marimba : 8.12 UTC — Ich gehe spazieren, wo die alten Menschen wohnen, über Flure, wo die alten Menschen sitzen vor den Türen, hinter welchen uralte Menschen liegen, die in ihren letzten Betten schlafen. Eine alte Dame zieht sich im Rollstuhl sitzend Stunde um Stunde am hölzernen Wandgeländer voran. Wie viele Kilometer ist sie so schon unterwegs gewesen? Ich hörte, sie sei 88 Jahre alt. Wenn sie mir begegnet, lächelt sie wie ein junges Mädchen, fragt, warum sie hier sei, antwortet sofort: Wohl, weil ich alt bin. Auf einem Tisch, um den herum weitere schlafende Menschen sitzen, steht ein Telefon von grauer Farbe mit einer Ziffernwählscheibe. Der Hörer des Telefons schwebt an einer mageren Hand neben einem Ohr, das lauscht. Eine weitere magere Hand wählt Nummer für Nummer Stunde um Stunde. Draußen vor den Fenstern kühler, herbstlicher Regen. Und hier, gleich komme ich an ihm vorüber, das Zimmer der alten Claudine Tulla, sie schläft schon seit zehn Jahren in ihrem letzten Bett. Wie doch die Zeit vergeht. — stop
Aus der Wörtersammlung: marimba
beobachtung
ulysses : 18.10 UTC — Ob vielleicht Bewegungen existieren, Gesten menschlicher Hände, die bald aussterben werden? Die Geste einer Hand, beispielsweise, in der Betrachtung eines Dias, oder die Geste einer Hand, die einen Bleistift führt über ein Blatt Papier. Ich werde eine Sammlung aussterbender Bewegungen anlegen. Sofort fange ich damit an. Es ist später Abend geworden. Gewitter nähern sich von Westen. Nichts weiter. — stop
15 uhr 6
marimba : 15.06 UTC — Seit einer halben Stunde das Wort Feuernelke in meinem Gehör, warum? — stop
nikolai wassiljewitsch
marimba : 0.12 UTC — Eigentlich sollte ich niemals das Ende eines Traumes erzählen, Traumenden befinden sich nicht selten bereits mit einem Bein im neuen Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirklichkeit nennen, ich bin dann schon wach geworden auf einem Bein, habe die Fenster geöffnet, es regnet zum Beispiel, auf der Straße weit unter mir bewegen sich Regenschirme, Menschen sind keine zu erkennen, aber ein paar nasse Tauben, die sich, von der Schwere ihres Gefieders in die Tiefe gezogen, kaum noch in der Luft zu halten vermögen. Eine Exkursion zur Kaffeemaschine hin nütze ich, um mein Mikroskop vom Tisch zu holen. Tatsächlich erkenne ich jetzt eine Herde goldgrüner Frösche, die sich an der Hauswand gegenüber westwärts bewegen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, prasselt auf die Blätter der Bäume, tropft von den Regenrinnen auf blecherne Fenstersimse, was für ein wunderschöner Morgen, schon habe ich den Traum, den ich träumte, beinahe vergessen. Wie gut die Luft heute riecht, das denke ich noch, und erkenne in diesem Augenblick zwei menschliche Nasen, die dicht nebeneinander auf dem Rücken einer Straßenlampe sitzen, sie sind sicher aus einem Buch gehüpft, das ich nicht lesen kann, weil es in russischer Sprache aufgeschrieben wurde, ich erinnere mich, Gogol, nicht wahr, ich sollte bald Gogols Nase lesen, auch sollte ich ein wenig der russischen Sprache lauschen, um bald wieder glücklich einzuschlafen. — stop
von kakteen
ulysses : 19.35 UTC — Einmal wollte ich einen Text notieren, der möglichst noch nie zuvor aufgeschrieben wurde. Ich wollte diesen Text in das Magazin einer Servermaschine transferieren, versehen mit einer allgemeinen Anweisung für Suchmaschinen, diesen Text nicht zu beachten. Ich plante demzufolge mittels einer Verlockung (Textköder) sowie einer Anweisung für entsprechende Verzeichnisse (.htaccess noindex) zu erproben, ob Suchmaschinen meinen Wunsch wahrnehmen und akzeptieren, oder ob sie meinen Wunsch wahrnehmen und sich ihm widersetzen werden. Ich notierte: marimba : 8.02 – Palmengarten. stop. Wüstenhaus. stop. Das feine Geräusch der Kakteen, sobald ich ihr Stachelhorn mit einem Pinsel, einem Mikadostäbchen, einem Finger berühre. Hell. stop. Federnd. stop. Propellernd. stop. Klänge, für die in meinem suchenden Wortgehör noch keine eigene Zeichenfolge zu finden ist. stop. stop. Die Stille beim Durchblättern eines feuchten Buches in der Mangrovenabteilung. stop. stop. Zweiter Versuch. — Ich könnte vom heutigen Tage an Suchmaschinen als Lebewesen betrachten, die über Wille, Lust und Laune gebieten. — stop
