lima : 22.02 — Beobachtung des New Yorker Polizeifunks. Scheppernde Stimmen, als würde man Transparentpapier beatmen, Sprache von Zahlen, von Codes. Gelegentlich Passagen, die Geschichten erzählen. Eine lauthals singende Frau im Central Park, Höhe Dakota Building, sie kehrt als Spur, als Wörterinsel immer wieder zurück, man vermutet, dass sie vielleicht verrückt sein könnte. Die Frau ist etwa 50 Jahre alt, trägt grüne Schuhe, Blue Jeans, eine beige Jacke und läuft im Kreis herum. Einmal will man ihre Papiere überprüfen und da hörte ich im Rauschen des Äthers tatsächlich eine hell schimmernde Stimme. — stop
Aus der Wörtersammlung: sprache
coney island
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : CONEY ISLAND
Mein lieber Kekkola, das müssen Sie wissen, ich bin glücklich, fühle mich leicht, alle Sorgen der vergangenen Wochen sind von mir gefallen, ein Mensch, der mir nahe ist, wird weiterleben. Wie schweren Zeiten, leichtere Zeiten folgen! Nun wieder angenehmes Arbeiten. Bin zu atlantischen Phänomenen zurückgekehrt, das Hörvermögen der Tiefseeelefanten, natürlich, eine unendliche Geschichte. Habe darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht möglich sein könnte, dass Tiefseeelefanten über kleine, kaum noch sichtbare Ohren verfügen, die an ihren Rüsselspitzen gewachsen sind über Jahrmillionen ihres heimlichen Lebens hinweg, um hören zu können, was man spricht in der Trompetensprache jenseits des Wassers. So könnte ich weiterkommen in dieser Angelegenheit. Es ist nun beinahe sicher, dass ihre Herden bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vor Coney Island im Staate New York wahrgenommen worden sind. Ein Herr schrieb mir von Hand, seine geliebte Rose habe ihm, während eines Ausfluges an den Strand, von Erscheinungen erzählt, die alle unsere Vermutungen bestätigen. Ich füge, lieber Kekkola, meinem Brief eine Fotografie hinzu, die an genau jenem Tag der Beobachtung aufgenommen worden sein soll. Sieht sie nicht hinreißend unsterblich aus, Mrs. Rose, wie sie so sitzt und sich über das Tiefseeleuchten ihres Kopfes zu freuen scheint? – Ihr Louis, ihr Vogel.
gesendet am
14.11.2009
22.58 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
kakaduzwerge
ginkgo : 6.55 – Ein schläfriger Mann sitzt in diesen Minuten mit einer Schreibmaschine auf dem hölzernen Boden seines Arbeitszimmers. Habe zuletzt zwei Stunden in Christoph Ransmayrs letzter Welt gelesen, in einem Buch, das ich immer dann zur Hand nehme, wenn mir die Sprache müde zu werden scheint. Der Mai kam blau und stürmisch. Ein warmer, nach Essig und Schneerosen duftender Wind fraß die letzten Eisrinden von den Tümpeln, fegte die Rauchschwaden aus den Gassen und trieb zerrissene Girlanden, Papierblumen und die öligen Fetzen von Lampions über den Strand. (Christoph Ransmayr). Kaum hatte ich das Wort Schneerose zu Ende gelesen, stand ich auf und wartete erhitzt zwei oder drei Minuten vor meinem Aquarium. Dort wohnen seit einigen Monaten Wälder und Fische, die mich im Zwielicht schwebend, Stunde um Stunde beobachten. Einmal, gegen Zwei, entfaltete ich einen Stadtplan New Yorks. Das machte sie wild. Dann wieder Ruhe. Flossenfäden. Flugdrachenschwänze. Und dieser Mann, dieser schläfrige Mann, der sich wieder und wieder nähert. Seine Freude, dass ihn das Wort Schneerose, indem es dem Wort Essig folgte, derart begeisterte, dass ihm warm wurde, feurig und alle diese Dinge. Aber natürlich, aber natürlich erneut die Frage, ob meine Kakaduzwerge mich als einen der ihren, als einen Fisch betrachten. — Guten Morgen!
