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schnee

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alpha

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : SCHNEE
date : dec 2 12 0.15 p.m.

Über Nacht ist Schnee gefal­len. Ein har­ter, böiger Wind fegt vom East River her durch die Stra­ßen in den Park. Wir sind die ers­ten Spa­zier­gän­ger heu­te Mor­gen. Es ist bei­na­he still in der Däm­me­rung. Weit­hin sehen wir hin­ter uns unse­re eige­ne Spur auf dem Weg, den wir nord­wärts gehen. Immer wie­der blei­ben wir ste­hen, um nach Fran­kie zu sehen. Er scheint sich wohl­zu­füh­len, man könn­te sagen, dass es sich bei die­sem Eich­hörn­chen um einen Schnee­tau­cher han­deln könn­te. Für Minu­ten ist nichts von ihm zu sehen, aber dann plötz­lich sein Kopf, der aus dem Schnee ragt, er schüt­telt sich, sei­ne Ohren beben, ja, Fran­kie scheint glück­lich zu sein in die­ser neu­en wei­ßen Welt. Auch Möwen sind in den Cen­tral Park gekom­men. Sie hocken auf Sitz­bän­ken und Mau­ern, ich glau­be, sie haben es auf Zwer­ge wie Fran­kie abge­se­hen, denk­bar, dass sie den Schnee als Gewäs­ser betrach­ten und jene Tie­re, die sich für einen kur­zen Moment an der Ober­flä­che zei­gen, für Fische, die sie jagen müs­sen. Es sind gro­ße Vögel, gel­be Augen, rie­si­ge Schnä­bel, die uns heu­te Mor­gen tat­säch­lich Sor­ge berei­ten, sie könn­ten Fran­kie erle­gen und mit ihm aufs Meer hin­aus­flie­gen, mit all sei­nen Sen­so­ren, die uns dann nicht wei­ter­hel­fen wer­den. Wann wer­den Sie uns besu­chen, Mr. Lou­is? Wir hof­fen noch in die­sem Win­ter! Ein­mal Fran­kie mit eige­nen Augen betrach­ten, nicht wahr! Schnell ist er gewor­den. In der kom­men­den Woche wol­len wir zum ers­ten Mal erpro­ben, ob wir in der Lage sind, ihn mit unse­rer Fern­steue­rung beein­flus­sen zu kön­nen. Wir haben vor, Fran­kie in Krei­sen durch den Park lau­fen zu las­sen. – Aller­bes­te Grü­ße sen­det ihn Mal­colm / code­wort : hillarystep

emp­fan­gen am
03.12.2012
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mal­colm to louis »

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atolle

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del­ta : 6.58 — Gegen 2 Uhr heu­te Nacht fol­gen­de Beob­ach­tung. Wenn ich um die Wort­grup­pe schwe­res Was­ser ein Ver­zeich­nis leicht­sin­ni­ger Asso­zia­tio­nen lege, ver­schwin­det der Begriff in der Gestalt eines Atolls. Ob nicht viel­leicht Erin­ne­rung in die­ser Form orga­ni­siert sein könn­te? Gedan­ken­krei­se um unter­ge­gan­ge­ne, ursprüng­li­che Land­schaf­ten. — stop

