whiskey : 15.47 UTC — In der Nacht zum 10. Dezember 2015 war etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Ich beobachtete auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine die pendelnde Bewegung zweier Fährschiffe der Staten Island Flotte auf der Upper New York Bay. Es handelte sich einerseits um die Fähre MS Molinari, andererseits um die Fähre MS Andrew J. Barberi. Stundenlange planmäßige Reisen der Schiffe von Stadtteil zu Stadtteil. Plötzlich, es war gegen 4 Uhr europäischer Zeit gewesen, 10 Uhr abends in New York, nahm die Fähre MS Molinari Kurs auf das offene Meer hinaus, ein so von mir noch nie zuvor beobachteter Vorgang. Nach einer halben Stunde wurde das Schiff langsamer, wartete einige Minuten, als würde es nachdenken, um kurz darauf zu wenden und zur St. George Terminalstation zurückzukehren. Wenige Minuten später verließ die Fähre John F. Kennedy, eigentlich eine Tagfähre, das Terminal in Richtung Manhattan Süd. Ich notierte: Das ist tatsächlich sehr seltsam, ich muss wach bleiben, ich muss das Seltsame weiter beobachten. Also blieb ich wach. Ich beobachtete stundenlang, längst war die Sonne aufgegangen, Fährschiffe der Staten Island Flotte auf einer digitalen Karte, ihre Symbole, ihre Namen. Am Nachmittag gegen 15 Uhr schlief ich vor dem Bildschirm ein. Zu diesem Zeitpunkt neigte sich in New York die Nacht langsam ihrem Ende zu. — stop
Aus der Wörtersammlung: stunde
sandwellenwinde
alpha : 22.18 UTC — Man kann Geschichten erzählen über das was man fotografiert, das ahne ich schon lange. Vater beispielsweise erzählte wie er mit Mutter an einem heißen Nachmittag Coney Island besuchte, wie sie im warmen Sand sitzen, wie er seiner geliebten Frau berichtet, dass er schon einmal an diesem Ort gewesen sei, da kannten sie sich bereits. Viele Jahre später werde ich meinem Vater erzählen, dass ich eine Fotografie besuchte, die er gefertigt hatte, als ich noch nicht ganz fünf Jahre alt gewesen war. Ich sagte: Es ist, lieber Vater, tatsächlich wie Du berichtest. Man fährt eine halbe Stunde mit der Subway vom Washington Square aus in südwestliche Richtung, dann ist man am atlantischen Meer und der Himmel hell über dem Wasser. Heftige Sandwellenwinde fauchen mir über die Stirn, wie ich auf diesem Boden gehe, der fest ist. Zerbrochene Muscheln, Scherben von buntem Glas, Sommerbestecke, Schuhe, Wodkaflaschen, Lippenstifte, Holz, Knochen. Da und dort haben sich scharfe Kanten gebildet unter der strengen Hand der Winterstürme, dunkle, feste Strukturen, in welchen sich Spuren menschlicher Füße finden als wären sie versteinert. Bald Brighton Beach. An den Wänden der Häuser entlang der Seepromenade sitzen alte russische Frauen wohl verpackt, aufgehoben in diesem Bild frostiger Temperatur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Isaac Bashevis Singer, der hier spazierte lang vor meiner Zeit. — stop
augenaffe
ulysses : 17.02 UTC — Lesen in der digitalen Sphäre wie Netzwerken folgen, Flüssen, die kein Ende finden. Lesen also von Stunde zu Stunde, auf einer Spur sich weiter hangeln, ein Augenaffe, durch Blattwerk, das unendlich geworden zu sein scheint. Ich sollte eine Uhr stellen, die mich weckt. Oder eine Uhr, der ich erlauben werde, das Licht über dem Schreibtisch auszuschalten oder meine Schreibmaschine selbst, die zum Schreiben nämlich, nicht zum flüchtigen Lesen bestimmt worden ist. — stop
kolibri m5