am telefon
marimba : 17.55 UTC — Plötzlich kracht es. Sie muss während unseres Gespräches in etwas Unbekanntes gebissen haben. Ja, sagt sie, ich habe furchtbaren Hunger, war den ganzen Tag in irgendwelchen Sitzungen, ich muss etwas essen, ich habe gerade in einen Apfel gebissen. — Das war wohl ein sehr fester Apfel, bemerke ich. Willst Du mal eine Banane hören, fragt sie? Das Meer vor Thessaloniki sei unruhig an diesem Tag, die Nächte sind wärmer geworden, auf den Straßen und Plätzen, in den Parks campierten noch immer tausende Flüchtlinge. Ich stelle mir vor, wie L. mit lächelndem und doch ernstem Gesicht Obst verteilt, Brote, Tee, dann wieder in irgendwelche Sitzungen eilt, um hungrig zu werden. Bananen, das weiß ich nun mit Sicherheit zu sagen, sind kaum zu hören über eine Telefonverbindung hin. Was man von einer Banane in dieser Situation zu hören vermag, ist allein die Vorstellung, dass soeben in größerer Entfernung ein Mensch in eine Banane beißt. Ich höre demzufolge ein vorgestelltes Geräusch, weshalb ich sagen kann, dass die Vorstellungskraft wirkungsvoll sein kann wie ein Mikrofon oder wie eine Lupe. — Das war gestern. Heute ist es kurz vor sechs Uhr. Die Luft ist warm und feucht. Noch zu tun: Lektüre. Italo Calvino Herr Palomar. Nichts weiter. — stop
kamelschnellbahngeschichte
marimba : 6.28 UTC — Der junge Mann, der mir eine Geschichte von Kamelen erzählt, ist 22 Jahre alt. Er trägt ein leuchtend blaues Hemd, das sieht gut aus, weil seine Hautfarbe dunkel ist, weil er ein Mann ist, der tatsächlich aus Afrika kommt, der aus Afrika geflüchtet ist, obwohl er ganz sicher nicht aus Afrika flüchten wollte. Wäre er nicht aus der Not heraus geflüchtet, mit Zügen und Bussen und zwei Flugzeugen, dann wäre er jetzt tot. Weil er nicht tot ist, sitzt er mit mir in einer Schnellbahn und wir sprechen kurz über sein Land, das ich unbedingt einmal besuchen werde, wenn es dort so sein wird, dass man mich nicht sofort umbringen wird. Der junge Mann kommt aus Somalia, sein Großvater hütete Kamele. In seiner Kindheit trank er immer viel Kamelmilch. Es gibt, sagt er, nichts Gesünderes auf der Welt als Kamelmilch. Sie schillert nicht wie die Milch der Kühe, sie ist etwas bitter und süß zur gleichen Zeit. Er sagt noch, dass er gerade sein Geld zähle, er wolle nach Afrika reisen. In Afrika angekommen werde er so viel Kamelmilch trinken, wie in seinen kleinen Bauch überhaupt jemals hinein passen wird. Und jetzt ist die Schnellbahn am Ziel, und der junge Mann steigt aus. Ich sehe noch seine Hand, wie sie mir winkt über die Köpfe der Pendlermenschen hin. — stop
zur menschenfaltung
marimba : 15.01 UTC — Sie haben, sagte ein Beamter von hohem Rang, vor einiger Zeit von einem faltbaren Medusenzimmer erzählt. Ich würde nun gerne wissen, sind sie in der Verwirklichung ihrer Vorstellung einen oder gar mehrfache Schritte vorangekommen? Ich frage deshalb vorsichtig an, fuhr der Beamte fort, weil ich mit dem Gedanken spiele, prüfen zu lassen, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, faltbare Menschen zu entwickeln, Menschen, die nach einer Prozedur rasend schneller Trocknung, gepresst und gefaltet, auf dem Postwege verschickt werden und an ihrem Zielort mittels Feuchtigkeit wieder entfaltet werden könnten. Auch eine Menschenlagerung über längere Zeiträume wäre in dieser Art und Weise denkbar. Kurz bevor ich antworten konnte, wachte ich auf . Seit einigen Stunden denke ich nun darüber nach, ob ich träumend tatsächlich wünschte, etwas zur Anfrage zu äußern. Möglicherweise erwachte ich, um eine Antwort zu verhindern. — stop
