Aus der Wörtersammlung: schal

///

yangpu

2

india : 4.18 UTC — Ich hör­te im Radio, ein Mäd­chen namens Bai­du Bai­long, 5 Jah­re alt, habe, wäh­rend ich noch schlief, in Yang­pu eine Scha­le mit Reis und etwas Enten­fleisch zu sich genom­men. Eine Daten­bank, die die­ses Ereig­nis ver­zeich­net, ver­fü­ge, so wird wei­ter­hin erzählt, der­zeit über 23 Mil­li­ar­den Zei­len. Ist das eine Nach­richt? Oder viel­leicht in etwa eine Über­le­gung? — stop

ping

///

eine stimme

pic

sier­ra : 14.15 UTC — Regen und Sonn­tag. Ich hat­te Mut­ter ange­rufen. Sie war unter­wegs gewe­sen, viel­leicht im Gar­ten, viel­leicht in den Ber­gen. Nach 10 Sekun­den schal­tete sich der Anruf­be­ant­worter an. Eine Stim­me, die die Stim­me Mut­ters war, mel­de­te ver­traut: Hier ist der Anschluss von Pau­la und Jür­gen. Ich sag­te sofort mei­nen klei­nen Spruch auf: Hal­lo, seid Ihr zu Hau­se? Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Es reg­net. Als mein Vater gestor­ben war, hat­te ich immer wie­der ein­mal gedacht, wie selt­sam ist, dass mei­ne Mut­ter, solan­ge sie nicht bei sich selbst anru­fen wird, nicht bemer­ken wür­de, dass ihre Begrü­ßung anru­fende Freun­de irri­tieren könn­te. Ich über­legte, ob ich Mut­ter nicht viel­leicht bei Gele­gen­heit dar­auf auf­merk­sam machen soll­te, dass wir eine wei­te­re Tonband­auf­nahme anfer­tigen könn­ten. Der Ein­druck unver­züg­lich, ich wür­de mei­nen Vater durch die­se Hand­lung distan­zieren, einen Geist hinaus­werfen aus dem Haus, in dem er weiter­lebt in sei­nen Spu­ren, in unse­ren Erin­ne­rungen. Da ist noch immer sein Stuhl und da ist noch immer sein Com­pu­ter. Und da sind sei­ne Garten­schuhe, sei­ne Schall­platten, sei­ne Bücher und im Teich wer­den bald wie­der Rosen blü­hen, See­ro­sen, weiß und rosa, die vor lan­ger Zeit ein­mal von sei­ner Hand ins Was­ser gesetzt wor­den waren. Ja, so war das gewe­sen. Heu­te wie­der Regen und Sonn­tag. Und da sind nun Mut­ters Som­mer­schu­he ver­waist und ihre Win­ter­stie­fel­chen neben der Tür zum Gar­ten. In einer Schub­la­de in der Küche wer­de ich bald Mut­ters Blei­stif­te fin­den und Mut­ters Bril­len und Rezep­te von eige­ner Hand für Kuchen und Plätz­chen für das Weih­nachts­fest vor zwei Jah­ren. In einer wei­te­ren Schub­la­de ruhen ihr Rei­se­pass, ihr Geld­beu­tel, ihr Tele­fon­buch, Bro­schen und Wan­der­kar­ten durch die Wäl­der am See. Und da ist ihre hel­le Stim­me, ich weiss, dass sie im Tele­fon zu war­ten scheint, eine Stim­me, die noch mög­lich ist. — stop

