Particles: Oktober 2020

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hamstern

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india : 21.20 UTC — In einer Abend­se­kun­de, da ich Kon­takt zu ihm auf­neh­me, hebt er sei­nen müden Blick von dem Scan­ner, der unter einer röt­lich schim­mern­den Schei­be von Glas ver­bor­gen liegt, über die er Waren zieht, die er selbst noch von eige­ner Hand in Rega­le räum­te, die er selbst noch von Staub befrei­te, den er selbst nicht in die­sen Super­markt­la­den ein­ge­führt haben konn­te in die­ser Men­ge, die­ser Staub muss an Füßen der Kun­den her­ein­ge­kom­men sein, ein Staub der immer­hin sicht­bar ist, bei Gott, ist das doch gut, dass noch Wesen exis­tie­ren, die sicht­bar sind, sicht­bar für mensch­li­che Augen, nicht unsicht­bar wie jene kleins­ten Par­ti­kel, die Men­schen­we­sen auf die­sem Erd­ball hin­ter Mas­ken­tü­cher zwin­gen, sodass sie sich ähn­lich wer­den, die­se Men­schen­we­sen über­all sich ähn­lich wer­den in ihrer Schutz­be­dürf­tig­keit, ähn­lich, ob sie nun hin­ter roten, gel­ben, blau­en oder schnee­wei­ßen Mas­ken sich zu ver­ber­gen haben, um nicht viel­leicht ster­ben zu müs­sen, bei Gott, Men­schen eben. Er hebt den Kopf in die­sem Moment, da ich Kon­takt zu ihm auf­neh­me, da ich sage, sie hams­tern wie­der, nicht wahr, es wird Herbst und sie hams­tern wie­der, Teig­wa­ren, Taschen­tü­cher, und die­se Din­ge, hams­tern und strei­ten vor den Rega­len, nicht wahr. Und da sagt er, dass das ein Krieg sei, dass eigent­lich das Mili­tär hier auf die­sem sei­nem Platz zu sit­zen habe, der Kata­stro­phen­schutz, weil die­se Schei­be von künst­li­chem Glas, ihn doch nie­mals schüt­zen kön­ne, weil hier das Unsicht­ba­re her­um­flie­ge, all die­se Sachen, die das Fie­ber brin­gen, da kann man nur war­ten, war­ten, war­ten. — stop
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agenten

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echo : 22.07 UTC — Da und dort Augen­men­schen hin­ter Segel­tü­chern, deren Gesicht ins­ge­samt ich längst ver­ges­sen habe, ihre Nasen, ihr Kinn, ihren Mund, aber nicht ihre Namen, nicht ihre Stim­men, die etwas ver­wir­belt, wie hei­ser, in mei­nen Ohren erschei­nen. — Sams­tag. Was noch zu tun ist: Nach­den­ken über Agen­ten, wie sie in Simu­la­tio­nen exis­tie­ren, ster­ben­de Agen­ten und wel­che die über­le­ben, Agen­ten, die ein­sam sind und ande­re, die zwei­sam sind an Don­ners­ta­gen, und über jun­ge Tän­zer­ra­ver, die an Sams­ta­gen solan­ge tan­zen, bis ihre Groß­müt­ter und Groß­vä­ter nahe Fried­hö­fe besu­chen bis das Spiel von vorn beginnt. — stop

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lumineszenz

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nord­pol : 20.55 UTC — Vor Jah­ren ein­mal habe ich an die­ser Stel­le bereits über Win­ter­kä­fer nach­ge­dacht, es war wohl Win­ter gewe­sen. Selt­sa­mer­wei­se ist mir damals ein ganz ande­rer Käfer ein­ge­fal­len, ein Wesen, für das ich noch immer kei­nen Namen gefun­den habe. Die­ser namen­lo­se Käfer soll­te ohne Aus­nah­me paar­wei­se erschei­nen, weich sein wie eine Schne­cke und von der Kör­per­tem­pe­ra­tur der Men­schen und genau­so groß, dass er sich in die Augen­höh­le eines Schla­fen­den ein­zu­schmie­gen ver­mag. Dort wird der noch namen­lo­se Käfer sich nicht allein als Nacht­schirm begnü­gen, statt­des­sen wird er ein wenig flie­ßen und in die­ser Wei­se in Bewe­gung, sehr ent­span­nen­de Polar­licht­spie­le von mil­der, beru­hi­gen­der Lumi­nes­zenz erzeu­gen auf den Augen­li­dern der schla­fen­den Men­schen. — Ich habe die­se klei­ne Geschich­te gera­de eben noch ein­mal erzählt, weil ich heu­te wäh­rend des Spa­zie­rens über­leg­te, ob es nicht vor­teil­haft wäre, Käfer­we­sen zu ent­wer­fen, die sich in schüt­zen­der Wei­se auf mei­nen Mund und mei­ne Nase legen wür­den, mich wär­men und die Luft zugleich fil­trie­ren hin­ein und auch hin­aus. Am spä­te­ren Abend wer­de ich eine Zeich­nung ver­su­chen. Käfer die­ser Art soll­ten viel­far­big gestal­tet sein. Nichts wei­ter. — stop
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von brillen

