0.56 — Ich hatte mir vorgenommen, eine kleine Notiz über eine Ameise zu schreiben, die ich gestern Nachmittag in einem U‑Bahn-Waggon angetroffen hatte. Aber dann habe ich meine Hände gesehen, wie sie dicht über der Tastatur der Schreibmaschine auf Anweisung warteten. Ich dachte, dass meine Hände jene anatomischen Strukturen meines Körpers sind, die ich am besten kenne, weil ich sie vielfach betrachtet habe. — Alle Hände, die ich erinnern kann, sind die Hände eines Menschen, der nicht mehr Kind ist. Aber ich erinnere mich an Bewegungen, die Kissen in einem Kinderwagen sortieren. Ich erinnere mich an meinen Wunsch, in meinem Kinderwagen Ordnung zu halten. An hölzernes Spielzeug erinnere ich mich, das vor meiner Nase baumelte. Da sind jetzt kleine, blaue Schuhe in meinem Kopf. Sie bewegen sich, wenn ich wünsche, dass sie sich bewegen. — stop
Aus der Wörtersammlung: mensch
zeitort
[ 0.08 ] — Ich schreibe diesen Text an einem Zeitort, der eigentlich nicht existiert. Habe mich um 0.05 Uhr an die Schreibmaschine gesetzt, aber noch ehe ich meine Hände auf die Tastatur gelegt hatte, war schon 1 Uhr geworden und ich hatte noch keinen einzigen druckbaren Satz notiert. Habe ich mir also eine zusätzliche Stunde Zeit fabriziert. Wieder war 0 Null Uhr geworden und ich dachte notierend über das Wassersprechen nach. — Ist es möglich, unter einer Meeresoberfläche Wörter aufzusagen? Ist es überhaupt Menschen möglich, unter Wasser so deutlich zu sprechen, dass zu verstehen ist, was ausgesprochen, das heißt, ausgeatmet wurde? Wie hört sich eine menschliche Stimme an, die unter Wasser spricht? Wie viele Sätze kann ich mit einer gesunden, mit einer prall mit Luft gefüllten Lunge so deutlich sprechen, dass von einer Unterhaltung die Rede sein könnte, wenn ich eine Antwort von einem weiteren Taucher erwarten würde? — stop
strichzeichnung
8.27 — Strichzeichnung eines Mannes, der Schritt für Schritt die Küsten dieser Welt spaziert. Er schläft vor den Meeren und ernährt sich aus den Meeren. Er sammelt Dinge, die Meere an Land geworfen haben. Wenn er etwas sieht, das aus einem Meer gekommen ist, dreht und wendet er es mit der einen Hand in der anderen Hand. Dann beschreibt er seinen Fund, notiert Uhrzeit und Position, isst ihn auf oder legt ihn zurück auf den Boden. Der Mann, an den ich denke, schläft in einem Zelt, wenn es kalt ist oder wenn es regnet. Er trägt gute, feste Schuhe, ist ausgerüstet, wie Menschen ausgerüstet sind, die in den Bergen schwierige Wände durchklettern. Sobald er sich bewegt, kann man ein Klimpern hören. Manchmal passiert der Mann eine große Stadt. Dann beschleunigt er seine Schritte. Der Mann weiß aus Erfahrung, dass er immer wieder zurückkommen wird an den Ausgangsort seiner Küstenreise. Heute, in den frühen Morgenstunden, habe ich diesem Mann einen Namen gegeben und ein Alter und eine Statur, eine präzise Angabe, in welcher Höhe über dem Boden sich seine Augen befinden, wenn der Mann aufrecht steht. — stop
ludwig wittgenstein
5.27 — Bemerke immer wieder, dass ich nicht spüren kann, wo genau im Kopf ich denke. Da sind durch Worte gehemmte [ Ludwig Wittgenstein ] Gedanken, präzise vernehmbare Geräusche, die in blauen, in roten, in gelben Farbtönen erscheinen. – Einmal CNN. | stop | Nachtfernsehen. | stop | New Orleans. | stop | Alte Menschen, die aus Fenstern, von Balkonen ihrer Wohnungen her in Boote steigen. | stop | Junge Männer in Uniformen der Nationalgarde, die ihnen die Hände reichen. | stop | Gesten, als wären sie Gondoliere. | stop | Das Gesicht eines Mannes, — erschöpft, leer, ausgezehrt, geschlossen. | stop | Ja, ein geschlossenes, lichtloses Gesicht. | stop | Nichts mehr darf hinein. | stop | Nichts kann heraus. | stop | Vielleicht die Ahnung, dass er nicht wieder zurückkehren wird? | stop | Vielleicht reicht mein Blick, mein Kamerablick, nicht ausreichend tief in die Wohnung? | stop | Ich könnte ein Ohr fest auf den Boden legen und dem Meer lauschen, wie es in der Wohnung unter meiner Wohnung mit den Möbeln spielt. | stop | In Schiffen, in Städten, auf Bäumen wohnen arme Menschen tief oder an steilen Erdsegelhängen. | stop |
