sierra : 0.12 UTC — Der junge Mann hockt auf einem Schemel in der Nähe eines Ofens, in dem etwas glüht. Es ist später Nachmittag, warmes Licht kommt von den Fenstern her. Ich beobachte in meinen Gedanken wie der junge Mann einen weichen, feurigen Glaskörper, der an einem Stab befestigt ist, dicht über dem staubigen Boden dreht. Er kann dort in den Stab Luft hineinblasen, sodass der erhitzte Glaskörper am gegenüberliegenden Ende des Stabes selbst zu atmen scheint, ein lodernder Tintenfischkörper. Da sind Zangen, seltsame Zangen von der Form der Hirschkäfergeweihe, und Pinzetten von enormer Größe, und Scheren, auch kleinere Scheren, weil man das glimmende Glas zu schneiden vermag als wäre es von warmem Marzipan. Der junge Mann schwitzt. Sein Hemd steht weit offen. Vom Glaskörper strahlt eine stille Hitze aus, dort unten, zwei Meter weit entfernt, eine handzahme Sonne, die sich geduldig dreht, in dem sie dunkler wird, orange, dann rot. Ich stehe auf und trete ein oder zwei Schritte zurück und öffne die Augen. Kurz nach Mitternacht. — stop
Aus der Wörtersammlung: auge
sacca fisola
echo : 18.12 UTC — Mit einem Marinaio der Linea 2 um kurz nach drei kam ich deshalb ins Gespräch, weil der junge Mann beobachtet hatte, wie ich eine halbe Stunde lang meinerseits seine Hände beobachtete, wie sie in einer eleganten oder lässigen oder ganz einfach erprobten Art und Weise bei Annäherung seines Dampfschiffchens an eine Haltestation, an diesen schwingenden und tanzenden und auf und ab wippenden Steg, der noch nicht Land ist aber auch nicht mehr Schiff, ein Tau zur Schleife formen, um es aus kurzer Distanz um einen eisernen Höcker zu werfen und zu knoten. Es geht dann sehr schnell, wie sich das Tau knarzend windet, wie es sich zuzieht, weil es nicht anders kann, weil es in sich gefangen ist, sirrende Geräusche, die ich vor Tagen im Traum zu vernehmen meinte, weswegen ich erwachte und glaubte auf meinem Bett würde eine gewaltige Seemöwe Platz genommen haben, die mich mit hellblauen Augendioden anblitzte. Es war dann doch das Leuchtwerk eines Weckers gewesen, mit dem ich noch nicht vertraut geworden bin. Ich weiß nun, das Knotengebinde wird unter den Seeleuten der Kanäle als Dopino oder wahlweise Nodo di otto bezeichnet. Der junge Mann, der sich über meine Begeisterung freute, führte den Knoten mehrfach in Zeitlupe vor, hin und zurück, sodass ich die Seele des Knotens nach und nach verstehen konnte. Es war ein Freitag, es regnete leicht. Ich fuhr dann nach Giudecca zurück, besuchte einen kleinen Markt, ich glaube, ich war der einzige Fremde an diesem Ort gewesen. Ich kaufte einen Pecorino Siciliano, 100 Gramm. Auch heute leichter Regen, der unverzüglich im Meer verschwindet. — stop
cimitero s. michele
victor : 22.24 UTC — Auf der Insel Giudecca existiert an eine Brücke gelehnt ein Aufzug für Menschen, die nicht in der Lage sind, Treppen zu steigen. Der Aufzug soll nun seit beinahe 3 Jahren außer Dienst genommen sein. Ich hätte davon keine Kenntnis erhalten, wenn ich nicht zufällig hörte, wie ein alter Mann sich wegen dieses kranken Aufzuges empörte. Er saß in einem Rollstuhl auf einem Balkon nur wenige Meter entfernt von der Brücke und warf Brot in die Luft, welches von Möwen im Flug aufgefangen wurde. Der Mann schimpfte in englischer, bald in französischer Sprache, als ob er ganz sicher gehen wollte, dass jene Menschen, die die Brücke überquerten, seine Nachricht verstehen würden. An diesem Abend, da der wütende Mann die Administration der Stadt Venedig verdammte, wäre ich sehr gerne sofort in das Wasser zu meinen Füßen gesprungen, um den Reiz der Mückenstiche, die ich während eines