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tan­go : 0.25 UTC — In einer agen­ten­ba­sier­ten Simu­la­ti­on des Infek­ti­ons­ver­lau­fes einer Sars-Cov‑2 Pan­de­mie scheint zwi­schen einem Agen­ten ohne und einem Agen­ten mit Bril­le, ein grund­sätz­li­cher Unter­schied zu bestehen. Bril­len auf Nasen schüt­zen Augen vor Hän­den, die infek­ti­ös sein kön­nen. Von nun an wer­de im Dschun­gel der Stadt eine Bril­le tra­gen. — stopping

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über den atlantik

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india : 0.28 UTC — Im Ter­mi­nal 1 des Flug­ha­fens mor­gens eine jun­ge Frau, erkäl­tet. Leich­tes Rei­se­ge­päck. Sie schüt­tet aus einer Tüte drei­ßig oder vier­zig Tele­fon­kar­ten­chips in ihren Schoß. Ich stell­te mir vor, sie sei viel­leicht aus Argen­ti­ni­en gekom­men, Bue­nos Aires. War­um? Viel­leicht ihre Schu­he? Viel­leicht Ihr Haar? Eine Vor­stel­lung fest wie ein Fel­sen. — stop

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oktoberklee

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nord­pol : 8.12 UTC — Vom Bild­schirm aus spricht eine älte­re Frau, erzählt von Kon­takt­ver­fol­gung wie sie im Gesund­heits­amt, das sie lei­tet, ver­wirk­licht wird. Ruhi­ge Spra­che, klug, sie scheint wider­stands­fä­hig zu sein, gesund, man möch­te mei­nen sie sei viel­leicht eine Alm­wir­tin, die in gro­ßer Höhe bei Wind und Wet­ter arbei­tet. Nur ihre Stirn, ihre Augen, ihr grau­es Haar sind zu sehen. Mund, Nase, Wan­gen lie­gen hin­ter einem Mund­schutz ver­bor­gen. Den möch­te ich gern ent­fer­nen, weil ich die­se ener­gisch und zugleich warm und freund­lich spre­chen­de Per­son, wahr­neh­men möch­te, als wäre nicht Pan­de­mie­zeit. Tat­säch­lich ent­de­cke ich in der digi­ta­len Sphä­re bereits im ers­ten Ver­such eine Foto­gra­fie, die sie zeigt, als sie noch ohne Mas­ke arbei­ten konn­te. — Heu­te leich­ter Regen, die Stra­ßen von Kas­ta­ni­en bedeckt, Eich­hörn­chen durch­su­chen das Meer der Früch­te nach genieß­ba­ren Nüs­sen, die sie nicht fin­den. Es wird einen war­men Win­ter geben. Unter den Bäu­men blüht der Klee. — stop
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jagende lichter

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echo : 23.58 UTC — Im Park am Abend in der Dun­kel­heit unter Regen­schir­men unsicht­ba­re Men­schen, paar­wei­se oder allein. Und da flit­zen Lich­ter her­um, grün, blau oder rot leuch­ten­de Rei­fen oder blin­ken­de Perl­ket­ten, die die Posi­ti­on spie­len­der Hun­de ver­mer­ken. Man möch­te mei­nen, dass sie fern­ge­steu­er­te Krea­tu­ren sind, die sich jagen nach dem Wil­len jener im Dun­keln ste­hen­den schwei­gen­den Men­schen. Ich dach­te noch, in Brook­lyn sol­len Feu­er ent­zün­det wor­den sein, um Mas­ken zu ver­bren­nen. Der Wahn­sinn bricht aus jen­seits ruhi­gen, ver­nünf­ti­gen Han­dels, Men­schen dicht gedrängt wie Amei­sen. Kaum noch ein Gespräch ist mög­lich, ohne sich gefähr­lich nahe­zu­kom­men. Aber hier im Park am Abend unter Regen­schir­men sind die Räu­me weit, das Gespräch der ahnungs­lo­sen unsicht­ba­ren Tie­re, die ihren Licht­schmuck über die Wie­sen tra­gen. — stop
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zwei schreckliche figuren