karusell
0.24 — Ein seit langer Zeit arbeitsloser Mann sei in einen Wald gefahren, habe sich auf einen Hochstand für Jäger gelegt und zu Tode gehungert. Sein langsames Sterben, so schreibt man, habe der Mann in einem Schulheft dokumentiert. Er habe notiert, wie sich sein Körper nach und nach aufzulösen begann, wie seine Organe versagten, wie der eigene Tod näher rückte. Er wünschte in einer letzten Notiz, dass seine Aufzeichnungen seiner Tochter übergeben werden. Wie verzweifelt muss dieser Mensch gewesen sein, um sich wie ein todkrankes Tier zurückzuziehen und nach 24 Tagen zu sterben, wie verbittert, um diese furchtbare Gewalt seiner Tochter anzutun! Oder aber dieser Mann ahnte, dass auf dem Markt seltener Papiere ein hoher Preis für sein fürchterliches Dokument erzielt werden könnte. — Eine Wertsteigerung. — Was ist geschehen? — stop
dubrowka – theater
22.15 — Im Café eine Unterhaltung mit einem Ermittlungsbeamten organisierte Kriminalität. Wir kommen auf eine Geiselnahme im Moskauer Dubrowka — Theater am 23. Oktober 2002 zu sprechen. 132 Menschen waren ums Leben gekommen. Folgendes > b : Wenn Du zwei Geiseln nimmst und verhandelst, hast Du gute Überlebenschancen. Wenn Du damit drohst eine Geisel zu erschießen, wird’s gefährlich. Wenn Du eine Geisel erschießt, bist Du ein toter Mann. — louis : Und wenn ich schlafe, wenn Ihr kommt? — b : Betäubt? — louis : Betäubt. — b : Bombe? — louis : Bombe! b : Dann bist Du tot. Du bist eine Bombe, Du schläfst und Du bist tot.
panthergeschichte
18.15 – Da ist mir doch tatsächlich ein junger Panther zugelaufen, ein zierliches Wesen, das mühelos vom Boden her auf meine Schulter springen kann, ohne dabei auch nur den geringsten Anlauf nehmen zu müssen. Seine Zunge ist rau, seine Zähne kühl, ich bin stark, auch im Gesicht, gezeichnet von seinen wilden Gefühlen. Der Panther schläft, unterdessen ich arbeite. So glücklich sieht er dort aus, auf der Decke unter der Lampe liegend, dass ich selbst ein wenig schläfrig werde, auch wenn ich nur an ihn denke, an das Licht seiner Augen, das gelb ist, wie er zu mir herüberschaut bis in den Kopf. Spätabends, wenn es lange schon dunkel geworden ist, gehen wir spazieren. Ich lege mein Ohr an die Tür und lausche, das ist das Zeichen. Gleich neben mir hat er sich aufgerichtet, schärft an der Wand seine Krallen, dann fegt er hinaus über die Straße, um einen vom Nachtlicht schon müden Vögel zu verspeisen. Daran sind wir gewöhnt, an das leise Krachen der Gebeine, an schaukelnde Federn in der Luft. Dann weiter die heimliche Route unter der Sternwarte hindurch in den Palmengarten. Es ist ein großes Glück, ihm beim Jagen zuhören zu dürfen. Ich sitze, die Beine übereinander geschlagen, auf einer Bank am See, schaue gegen die Sterne, und vernehme die Wanderung des Jägers entlang der Uferstrecke. Ein Rascheln, ein Krächzen, ein Schlag ins Wasser. Wenn er genug hat, gehn wir nach Hause. — Donnerstag. 24. Januar 2008. Kurz nachdem ich diese kleine Geschichte mit Vergnügen erfunden habe, die Nachricht, die komplette DNA eines Bakteriums sei zum ersten Mal von Menschenhand wiederholt, das heißt montiert worden ist. — stop
a — t — g — c