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muscheln

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nord­pol : 6.36 — Ich hat­te einen lus­ti­gen Traum. In die­sem Traum saß ich mit einem jun­gen Mann in einem Café. Ich erin­ne­re mich, dass wir uns über Char­lie Par­ker unter­hiel­ten, wäh­rend ich beob­ach­te­te, wie sich die Ohren des jun­gen Man­nes sanft beweg­ten, so als wür­den sie über hun­der­te Mus­keln ver­fü­gen, Lebe­we­sen mit je einer See­le und eige­nem Wil­len sein. Sie ent­fal­te­ten sich vor mei­nen Augen, schirm­ten aus zur Grö­ße einer Unter­tas­se, dann wie­der kehr­ten ihre Muschel­rän­der zuein­an­der zurück, die Ohren des jun­gen Man­nes wur­den zu Knos­pen, sie sahen jetzt aus, als wür­den sie schla­fen. Aber das war noch nicht alles gewe­sen, was ich träum­te. Der jun­ge Mann hat­te näm­lich sei­ne Ohr­mu­scheln bald so dicht zuein­an­der gefal­tet, dass er sie in sei­nen Schä­del ein­füh­ren konn­ten, sie waren nun voll­stän­dig im Kopf ver­schwun­den. Mei­ne Ohren schla­fen, sag­te der jun­ge Mann und lach­te. Aber dann wur­de er schnell wie­der ernst, weil eine sei­ner Ohr­mu­scheln sich ver­klemmt hat­te, wäh­rend das ande­re Ohr bereits aus sei­nem Gehör­gang­etui her­vor­ge­kom­men war. stop. Frei­tag. stop. Die Luft riecht Schnee. stop. Nichts wei­ter. — stop

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erdbeben

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ulys­ses : 6.02 — Einen Tag lang habe mit mei­ner Ant­wort an Jen­ni­fer 7 gewar­tet. Vor weni­gen Stun­den fol­gen­de kur­ze E‑Mail-Notiz: Lie­be Jen­ni­fer, ich ver­ste­he, dass Sie unru­hig gewor­den sind. Bit­te haben Sie etwas Geduld, ich weiß um Ihr Leid, ahne, was es bedeu­tet, wenn man nicht schla­fen kann, weil Schrit­te von Men­schen in nächs­ter Nähe über die Decke spa­zie­ren. Man glaubt ihre Schat­ten zu sehen jen­seits der Bast­mat­ten, der Stei­ne, der Höl­zer. Wenn es ein­mal still ist, dann war­tet man in die­ser Stil­le auf das nächs­te Geräusch, das den Schlaf zer­rei­ßen wird, alles schon da tod­si­cher in der Zukunft, all das Getö­se, weil man an es denkt, weil es nicht anders sein kann, jede lei­se Erschüt­te­rung des Bodens eine Erschüt­te­rung der Welt, Erd­be­ben, Tra­gö­die. Man möch­te sich erhe­ben, man möch­te sich käm­men, Hemd und Hose sind bereits über­ge­wor­fen, so tritt man auf den Flur, um sich zur Beschwer­de auf­wärts zu bege­ben. Man klopft an eine Tür. Man sieht einen Schat­ten hin­ter dem Bull­au­ge des Spi­ons: BIST DU ALSO DA! Aber nie­mand öff­net die Tür. Auch nach Minu­ten des War­tens nicht. Und dann ist man doch noch ein­ge­schla­fen, mei­ne lie­be Jen­ni­fer 7, man schläft vor Erschöp­fung, man schläft mit geöff­ne­ten Augen unter dem Schwa­nen­hals. — Don­ners­tag. Leich­ter Regen. Es ist kalt gewor­den über Nacht. Noch immer habe ich kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge gefun­den, wes­halb Kie­men­men­schen, sobald sie schla­fen oder sich küs­sen, Kopf nach unten in ihren Was­ser­woh­nun­gen schwe­ben. — stop