///

notiz

2

nord­pol : 15.08 UTC — Neh­men wir ein­mal an es wäre mög­lich, die Geschwin­dig­keit mei­nes Den­kens für einen Tag mei­nes Lebens zu bestim­men, etwa so, als wür­de ich die Dreh­ge­schwin­dig­keit einer Schall­platte durch das Umle­gen eines Hebels vari­ieren. Wür­de ich mich beschleu­nigen oder wür­de ich mich brem­sen? Ein Wort soll­te denk­bar sein und aus­sprech­bar. War­um? — stop

ping

///

mercato

2

echo : 22.08 UTC — Immer der Nase ent­lang spa­zier­te ich zum Markt, wo nach­mit­tags See­mö­wen stol­zier­ten über den Boden, den sie längst so gründ­lich durch­sucht hat­ten, dass Fisch gera­de noch als Erin­ne­rung feins­ter Mole­kü­le in der Luft zu fin­den war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaun­lich. In die­sem Augen­blick erin­ner­te ich mich an einen frü­hen Mor­gen vor vie­len Jah­ren. Ich trat damals zur Zeit der Däm­me­rung auf den Mar­kus­platz. So dicht ruh­te Nebel über der Lagu­ne, dass ich nur weni­ge Meter weit sehen konn­te. Ich ging sehr vor­sich­tig vor­an. Vor irgend­ei­nem Kaf­fee­haus hielt ich an, setz­te mich auf einen Stuhl und war­te­te. Irgend­wo im Luft­was­ser­zim­mer, in dem ich Platz genom­men hat­te, hör­te ich Stim­men von Män­nern, die mit­ein­an­der spra­chen. Auch waren immer wie­der Pfif­fe zu hören, wie Rada­re oder Signal­tö­ne. Es waren Män­ner mit ver­mut­lich Rei­sig­be­sen, die den rie­si­gen Platz Kraft ihrer Arme und Hän­de feg­ten. Auch Melo­dien waren zu hören gewe­sen. Ich war­te­te unge­fähr eine Stun­de und lausch­te. Nie habe ich einen die­ser Män­ner gese­hen, aber ich habe von ihnen viel­fach erzählt. Es scheint über­haupt die Zeit, da man sich in Vene­dig noch ver­lau­fen konn­te, vor­über zu sein für alle Men­schen, die über eine Schreib­ma­schi­ne mit GPS-Ver­bin­dung ver­fü­gen. Es ist, glaubt mir, ein Ver­gnü­gen, die­se Radar­schreib­ma­schi­ne aus­zu­schal­ten und los­zu­ge­hen und nach da und dort zu lau­fen, stets in dem Glau­ben, man wüss­te, wo man sich befin­det. Es bleibt dann nichts wei­ter zu tun, als nach einer hal­ben Stun­de die Schreib­ma­schi­ne her­vor­zu­ho­len und nach­zu­se­hen und sich zu wun­dern und zu freu­en. — stop
ping

///

ferrovia

2

alpha : 18.02 UTC — Ich kam mit dem Zug nach Vene­dig, trat auf den Vor­platz des Bahn­hofs­ge­bäu­des, hör­te, ver­traut, das Brum­men der Vapo­ret­to­mo­to­ren, bemerk­te das dun­kel­blau­graue Was­ser, und einen Geruch, auch er ver­traut, der von Wör­tern noch gefun­den wer­den muss. Und da war die Kup­pel der Chie­sa di san Simeone Pic­co­lo im Abend­licht, und es reg­ne­te leicht, kaum Tau­ben, aber Kof­fer­men­schen, hun­der­te Kof­fer­men­schen hin und her vor Ticket­schal­tern, hin­ter wel­chen gedul­di­ge städ­ti­sche Per­so­nen oder Furi­en war­te­ten, die das ein oder ande­re Dra­ma bereits erlebt hat­ten an die­sem Tag wie an jedem ande­ren ihrer Arbeits­ta­ge. Und da war mein Blick hin zur Pon­te degli Scal­zi, einem geschmei­di­gen Bau­werk lin­ker Hand, das den Canal Gran­de über­quert. Ich will das schnell erzäh­len, kurz hin­ter Vero­na war ich auf den Hin­weis gesto­ßen, es habe sich dort nahe der Brü­cke, vor den Augen hun­der­ter Beob­ach­ter aus aller Welt, ein jun­ger Mann, 22 Jah­re alt, der Gam­bier Pateh Sabal­ly, mit­tels Ertrin­kens das Leben genom­men. Ein Mensch war das gewe­sen, der auf gefähr­li­cher Rou­te das Mit­tel­meer bezwang. Nie­mand sei ihm zu Hil­fe gekom­men, ein Vapo­ret­to habe ange­hal­ten, man habe eini­ge Ret­tungs­rin­ge nach ihm gewor­fen, aber er habe nicht nach ihnen gegrif­fen, wes­halb man eine oder meh­re­re Film­auf­nah­men mach­te, indes­sen man den jun­gen Mann ermu­tig­te: Wei­ter so, geh nach Hau­se! Das war im Janu­ar gewe­sen, das Was­ser der Kanä­le kalt wie die Betrach­ter­see­len. In die­sem Augen­blick, als ich aus dem Bahn­hof in mei­nen vene­zia­ni­schen Zeit­raum trat, war kei­ne Spur der Tra­gö­die dort unter dem Him­mel ohne Tau­ben zu ent­de­cken, außer der Spur in mei­nem Kopf. — stop