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gink­go : 7.03 UTC — Der Mann ver­steht nicht, war­um ich ihm einen ängst­li­chen Blick schen­ke. Er steht am Ran­de der Leip­zi­ger­stra­ße und ruft: Him­bee­ren 1 Euro, Him­bee­ren 1 Euro. Er brüllt die­se For­mel Stun­de um Stun­de mit sei­nem Atem­wind unter die pas­sie­ren­de Leu­te, Pas­san­ten, und wenn man nun denkt, er könn­te ein infi­zier­ter Sän­ger sein, dann wird man bemer­ken, dass es gefähr­lich sein könn­te hier ohne Mas­ke, ohne Bril­le über die Stra­ßen zu spa­zie­ren. Und im Café die­se net­te laut­hals tele­fo­nie­ren­de Per­son: Mein Gott, sagt sie zur Lie­sel, wenn das nur ein Weih­nach­ten nicht wird mit einem Lock­down schon wie­der! Wenn sie ein­mal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Win­de, die alles das Unsicht­ba­re sehr schön durch die Räu­me tra­gen, Luft­bus­se fah­ren her­um, Zep­pe­lin­wol­ken. Es ist schon selt­sam was man alles so sieht und hört neu­er­dings. — stop

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der achte tag

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echo : 14.08 UTC — Ein­mal lie­ge ich ganz still und ohne jede Bewe­gung auf dem Sofa. Ich stel­le mir vor wie es wäre, wenn ich nun erkrankt sein wür­de, wenn das Fie­ber kom­men wür­de, wenn die Glie­der schmer­zen, mein Atem eine Ras­sel, mei­ne Nase ohne jeden Ein­druck, weder Thy­mi­an, noch Zimt, noch Euka­lyp­tus, ein Nichts. Ich war kurz in der Küche, eine Rei­se, um da und dort nach mei­ner Nase zu suchen. Jetzt lie­ge ich wie­der auf dem Sofa. Ich über­le­ge, was zu tun ist. Es ist mit­ten in der Nacht gekom­men, es war plötz­lich da, und ich den­ke nach, wo ich es auf­ge­nom­men haben könn­te. Und ich den­ke noch, es ist ein War­ten jetzt, das auf mich war­tet, eine Zeit, die mei­ne Letz­te sein könn­te. Ein ers­ter Tag, die­ser Tag, der mich spü­ren lässt, dass es ange­kom­men sein könn­te, das es wächst. Der wie­viel­te Tag ist die­ser ers­te Tag? Ist die­ser ers­te Tag hof­fent­lich schon der sechs­te, ich füh­le mich gut für einen sechs­ten Tag. Wie wür­de ich mich füh­len, wenn es schlech­ter wer­den wird? Wie an einem ach­ten Tag? Wann wür­de ich das Tele­fon bemü­hen? Wie fühlt sich das an, wenn ich das Tele­fon bemü­hen muss? — stopping

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die fotografien meines vaters

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marim­ba : 14.12 UTC — Als ich noch ein Kind gewe­sen war, lern­te ich bald das Geräusch der Foto­gra­fien ken­nen. Es war, zum Bei­spiel, an einem Sams­tag. Der Foto­ap­pa­rat, der das Licht zu fan­gen ver­moch­te, befand sich irgend­wo außer­halb mei­nes rol­len­den zu Hau­ses in den Hän­den mei­nes Vaters, der die Lin­se auf mich rich­te­te oder in den Him­mel hin­auf oder auf das lachen­de Gesicht mei­ner schö­nen Mut­ter, die den Kin­der­wan­gen schob und schau­kel­te. Dann, auch an jenem Sams­tag zum Bei­spiel, war sehr bald ein wun­der­ba­res Geräusch zu hören, das ich noch immer in mei­nem Gehirn nach­bil­den kann, eine Samm­lung sehr hel­ler tril­lern­der, auch rascheln­der Töne, ein Glei­ten von 1 Sekun­de Dau­er. Und noch ein­mal, ja, er lacht, sag­te mein Vater, und dass ich tat­säch­lich lach­te, wür­de ich eini­ge Jah­re spä­ter mit eige­nen Augen sehen vor einer Lein­wand sit­zend, auf die das Licht fiel, das mein Vater ein­ge­fan­gen hat­te. Die­ses Licht, das aus einem sur­ren­den, hecheln­den grau­en Kas­ten ström­te, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuch­ten brach­te, als wür­de es schnei­en in unse­rer klei­nen Woh­nung. Foto­gra­fie­ren war für mich zunächst ein Ton, nach­dem sich auch die Vögel in den Wäl­dern und Parks her­um­dre­hen woll­ten. — stop
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vom winterflieder