oktobermond
marimba : 7.12 – Oktoberlicht, das vom Boden her kommend den Himmel golden bemalt. Spazierende Riesenschatten. Vor einem Kiosk sitzt eine afrikanische Frau am Bordstein, spricht luftwärts in seltsamen Sprachen, als würde sie mit verstorbenen Menschen telefonieren. — Ich werde die Rückseite des Mondes nie mit eigenen Augen sehen. — stop
blaue kamele
tango : 3.28 – Wie wir auf den Schultern unseres Vaters durch die Welt schaukelten, als säßen wir auf dem Rücken eines Dromedars, das die menschliche Sprache sprechen konnte. Wie er uns das Licht erklärte, die Geschwindigkeit und die Zeit, die das Licht unterwegs gewesen war, um zu uns zu kommen. Seine großen Schuhe, in welchen wir durch den Garten segelten. Und Gene Kruppa, Drummerman, dort, noch lange vor unserer Zeit, Vater, mit Schlips im Anzug als junger Mann. Heute Nacht erzählen wir uns Geschichten. Und schon ist es kurz nach zwei Uhr geworden. Ich habe ganz heimlich meine Schreibmaschine angeschaltet, um eine weitere kleine Geschichte aufzuschreiben, weil Geschichten auf Papier oder Geschichten, die man von einem Bildschirm lesen kann, wie alle anderen Geschichten als leise betende Stimmen zu vernehmen sind. Diese Geschichte nun geht so. Immer an Freitagen, ich war fünf oder sechs Jahre alt gewesen war, brachte mein Vater aus dem Institut, in dem er als Physiker arbeitete, Karten mit nach Hause, die ich bemalen durfte, Computerlochkarten, kräftige, beige Papiere, in welchen sich seltsame Löcher befanden. Diese Löcher waren niemals an derselben Stelle zu finden, und ich erinnere mich, dass ich mich über ihr Verhalten heftig wunderte. Ich war zu jener Zeit ein begeisterter Maler, ich malte mit Wachskreide und ich malte in allen Farben, über die ich verfügen konnte, weil ich das Buntsein schon immer mochte. Ich malte blaue Kamele und schwarze Blumen und rote Monde. Einmal fragte ich meinen Vater, was jene Löcher bedeuteten, über deren Existenz ich mich freute, weil sie versteckte Bilder zeigten, die ich so lange suchte, bis ich sie gefunden hatte. Hör zu, sagte mein Vater. — stop
anatomische stille
himalaya : 6.05 — Vielleicht kann ich sagen, dass ich dann leidenschaftlich an einem Gegenstand, an seiner Verwandlung in Zeichen, in Sprache arbeite, wenn ich immer und immer wieder zu einzelnen Wörtern zurückkehre, weil sie bisher nicht die richtigen Wörter sind für dies oder das, oder weil überhaupt noch kein geeignetes Wort bekannt geworden ist, um einen bestimmten Ort, eine seltene Stimmung, eine besondere Farbe, ein atemloses Geräusch wiedergeben zu können. Mein Präpariersaal beispielsweise, fast vollständig schon in Zeilen übersetzt, da und dort aber noch die weiße Stille des Papiers, eine Morgenstille, sagen wir, wie ich allein dort im Saal unter Toten sitze. Sie sind noch bedeckt von feuchtem Tuch, und so schließe ich die Augen und notierte, was ich hören kann. Das knisternde, sausende Geräusch einer Ventilatormaschine. Eine Ambulanz von der Straße her. Das Ticken der Saaluhr minutenweise. Die Körper aber, einhundert Körper, sind still. Und doch sind sie nicht ohne Laut, weil ich ihre Stille zu hören meine. Auch in dieser Nacht wieder vergeblich nach dem einen möglichen Geräuschwort ihrer Abwesenheit gesucht. — stop
zeichentiere
ulysses : 5.15 — Das suchende Lernen chinesischer Schrift. Wie ich gestern in Gewitterstunden lächelnd beobachtet wurde, weil ich sagte: Die Zeichen Deiner Sprache erinnern mich an Darstellungen der anatomischen Welt, an Skelette, an Wesen, die ich leichter Hand erfinde, um das eine Zeichen, von dem anderen Zeichen unterscheiden zu können. Habe in dieser Weise eine Säbelzahntigerschnecke in meinen Kopf aufgenommen, einen achtarmigen Klammeraffen, eine Doppelkopfameise. Das Formulieren bald ganzer Sätze, jubelnde Zoologie. Guten Morgen! — stop
zwitschern
india : 22.10 — Seltsame Spur, die Twitter auf meinem Computer schreibt. Meldungen, Sekunden nur oder Minuten voneinander entfernt: > mw — boston : Just saw a mouse in the apartment! EEEEK!!!!!! Im getting a barn owl./ ky — teheran : unconfirmed — 150 people killed last week/ mv — absudistan : Ich glaube, mein Blick sagt gerade Vorm-Schlafengehen-möchte-ich-Blut-fließen-sehen./ sb — zürich : ich werde von menschen regiert, mit denen ich nicht mal reden würde./ ft — teheran : Crackdown on Journalists: Journalists are reportedly arrested in Boushehr, Mashad and Rasht/ mb — berlin : könnt ihr mal ähm feedback geben, ob der feedreader wieder funktioniert für mein blog?/ ft — teheran : Allah Akbar and Death to Dictator cry out over Iran tonight, as in other nights/ ts — münchen : “Was sollen das für Sprachen sein, die sich von Ihnen beherrschen lassen” Kurt Tucholsky/ cb — georgia : today is a good day to die say the cheyene/ pk — hamburg : ich habe einen WakeUp-Tweet in die Köpfe meiner schlafenden Timeline gesendet/ sl — nordsee : More videos coming in from Tehran. A man down and a bus in flames./ ft — teheran : foreign embassies in Tehran opened their doors to the wounded & Injured/ cnn — everywhere : moussavi to protesters: ‘The country belongs to you. The revolution and the system is your heritage.’/ kiwi — teheran : We have a few moments to tweet with you — our friends — from a DSL connection.
afrika
nordpol : 0.03 — Beobachtete in einem Bus (Take five) eine Mutter und ihr Kind. Zwei Männer von dunkler Hautfarbe saßen gegenüber. Sie unterhielten sich. Das Kind hörte aufmerksam zu. Dann lachten die Männer und das Kind fragte die Mutter, was die Männer erzählten, worüber sie lachten. Sogleich lauschte die Mutter zu den Männern hin. Sie lauschte lange, sie lauschte auch mit den Augen. Es war nicht die englische und auch nicht die französische Sprache, die sie vernahm, es war eine seltsam klingende Sprache, Klick. Klick. Die Mutter sagte zum Kind: über Afrika. – Während ich diese Geschichte notierte, erinnerte ich mich an einen Gedanken, den G.C.Lichtenberg bereits um das Jahr 1778 herum formulierte. Er schrieb: Vorstellungen sind auch ein Leben und eine Welt. – So ist jetzt wieder Nacht geworden. Ein Himmel schön dunkel von schweren Wolken, gleich wird es Frösche regnen. — stop
babel
ulysses : 0.02 — Vielleicht ist der Wunsch, Wort für Wort eine ureigene, eine gemeinsame, eine geheime Sprache zu erfinden, eines der kostbarsten Geschenke, das von einem Menschen zu einem anderen Menschen möglich ist. — stop