15.10 — Using the same code that computer keyboards use, the Japanese group, led by Masaru Tomita of Keio University, wrote four copies of Albert Einstein’s famous formula, E=mc2, along with “1905,” the date that the young Einstein derived it, into the bacterium’s genome, the 400-million-long string of A’s, G’s, T’s and C’s that determine everything the little bug is and everything it’s ever going to be. — International Harald Tribune / June 26, 2007. — Die Vorstellung eines menschlichen Lebewesens, das 15 Jahre in seinem persönlichen Code nach Informationen sucht, die nicht zu ihm gehören, Add-ons, die Literatur sind. — stop
take five
10.16 — Eigenartig, wie sie vor mir sitzt, die flachen Schuhe gegen die Beine des Stuhles gestemmt, beide Hände auf dem Tisch, Innenseiten nach oben, derart verrenkt, als gehörten diese Hände nicht zu ihr, als seien sie vorsätzlich angebrachte Instrumente, Werkzeuge des Fangens, Blüten. Jetzt schließen sie sich, Finger für Finger, Nacht wird. — ::: — Eine Fotografie kommt über den Tisch, Take Five, lässige Geste, als würde eine Karte ausgespielt. „Was siehst Du?“, fragt sie. – ::: — „Landschaft!“, — antworte ich, „Afrika. Südliches Afrika. Einen Affenbrotbaum und zwei Männer. Einen jungen Mann schwarzer Hautfarbe, der einen hellen Anzug trägt, und einen älteren, einen weißen Mann, der einen dunkelgrauen Anzug trägt, einen Strohhut und eine Brille. Eine staubige Straße. Menschen, die schwarz sind und bewaffnet. Gewehre. Macheten. Harte Schatten. Spuren von Hitze, infernalischer Hitze. Sie sehen alle so aus, als schwitzten sie. Jawohl, alle, die dort auf der Straße stehen, schwitzen.“ — ::: — „Was noch?“ -, fragt sie, — „was siehst Du noch?“ – ::: — Sie fährt sich mit ihrer rechten Hand über die Stirn. – ::: — „Ich sehe ein Auto. Das Auto steht rechts hinter dem weißen Mann, eine dunkle Limousine, ein schwerer Wagen. Ich sehe einen Chauffeur, einen Chauffeur von schwarzer Haut, Schirmmütze auf dem Kopf. Der Chauffeur lächelt. Er schaut zu den beiden Männern hinüber, die unter dem Baum im Schatten stehen. Der weiße Mann reicht dem schwarzen Mann die Hand oder umgekehrt. Sieht ganz so aus, als sei der weiße Mann mit dem Auto angekommen und der schwarze Mann habe auf ihn gewartet. Historischer Augenblick, so könnte das gewesen sein, ein bedeutender Moment, eine erste Begegnung oder eine letzte. Beide Männer haben ernste Gesichter aufgesetzt, sie stehen in einer Weise aufrecht, als wollte der eine vor dem anderen noch etwas größer erscheinen. Da ist ein merkwürdiger Ausdruck in dem Gesicht des jungen, schwarzen Mannes, ein Ausdruck von Überraschung, von Verwunderung, von Erstaunen.“ – ::: — „Das ist es!“, sie flüstert. „Treffer!“- ::: — Jetzt lacht sie, öffnet ihre Fäuste und das Licht kehrt zurück, der ganze Film. “Die Klimaanlage. Der verdammte Wagen dort unterm Baum. Der Weiße hat dem Schwarzen eine kühle Hand gereicht, Du verstehst, eine kühle Hand. Der Kerl hatte eiskalte Hände.” — stop
winterkäfer
14.10 — Habe über einen Winterkäfer nachgedacht. Aber dann ist mir ein ganz anderer Käfer eingefallen, ein Wesen, für das ich noch keinen Namen habe. Dieser namenlose Käfer sollte ohne Ausnahme paarweise erscheinen, weich sein wie eine Schnecke und von der Körpertemperatur der Menschen und genauso groß, dass er sich in die Augenhöhle eines Schlafenden einzuschmiegen vermag. Man möchte nun meinen, der Käfer würde sich mit seiner Wirkung als Nachtschirm begnügen, stattdessen wird er ein wenig fließen und da er in dieser Weise in Bewegung ist, sehr entspannende Polarlichtspiele von milder, beruhigender Lumineszenz erzeugen. — Während ich diese Zeilen übertrage, die Nachricht, dass Benazir Bhutto von einem Selbstmordattentäter getötet worden sein soll. — stop