polaroidemergency

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jennifer 7

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romeo : 6.25 — Ges­tern am spä­ten Abend erreich­te mich eine E‑Mail von einer Per­son namens Jen­ni­fer 7. Ich wun­der­te mich, dass die­ses Schrei­ben nicht sofort in einem Spam­ord­ner ver­schwun­den war, immer­hin ken­ne ich nie­man­den, der die­sen Namen trägt. Aber ich bin nun doch sehr froh, dass mich der klei­ne Brief aus der Fer­ne erreich­te. Er war in eng­li­scher Spra­che ver­fasst, und ich sit­ze noch immer vor ihm und über­le­ge, was zu tun ist, was ich notie­ren soll, weil, das ist ganz sicher so, dass ich Jen­ni­fer 7 ant­wor­ten soll­te, mor­gen oder über­mor­gen. Viel­leicht wer­de ich ihr eine Fra­ge stel­len, wo genau sie denn wohnt, in wel­cher Stadt, in wel­chem Haus, wie das Haus beschaf­fen ist, wel­cher Art Men­schen in die­sem Haus woh­nen Tür an Tür. Jen­ni­fer 7 schrieb so: Lie­ber Mr. Lou­is, ich bin sehr müde, ich habe über eine gan­ze Woche lang kaum geschla­fen, weil ich in einer Miet­woh­nung lebe im 22. Stock, was noch kein Grund ist nicht zu schla­fen, aber ich arbei­te nachts in einem Kran­ken­haus und tra­ge sehr viel Ver­ant­wor­tung und muss schla­fen am Tag. Neu­er­dings kann ich nicht schla­fen, weil man mich nicht schla­fen lässt. Wenn es den 23. Stock nicht geben wür­de, dann wäre dort nichts als ein Dach, auf dem ein paar Tau­ben sit­zen wür­den und ich könn­te schla­fen, weil Vögel lei­se, behut­sa­me, kul­ti­vier­te Tie­re sind. Nun aber ist das so, dass in den 23. Stock ein Mann und eine Frau ein­ge­zo­gen sind, Men­schen­per­so­nen, die sich nicht küm­mern um den Lärm, den sie machen. Und so kann ich, das ist der Grund, nicht schla­fen. Vor­ges­tern war ich zum ers­ten Mal dort oben im 23. Stock, um mich vor­zu­stel­len. Ich habe mich gefürch­tet. Der Mann war nicht zu sehen, dafür aber die Frau, sie stand auf Schu­hen, mein Gott waren die wuch­tig. Sie sag­te, dass ich Pech haben wür­de, weil sie im Moment nicht arbei­te, des­halb wür­de ich ihre Schrit­te hören und alles Wei­te­re. Pech, sag­te die Frau, Pech. Und so kann ich nicht schla­fen. Ich höre ihre Schrit­te. Stünd­lich las­sen sie irgend­et­was fal­len auf den schö­nen höl­zer­nen Boden, oder sie schrei­en sich an, obwohl sie noch jung und frisch ver­hei­ra­tet sind. Das ist ein wirk­li­ches Unglück, Mr. Lou­is, ich bin fast schon ver­zwei­felt und so habe ich an Sie gedacht, weil Sie doch so schö­ne Käfer erfin­den, die in Ohren woh­nen, damit man nichts hören muss. Ob Sie mir wohl hel­fen, Mr. Lou­is! – stop