india : 0.14 UTC — Es ist tatsächlich 0 Uhr und 14 Minuten, kurz nach Mitternacht. Ich habe lange Zeit gewartet, nämlich von 22 Uhr des vergangenen Tages an bis zu dieser Minute, um folgenden Text zu wiederholen, das heisst, ich werde Zeichen für Zeichen notieren, was ich vor Jahren bereits zur selben Stunde aufgeschrieben habe. Hört Ihr das Geräusch der Tastatur? Es ist kurz nach Mitternacht. Eine Drohne in der Gestalt eines Kolibris stationiert seit wenigen Minuten in einem Abstand von 1.5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beobachten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in meinem Zimmer herumgeflogen, hatte meinen Kakteentisch untersucht, meine Bücher, das Laternensignallicht, welches ich vom Großvater erbte, auch meine Papiere, Fotografien, Schreibwerkzeuge. Ruckartig verlagerte das Lufttier seine Position von Gegenstand zu Gegenstand. Ich glaube, in den Momenten des Stillstandes wurden Aufnahmen gefertigt, genau in der Art und Weise wie in diesem Moment eine Aufnahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeitssofa sitze und so tue als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich versucht bin, tatsächlich für einen Kolibrivogel zu halten, war zunächst nichts zu hören gewesen, keinerlei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minuten, meine ich einen leise pfeifenden Luftzug zu vernehmen, der von den nicht sichtbaren Flügeln des Luftwesens auszugehen scheint. Diese Flügel bewegen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahrzunehmen sind. Ein weiteres, ein helles feines Geräusch ist zu hören, ein Wispern. Dieses Wispern scheint von dem Schnabel des Kolibris her zu kommen. Ich habe diesen Schnabel zunächst für eine Attrappe gehalten, jetzt aber halte ich für möglich, dass der Drohnenvogel doch mit diesem Schnabel spricht, also vielleicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natürlich nicht sagen, was er mitteilen möchte. Es ist denkbar, dass vielleicht eine entfernte Stimme aus dem Schnabel zu mir spricht, ja, das ist denkbar. Nun warten wir einmal ab, ob der kleine sprechende Vogel sich mir nähern und vielleicht in eines meiner Ohren sprechen wird. — stop
aerosole
echo : 8.01 UTC — Stunden der Abwesenheit im Schlaf, die wie Sekunden erscheinen. Nicht deshalb schlafen, um nicht wach zu sein, sondern deshalb schlafen, weil das Schlafen ein angenehmes Gefühl im Erwachen hinterlässt, in den Momenten des Halbschlafes, die in ihrer zeitlichen Ausdehnung nicht bestimmbar sind. — Noch ist früher Morgen. Zwirbelte frischen Koriander mit den Fingerspitzen, Duft, der den Raum bis zur Decke hin füllt. — stop
maskentier No 1
tango : 0.06 UTC — In einer gezeichneten Vorstellung der Maskentiere sind Augen zu bemerken. Das ist sehr seltsam, weil Augen nicht eigentlich sinnvoll oder unverzichtbar sind für den Zweck, dem Maskentiere bald einmal dienen werden. Es ist nämlich so, dass Maskentiere in der Lage sein sollten, sich auf menschliche Münder und Nasen niederzulegen, um dieselben zu beatmen, demzufolge Luft aus der Atmosphäre zu entnehmen, um diese eventuell kontaminierte Luft für Menschen oder andere Tiere sorgfältigst zu filtern, indem sie in Stunden, da sie ihrer Bestimmung folgen, auf vielfältig gestalteten Wangen, Nasenrücken, Halspartien so dicht zu liegen kommen, dass kein Gramm einer Virenlast je an ihren Rändern oder Enden entweichen könnte. Es ist stattdessen ganz wunderbar saubere Luft, die sie spenden, und es ist ganz wunderbar saubere Luft, die sie im Gegenzug wieder an die Welt zurückgeben werden. Natürlich ist denkbar, dass kein Wort, kein Schrei durch ihre Lederhaut hindurch nach draußen dringen wird, es wird also stiller unter den Menschen, die schweigen und sich sicher fühlen, sobald sie mit ihren wärmenden Masken über Straßen und durch Warenhäuser spazieren. Dann ist Abend geworden, und man legt das getragene Tier zurück in einen Behälter, der mit Wasser gefüllt ist. Dort schwimmen sie dann aufgeregt unter weiteren Maskentieren herum und erzählen sich Geschichten, was sie hörten und was sie gesehen haben während des Tages, indessen sie sich säubern und paaren, um weitere Maskentiere zu erzeugen. — Auch Ohren, jawohl! — stop
apollo