ping

///

eine wiese

2

echo : 22.05 UTC — Ich hat­te einen lus­ti­gen Traum. Da war im Traum eine Wie­se unter Apfel­bäu­men. Plötz­lich lag ich in die­ser Wie­se her­um und beob­ach­te­te Wes­pen, wie sie dicht über mir hin und her­flo­gen auf einer schnur­ge­ra­den Linie. Bemer­kens­wert war, dass sie alle sehr klei­ne Äpfel trans­por­tier­ten in eine der Rich­tun­gen, ich glau­be west­wärts. Am Rand der Wie­se stand, halb schon im Wald, ein Haus. Im Haus traf ich ein alte Frau an, die mit sich selbst zu spre­chen schien. Aber das war dann doch ganz anders gewe­sen, die alte Frau sprach mit den Wes­pen, sie bedank­te sich für jeden der Äpfel, den die Wes­pen über einer Scha­le abwar­fen, die im Schoß der alten Frau ruh­te. Ich erin­ne­re mich, die Küche duf­te­te nach Kuchen­teig. In einem Käfig in einer Ecke des Hau­ses hock­te ein Huhn auf einem Apfel, den das Huhn selbst gelegt haben soll, auf einem Wes­pen­ap­fel oder einem Apfel vol­ler Wes­pen. Dann wach­te ich auf. Ein schö­ner Tag begann. Und jetzt ist Abend gewor­den. In der Stadt Chem­nitz tra­gen Men­schen, die ent­we­der Faschis­ten sind, oder sich nicht scheu­en, in einer Rei­he mit Faschis­ten her­um­zu­lau­fen, wei­ße Rosen am Revers. Eine ent­setz­li­che Geschich­te. — stop
ping

///

sommerhüte

2

alpha : 2.08 UTC — An einem war­men Som­mer­abend war­ten Men­schen vor einem Markt auf Bän­ken. Einer nach dem ande­ren tritt in den Laden und kommt bald je mit einer Was­ser­me­lo­ne zurück. Man sitzt dann wie­der auf der Bank, hal­biert die küh­le Frucht, löf­felt sie aus und setzt sich das Scha­len­ge­häu­se auf den Kopf. So gesche­hen in einer mit­tel­eu­ro­päi­schen Stadt an einem Sams­tag gegen zehn Uhr am Abend. — stop