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georges perec

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tan­go : 22.01 — Fol­gen­des. Immer gegen 8 Uhr in der Früh bre­chen wir auf, Geor­ges und ich. Wir gehen ein paar Schrit­te über die Rue de Javel, neh­men die 6er-Metro durch den Süden, stei­gen dann um in Rich­tung Por­te Dau­phin, fah­ren mal unter, mal über der Erde im Kreis her­um, bis es Abend oder noch spä­ter gewor­den ist. So kann man gut sit­zen, zufrie­den, durch­ge­schüt­telt, Sei­te an Sei­te für vie­le Stun­den, und Men­schen betrach­ten, wie sie her­ein­kom­men, Fahr­gäs­te, wie sie im Wag­gon Platz neh­men, wie sie beschaf­fen sind, davon legen wir Ver­zeich­nis­se an, Geor­ges ein Ver­zeich­nis, und ich ein Ver­zeich­nis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Ver­zeich­nis aller Erschei­nun­gen eines Rau­mes anzu­le­gen, der nicht gera­de erfun­den wird, eines Rau­mes, der sich fort­be­wegt, der betre­ten und ver­las­sen wird von Men­schen im Minu­ten­takt, das Ver­zeich­nis eines Rau­mes, des­sen Fens­ter sich von Sekun­de zu Sekun­de neu bespie­len, weil es also unmög­lich ist, das Ver­zeich­nis eines wirk­li­chen Rau­mes anzu­le­gen, machen wir das so: in der ers­ten Stun­de des Rei­se­ta­ges notie­ren wir ein Ver­zeich­nis der zuge­stie­ge­nen Kra­wat­ten, in der zwei­ten ein Ver­zeich­nis der Schu­he und der Strümp­fe, ein Ver­zeich­nis, sagen wir, der Geh­werk­zeu­ge und ihrer Beklei­dung, dann ein Ver­zeich­nis der Haar­trach­ten, der Taschen, der Metho­den sich im fah­ren­den Zug einen siche­ren Stand zu ver­schaf­fen, der Gesprächs­ge­gen­stän­de, der Art und Wei­se sich zu küs­sen, zu strei­ten, oder aber ein Ver­zeich­nis absei­ti­ger Gestal­ten, ein Ver­zeich­nis der Die­be, der Bett­ler, der Posau­nis­ten, der Ver­wirr­ten ohne Ziel, je ein Ver­zeich­nis der Spra­chen und klei­ner Geschich­ten, die wir aus der all­ge­mei­nen Bewe­gung zu iso­lie­ren ver­mö­gen. Von Zeit zu Zeit, wäh­rend wir so fah­ren und notie­ren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Geor­ges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel ver­schluckt, als lache er nur des­halb, weil er Made­moi­sel­le Moreau wie­der frei­las­sen wol­le. Dann weiß ich, Geor­ges hat etwas gefun­den, das er mir abends in irgend­ei­nem Café, wenn wir fer­tig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser bei­der Köp­fe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen auf­be­wah­ren lässt, vor­tra­gen wird, – „Auf Kra­wat­te gelb, zehn­zwei, leben­de Amei­se, argen­ti­nisch, kreuz und quer. Der Code­na­me Ser­vals war Lou­viers“, sagt Geor­ges und hebt sein Glas. Fünf Glä­ser Pas­tis, fünf Glä­ser Was­ser, – dann sind wir wie­der leicht gewor­den, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, neh­men wir den letz­ten Über­land­zug nach Nor­den oder den 11er nach Süden, dort­hin, wo die Feu­er­nel­ken blühn, und wenn es end­lich Mor­gen gewor­den ist, stei­gen wir um, öff­nen die Fens­ter und fah­ren nach Wes­ten in unse­rer Wind­ma­schi­ne spa­zie­ren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewit­ter auf­stei­gen und Schwe­fel vom Him­mel kom­men und wei­ßes Licht, das die Land­schaft ent­zün­det. So haben wir schon sehr schö­ne Gedan­ken über das Feu­er gefan­gen und über das Schlag­zeug in die­sem gewal­ti­gen Raum, der über uns hängt, einem Raum, des­sen zen­tra­les Ver­zeich­nis von nicht mensch­li­chen Maßen ist, sodass wir bald nur schwei­gen und auf ent­fern­te Men­schen schau­en, auf Sze­nen im rasen­den Vor­über­kom­men, auf Fil­me, die in unse­ren Hin und Her has­ten­den Augen der­art kur­ze Fil­me sind, dass sie einer Foto­gra­fie sehr nahe kom­men, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbe­wegt. Es ist ganz so, als wür­den wir an einer gewal­ti­gen Auf­nah­me der Zeit vor­über kom­men, an einer Foto­gra­fie, deren Gegen­wart wir nicht berüh­ren, weil wir nicht aus­stei­gen kön­nen, ohne das Leben zu ver­lie­ren, weil wir zu schnell, weil wir in einer ande­ren Zeit sind. — stop / kof­fer­text

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im parc jarry

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MELDUNG. Wie Wöl­fe im Rudel, laut­los, haben zwölf win­ter­fes­te Sumpf­schild­krö­ten im Parc Jar­ry zu Mont­re­al eine Stan­darden­te bejagt und so rasch unter Was­ser gezo­gen, dass weder Wehr noch Mel­dung erfolg­te. Nichts blieb, als eine wan­dern­de Spur auf­stei­gen­der Luft. — stop
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