 — Für diesen Tag, es ist der 4. November, habe ich mir vorgenommen, kein Wort aufzuschreiben, sondern alles das, was ich mir denke, alles was zu mir hereinfällt, im Kopf aufzubewahren. Ich sollte unverzüglich eine Methode entwickeln, jeden Gedanken oder jede Erinnerung, die mir wichtig zu sein scheint, mit einer Boje zu versehen, die ich wiederfinden werde und damit den Gedanken, der an ihr befestigt ist. – Null Uhr und fünf Minuten: Ich schalte jetzt die Schreibmaschine aus. — stop
papierlicht
marimba : 14.08 — Die Beobachtung, dass ein Gedanke, sobald ich ihn wahrnehmen kann, immer bereits vollständig anwesend ist. Nie vermag ich einen Gedanken zu betrachten, wie er langsam, nach und nach, Wort für Wort, Zeichen für Zeichen, erscheint. Es denkt sich, blitzt, sagen wir, nahe Lichtgeschwindigkeit vorwärts, die Wahrnehmung eines Gedankens, sein Echo, vollzieht sich dagegen zögernd, behutsam, hörend, also mittels geheimer Ohren im Kopf. – Ob es möglich ist, die Zeit langsamer vergehen zu lassen, indem ich mich zu ihr verhalte, wie ein Dompteur zu einem Löwen? Zeichen für Zeichen eine Geschichte notieren, bis diese Geschichte zu Ende geschrieben sein wird im Jahr 2517 oder im Jahr 2518 vielleicht. Nebelsonne. Papierlicht. — stop
kapselbäume
lima : 0.03 – Fenster von opakem Licht. Bäume draußen im Park vor dem Präpariersaal selbst nicht zu sehen, nur ihre Schatten, die sich im Wind bewegten. Der Eindruck, jene Schattenbäume handelten aus eigener Kraft, Muskeln unter der Rinde, Sehnen, Gelenke, Kapseln, Bänder. Schemen zweier Eichhörnchen hüpften von Ast zu Ast. Ich beobachtete eine Idee, während ich über Kopfhörer die Qualität einer Tonbandaufnahme kontrollierte. Eine Stimme. Die Stimme eines jungen Mannes. Er sagte: Ich hielt im Traum einen Kehlkopf in der Hand, der leise pfiff. Ich kann mich an ein paar sehr schräge Töne erinnern, an eine vibrierende Bewegung auf meiner Handfläche, als ob dort ein Falter sehr rasch mit seinen Flügeln auf und ab schlagen würde. : pause 2 sec : Manchmal habe ich am helllichten Tag Vorstellungen, Tagträumerei, meine Hände, zum Beispiel, auf dem Lenkrad meines Autos, ohne Haut. – Samstag. Wolkenloser Himmel. Count Basie. — stop
coleoptera rasura
tango : 10.12 — Eine zierliche Frau von hohem Alter. Sie schob einen Rollwagen vor sich her, auf dem zwei Koffer ruhten. Elegante Kleidung, sandfarben, leichte Sommerschuhe, links in der Hand eine Tasche von gelbem Leder, der ein Kabel entkam, das ein paar Kopfhörer und ein Mikrofon mit einem Telefon verband. Das Telefon war nicht sichtbar gewesen, aber die Frau sprach in das Mikrofon, das sich in der Nähe ihres Mundes befand, als würde sie telefonieren. Hin und wieder blieb sie stehen, ihre weißen Hände flattern dann in der Luft herum, als wollte sie zur Unterstützung ihrer Zunge mit Fingern artikulieren. Ich versuchte, sie anzusprechen, zu grüßen, ihr nahezukommen, um hören zu können, in welcher Sprache sie korrespondierte. Ich sage Euch, sie flüsterte unbekannte Wörter. Einmal öffnete sie einen ihrer Koffer. Sie gab mir ein Zeichen, ich kniete nieder. In dem Koffer hockten Käfer in Fächern, zwei Käfer je in einem Fach. Ihre Körper waren von der Farbe und Zeichnung der Bruyèrehölzer gewesen, und sie brummten, vielleicht deshalb, weil an der Stelle, da sich üblicherweise Käferzangen befinden, knöcherne Trommeln in rasender Geschwindigkeit rotierten. Gegen Viertel nach zwei Uhr erwacht. Wolkenloser Himmel, Sterne, eiskalte Luft nahe der Berge über dem Dach. — stop
segel
marimba : 8.02 — Feinstes Stromgewebe, welches Erfindung von Wirklichkeit trennt, eine heimlich durch den Kopf wandernde Struktur. Beobachtete, dass ein Gedanke, eine Geschichte am Morgen, im Moment der ersten Notiz noch frisch und fremd, nach einem Spaziergang zur Nachtzeit, ohne weitere Schreibarbeit verrichtet zu haben, zu einem vertrauten, wirklichen Raum geworden war. — stop
PRÄPARIERSAAL : periskop
echo : 8.15 — Zur Winterzeit mit einer jungen Frau, einer Malerin, in einem botanischen Garten spaziert. Sie erzählte von ersten Beobachtungen im Präpariersaal. Ihre leise Stimme, tief, die helle Wölkchen in der eiskalten Luft erzeugte. Und ein Blick, wenn sie mich ansah, der wie durch ein Sehrohr zu kommen schien. Auf dem Dach eines Glasschauhauses balancierte ein Mann mit einer Schaufel. Schwäne klapperten Schnäbel durch kniehohen Schnee. Entdeckte eine Notiz, die sie mir wenige Wochen später übermittelt hatte, weil ihr Kopf nach unserem Spaziergang weiterhin anatomische Sätze erzeugte. Ein Ausschnitt. Sophie schreibt: > Was ich sah, war Chaos. Merkwürdigste, fremdartige Formen auf Tischen, die von Studierenden bewegt wurden. Es war abstoßend und ängstigend. Ich dachte daran, dass dies einmal Menschen gewesen waren. Dann aber wurden in meinen Gedanken aus jenen gewesenen Menschen Körper, und es wurde möglich, das, was ich sah, mit Begriffen zu versehen. Ganz mechanisch sagte ich Bezeichnungen für Körperteile, die ich identifizieren konnte, vor mich hin. Ich glaube, dass sich in diesem Moment meine Emotionalität von meinem Intellekt trennte und sich irgendwo – sicher vor weiteren Eindrücken – versteckte. Und ich war erleichtert, zu sehen, dass das Geheimnis des Todes ein Geheimnis geblieben war. Ich beobachtete mit Verstand. Trotzdem sah ich tief aus mir selbst heraus. Ich wanderte zwischen Leichen umher, die von weißen Kitteln umringt waren, wie in einer Blase, die mich schützte, und doch war ich sehr zerbrechlich. In der Mitte der Körper, dort wo normalerweise der Bauch ist, war jeweils ein Loch zu sehen. Neugierig geworden, musste ich näher an die toten Körper herantreten. Ich sah das viele Fleisch, gelbe fettige Farbe unter farbloser Haut. Ich war überhaupt überrascht von der Farblosigkeit der Körper und stellte fest, wie wenig Menschliches, wie wenig Persönliches noch an ihnen zu erkennen gewesen war. Obwohl ich diesen Ort besuchte, um zu zeichnen, hatte ich bei meinen ersten Besuchen weder Papier noch Bleistift dabei. Ich wollte zunächst nur sehen. — stop