nordpol : 15.02 UTC — Es war Nacht, eine besondere Nacht, die erste Nacht, da Louis von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarzweißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch Louis Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er gerade eben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht, beobachtete Louis seinen Vater, wie er den Bildschirm des Fernsehgerätes mehrfach fotografierte, Minuten, die meine Aufmerksamkeit für die Gegenwart moderner Lichtfangmaschinen schärften. Worauf sich das Objektiv eines Fotoapparates richtete, war von Bedeutung, ein Radiergummi, ein Schiff das den Hafen der Stadt Chicago verlässt, ein roter Schuh, in dem sich mein linker Fuß befand, der gerade drei Jahre alt geworden war. — stop
zwei schreckliche figuren
ginkgo : 7.03 UTC — Der Mann versteht nicht, warum ich ihm einen ängstlichen Blick schenke. Er steht am Rande der Leipzigerstraße und ruft: Himbeeren 1 Euro, Himbeeren 1 Euro. Er brüllt diese Formel Stunde um Stunde mit seinem Atemwind unter die passierende Leute, Passanten, und wenn man nun denkt, er könnte ein infizierter Sänger sein, dann wird man bemerken, dass es gefährlich sein könnte hier ohne Maske, ohne Brille über die Straßen zu spazieren. Und im Café diese nette lauthals telefonierende Person: Mein Gott, sagt sie zur Liesel, wenn das nur ein Weihnachten nicht wird mit einem Lockdown schon wieder! Wenn sie einmal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Winde, die alles das Unsichtbare sehr schön durch die Räume tragen, Luftbusse fahren herum, Zeppelinwolken. Es ist schon seltsam was man alles so sieht und hört neuerdings. — stop
auf der intensivstation
ulysses : 8.22 UTC — Am Telefon berichtete eine Schwester der Intensivmedizin: Heute Nacht war es ernst, sie hatte eine Atemkrise. Vielleicht wollen sie sofort kurz vorbeikommen! Eine Straßenbahnhalbstunde später trat ich in die Station. Seltsam hupende Geräusche von da, von dort. Blinkende Apparaturen, gelb, rot, grün. Eine weitere Schwester erzählte, sie habe morgens bei der Übergabe gehört, es sei knapp gewesen: Das Leben ihrer Freundin hing an einem seidenen Faden. Und ich dachte, sie wird nicht dieselbe sein, wenn sie wieder aufwachen wird. Wer wird sie sein? Und ich dachte noch dazu: Jedes der Zimmer an diesem Ort, jedes Abteil, ist eine Sorgenwelt. Und schon saß ich auf einem Stuhl vor dem Bett der Schlafenden. Sie lag auf dem Bauch, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Ohren. Eine der tapferfröhlichen Schwestern schlug vor, ich solle doch möglichst mit der Schlafenden sprechen: Das mögen sie nämlich! Und schon waren wir unter uns allein mit den Maschinen. Ich versuchte also zu sprechen. Es ist sehr schwer einer schlafenden Person zu erzählen, man hört nur sich selbst, und man glaubt nicht, was man erzählt, obwohl doch alles wahr ist, was man erzählt. Sofort in dieser Notlage suchte ich in den Magazinen meiner Schreibmaschine nach Geschichten, die ich vorlesen könnte, vorlesen, sagen wir, wie sprechen, mit meiner Stimme locken. Ich sagte: Folgendes, hör zu! Da ist ein Museum, das Museum der Nachthäuser, das sich in New York am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Eastriver — Fluss so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man allerfreundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
kalkutta
echo : 0.25 UTC — Einmal wollte ich nach Kalkutta reisen. Ich dachte, das ist jetzt eine beschlossene Sache. Ich machte mich unverzüglich an die Vorbereitung meiner Reise: Koffer, Regenschirm, Ausweis, Apotheke, Impfungen, Notizbücher, Schreibmaschine, Fotoapparate, Flug hin und zurück, Hotelzimmer, Stadtplan, Literatur, Sonnenhut. Wenige Tage später erreichte mich ein erstes Paket des Dokumentarfilms Phantom Indien von Louis Malle. Ich las, der Film habe insgesamt eine Spielzeit von 6 Stunden und 3 Minuten. Solange Zeit, stellte ich mir vor, könnte eine Fahrt quer durch Kalkutta mit dem Taxi dauern. Es ist nun überhaupt die Frage, wie lange Zeit sollte ich mich mit der Vorbereitung meiner Reise nach Kalkutta beschäftigen? — Lange Zeit in der vergangenen Nacht das nordamerikanische Fernsehen beobachtet. Wie man sich in den Worten, wenn man sie spürt, finden kann, kann man sich im Rauschen rasender Worte verlieren. — stop