phänomenal
marimba : 4.32 — Helena, die vor wenigen Tagen sechs Jahre alt geworden ist, fragte mich am Telefon, inwiefern sich ein Regenschirm von einem Schneeschirm unterscheide. Das ist eine aufregende Geschichte, dachte ich, ich habe von der Existenz der Schneeschirme noch nie zuvor gehört. Das ist nämlich so, sagte Helena, wenn es Regenschirme gibt, muss es auch Schneeschirme geben, wie Sonnenschirme und Windschirme. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte ich Helenas Frage. Du willst wissen, inwiefern sich Regenschirme von Schneeschirmen unterscheiden? Habe ich Dich richtig verstanden? Ja, antwortete Helena, was heißt inwiefern? Plötzlich war sie nicht mehr am Telefon. Ich hörte ihre Schritte, wie sie durch die ferne Wohnung lief, sie schien nach etwas zu suchen. Bald hörte ich ihre Stimme, sie erzählte eine Geschichte von einem Frosch, den sie im Garten entdeckt hatte, ihre Mutter lachte. Nach einer Weile hörte ich Helenas Schritte wieder näherkommen, dann ihre Stimme. Ich habe Dich fast vergessen, dass Du am Telefon bist, sagte Helena, das ist phänomenal. Sie lachte. Das ist ja wirklich phänomenal. Was bedeutet: phänomenal? — stop
papiere
marimba : 5.02 — Auf einer Briefmarke sind deutlich Menschen zu erkennen, die im Wasser schweben. Sie bewegen sich langsam, grüßen oder alarmieren mit winkenden Bewegungen ihrer Arme und Hände, drei Gestalten, drei Personen. Der Brief, auf dem das merkwürdige Postwertzeichen vor längerer Zeit augenscheinlich mit Speichel befestigt worden war, ruht auf meinem Küchentisch. Dort herrscht Unordnung, weil ich für Unordnung sorgte. Am Freitag habe ich mit der Unordnung angefangen, indem ich meine alte mechanische Schreibmaschine zerlegte. Zunächst entfernte ich das Gehäuse der Schreibmaschine, dann die Tastatur, kurz darauf die Papierwalze der Schreibmaschine, sowie eine Klingel, deren Geräusch ich mit der Methode des Schreibens zu früheren Zeiten verbinde. Sie war gedacht, wenn ich mich recht erinnere, den schreibenden Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass das Ende der Zeile, an der er gerade arbeitete, bald erreicht sein wird, auch damals ging man schon davon aus, dass Menschen existieren, die während des Schreibens insbesondere ihre Hände betrachten, Finger, wie sie über die Tastatur hüpfen, so dass sie das Papier, das sie beschreiben, überhaupt nicht wahrnehmen, weshalb sie versäumen könnten, den Papierwalzenschlitten der Schreibmaschine zurückzusetzen, um eine weitere Zeile zu beginnen. Während ich die Maschine zerlegte, bemerkte ich, dass jedes ihrer Einzelteile in weitere Einzelteile zerlegt werden konnte. Bald arbeitete ich mit einer Lupe, bald waren Schrauben, Streben, metallene Häute von einer Kleinheit, dass ich fürchtete, ich könnte sie versehentlich atmend zu mir nehmen. Ich arbeitete Stunde um Stunde voran, ohne daran zu denken, einen Plan zu fertigen, der mich in die Lage versetzen würde, die zerlegte Schreibmaschine wieder zu einer vollständigen funktionierenden Einheit zu fügen. In dieser Zeit der Auflösung, lag der Brief winkender Briefmarkenmenschen in nächster Nähe. Eine wundervolle blaue Briefmarke, auf einem Brief, den ich zurzeit noch immer nicht geöffnet habe, ich nehme an, weil ich noch ein wenig weiter schlafen will. — stop