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sier­ra : 20.01 UTC — Manch­mal, wenn es reg­ne­te an Nach­mit­ta­gen, wur­de Nacht gemacht. Das Licht des Tages drau­ßen aus­ge­sperrt, nah­men wir Kin­der im Wohn­zim­mer Platz auf dem Sofa, auf dem Boden, auf Stüh­len und war­te­ten, dass Vater sei­ne Licht­ma­schi­ne, die er längst vor­be­rei­tet hat­te, end­lich star­ten wür­de. Da war eine Lein­wand, und da waren beschrif­te­te und geripp­te Behäl­ter von Kunst­stoff, in wel­chen sich Sekun­den­zeit reih­te, Zeit­ab­tei­le, die wir bald anse­hen wür­den und davon berich­ten, wann das war und wo das war und wer das gewe­sen war auf der Lein­wand bewe­gungs­los. Da dach­te ich ein­mal, da hast Du Lou­is aber streng geschaut, da hät­test du viel­leicht ein Lächeln der Kame­ra schen­ken sol­len, da kann man jetzt nichts mehr machen. Du schaust aber melan­cho­lisch drein, sag­te mein Bru­der, und ich sag­te: Das nächs­te Bild, wei­ter, bit­te wei­ter! Und da war dann ein Flie­der­baum zu sehen, es war Win­ter, und der Flie­der brü­te­te Schnee­flo­cken aus, und das Licht­ge­rät rausch­te und das blü­hen­de Bild stand so lan­ge still, bis mein Vater auf jenen roten Knopf sei­ner Fern­steue­rung drück­te. — stop

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ein sarslämpchen

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marim­ba : 0.08 UTC — Ich wünsch­te, sie wür­den leuch­ten, Sars-CoV‑2 Lämp­chen, 2 davon nicht sicht­bar, aber schon 100 Lämp­chen zu einer Wol­ke ver­sam­melt, wür­den sich deut­lich im Dun­kel zei­gen, im Dun­keln könn­ten wir dann spa­zie­ren und stau­nen und flie­hen. — stop
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dunkelkammer

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echo : 0.06 UTC — Ich ste­he vor einer Tür. Ich bin groß genug gewor­den, um die Klin­ke der Tür mit einer Hand zu errei­chen. Ich ver­su­che die Tür zu öff­nen, da ruft Mut­ter, nicht Lou­is, Papi arbei­tet. Aber das war selt­sam, weil das Zim­mer hin­ter der Tür das Bade­zim­mer gewe­sen war, nicht das Arbeits­zim­mer, das gab es auch. Mut­ter sag­te: Dein Vater ent­wi­ckelt Bil­der, es muss dun­kel, ganz dun­kel sein im Zim­mer, Du musst etwas war­ten, mein Schatz, Papi wird bald raus­kom­men. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich auf den Boden leg­te und unter der Tür zum Bade­zim­mer hin­durch späh­te. Ich konn­te Vaters Radio hören, und ich beob­ach­te rotes Licht, das im Bade­zim­mer leuch­te­te, sodass ich dach­te, das Radio wür­de viel­leicht rot leuch­ten. Es ist nicht dun­kel, sag­te ich, Mut­ter ant­wor­te, doch, doch, das ist ich Vaters Dun­kel­kam­mer. Ver­mut­lich weil ich erleb­te, was ich gera­de erzähl­te, bewirk­te, dass ich mit Radio­ap­pa­ra­ten noch Jah­re spä­ter rotes Licht in Ver­bin­dung brach­te. Dann, bald, wur­den Radi­os grün, wegen ihres leuch­ten­den Auges. Es waren Röh­ren­ge­rä­te. — stop