ping

///

moskau

pic

tan­go : 22.01 UTC — Am 4. August 2014 ereig­ne­te sich eine selt­sa­me Geschich­te, Sie wer­den sich viel­leicht erin­nern? Vor einem Schal­ter am Cen­tral­bahn­hof stand damals eine alte Dame. Sie trug ein blau­es Hüt­chen auf dem Kopf, war grell geschminkt und lach­te. Auf den ers­ten Blick schien sie fröh­lich zu war­ten wie ihr klei­ner Kof­fer, der gleich neben ihr stand. Auf den zwei­ten Blick war aller­dings zu sehen, dass sie nicht nur war­te­te, son­dern viel­mehr bewacht wur­de von einer wei­te­ren, sehr viel jün­ge­ren Frau und einem Mann, der die Uni­form einer Bahn­ge­sell­schaft trug. Wie Säu­len stan­den sie links und rechts der alten Rei­sen­den, die jun­ge Frau hat­te über­dies die Hand­ta­sche der Bewach­ten an sich genom­men, um sie zu durch­su­chen. Eine ihrer Hän­de wühl­te so hef­tig in der Tasche her­um, dass ein Rascheln weit­hin zu ver­neh­men war. Sie forsch­te ein oder zwei Minu­ten in die­ser wil­den Art und Wei­se. Weil sich aber in der Bör­se der alten Dame kein Doku­ment zur Iden­ti­fi­zie­rung auf­spü­ren ließ, schüt­tel­te sie den Kopf, beug­te sich noch ein­mal her­ab, sprach lei­se zu der zier­li­chen Erschei­nung hin, um sich kurz dar­auf an einen Schal­ter­be­am­ten zu wen­den, der hin­ter spie­geln­dem Glas auf einem Büro­stuhl saß. Die­ser Herr nun führ­te kurz dar­auf ein Mikro­fon an sei­nen Mund, eine war­me, melo­di­sche Stim­me war zu hören, die durch die Bahn­hofs­hal­le schall­te, sie sag­te: Ach­tung! Wir bit­ten um ihre Auf­merk­sam­keit, vor dem Infor­ma­ti­ons­schal­ter Gleis 24 war­tet ein Per­so­nen­fund­stück. Mel­den Sie sich! — Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich kurz bevor der Fern­zug aus Mos­kau via War­schau den Bahn­hof erreich­te. Auf dem Bahn­steig war­te­ten vie­le Men­schen. Man­che hiel­ten Blu­men in ihren Hän­den. Ande­re foto­gra­fier­ten. — stop

///

ponge

2

alpha : 20.05 UTC — Die Gegen­stän­de eines Men­schen berüh­ren: Einen Stuhl, einen Schreib­tisch, einen Füll­fe­der­hal­ter, einen Löf­fel. Ich erin­ne­re mich, in Fran­cis Pon­ges Kie­fern­wald lagen weder bota­ni­sche, noch geo­gra­phi­sche Bücher. Oder einen Schal, ein Fie­ber­ther­mo­me­ter, einen Hand­schuh, ein Salz­fäss­chen, ein Buch, eine Post­kar­te, einen Kamm, einen Herz­schritt­ma­cher, eine Tee­tas­se, eine Schreib­ma­schi­ne, einen Foto­ap­pa­rat. Ein Haar — stop
ping

///

von stühlen

2

nord­pol : 7.58 UTC — Im Haus der alten Men­schen sit­zen Damen an einem Tisch von früh bis spät. Ein Fern­seh­ap­pa­rat, der an der Wand hängt flach wie ein Schol­len­fisch, spult sich durch den Tag. Die alten Damen neh­men kaum Notiz von dem Licht, das auf sie fällt. Der Ton ist aus­ge­schal­tet, der Fisch ist stumm. So sit­zen sie völ­lig zeit­los, wie mir scheint, sie erin­nern sich ver­mut­lich nicht, ob ich an die­sem Tag schon an ihnen vor­über gekom­men bin, aber sie ken­nen mich, den treu­en Besu­cher, ich habe doch irgend­ei­nen Ein­druck hin­ter­las­sen. Wenn ich mich über einen lan­gen Flur spa­zie­rend dem Raum der alten Damen nähe­re, weiss ich prä­zi­se vor­her­zu­sa­gen, wel­che der Damen auf wel­chem der Stüh­le sit­zen wird vor dem Tisch, der drei­mal am Tag sich füllt mit Spei­sen, auch mit Kaf­fee oder gekühl­tem Him­beer­saft. Nur wenn das Wet­ter sich Hals über Kopf ver­än­dern wird, davon erzäh­len lee­re Stüh­le, die doch von den Abwe­sen­den besetzt sind, sie war­ten oder schla­fen nachts im Halb­dun­kel, schla­fen­de Stüh­le. — stop

ping