Besuches des Friedhofes San Michele hinnehmen musste, durch Kühle zu lindern. Es war am Nachmittag gewesen, ich plante das Grab Joseph Brodskys zu besuchen, musste aber bald vor dutzenden Raubtieren flüchten, die sich auf zartschillernden Flügeln kaum hörbar näherten in einer Weise, die mir koordiniert zu sein schien. Polizisten suchten auf dem Friedhof nach zwei Frauen. Ich hatte kurz zuvor beobachtet, wie sie den Friedhof betraten. Sie trugen schwarze Kleider und schwarze Stiefel und schwarze Handschuhe, auch ihr Haar war schwarz gefärbt und ihre Augen wie von Kohle umrandet, sie waren vollständig in Schwarz dargestellt, aber ihre Haut war weiß gepudert. — Vor dem Fenster pfeifen leise Vögel wie Sprechen. — stop
mercato
echo : 22.08 UTC — Immer der Nase entlang spazierte ich zum Markt, wo nachmittags Seemöwen stolzierten über den Boden, den sie längst so gründlich durchsucht hatten, dass Fisch gerade noch als Erinnerung feinster Moleküle in der Luft zu finden war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaunlich. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an einen frühen Morgen vor vielen Jahren. Ich trat damals zur Zeit der Dämmerung auf den Markusplatz. So dicht ruhte Nebel über der Lagune, dass ich nur wenige Meter weit sehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig voran. Vor irgendeinem Kaffeehaus hielt ich an, setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Irgendwo im Luftwasserzimmer, in dem ich Platz genommen hatte, hörte ich Stimmen von Männern, die miteinander sprachen. Auch waren immer wieder Pfiffe zu hören, wie Radare oder Signaltöne. Es waren Männer mit vermutlich Reisigbesen, die den riesigen Platz Kraft ihrer Arme und Hände fegten. Auch Melodien waren zu hören gewesen. Ich wartete ungefähr eine Stunde und lauschte. Nie habe ich einen dieser Männer gesehen, aber ich habe von ihnen vielfach erzählt. Es scheint überhaupt die Zeit, da man sich in Venedig noch verlaufen konnte, vorüber zu sein für alle Menschen, die über eine Schreibmaschine mit GPS-Verbindung verfügen. Es ist, glaubt mir, ein Vergnügen, diese Radarschreibmaschine auszuschalten und loszugehen und nach da und dort zu laufen, stets in dem Glauben, man wüsste, wo man sich befindet. Es bleibt dann nichts weiter zu tun, als nach einer halben Stunde die Schreibmaschine hervorzuholen und nachzusehen und sich zu wundern und zu freuen. — stop
san marco
echo : 8.15 UTC — In der vergangenen Nacht habe ich geträumt, wunderbare 5 Jahre lang geschlafen zu haben. Als ich erwachte fühlte ich mich wohl, dann bemerkte ich, dass ich im Wasser stand bis zum Bauch. Das Wasser war warm, es roch nach Tang und nach Salz und nach Öl in diesem Augenblick des Erwachens. Ich hörte vor dem Fenster die Stimmen spielender Kinder. Ich sah mich um und dachte: Was für ein schöner Anblick, all diese Lichter, es muss Nacht sein, Schiffe fahren herum, die von Vögeln gezogen werden, als wären sie Pferde. Dann erwachte ich erneut. Es war früher Morgen, anstatt Kinderstimmen, hörte ich die hell pfeifenden Stimmen einiger Seemöwen. Ich trat an ein Fenster, sah auf den Hof. Da waren tatsächlich Möwen. Sie versuchten Mülltüten zu öffnen. Manche der Mülltüten lagen auf dem Boden, andere hingen in den Bäumen. Ich fand, die Möwen waren nicht sehr geschickt im Öffnen der Mülltüten. Plötzlich hüpften Kinder auf der Gasse herum. Sie trugen Schulranzen auf dem Rücken und Telefone mit Bildschirmen in ihren Händen. Immer wieder blieben sie stehen und steckten die Köpfe zusammen und lachten. Ich bemerkte, dass der Oleander vor dem Westfenster im Hof zu blühen begann. Es waren rote Blüten. Gestern Abend habe ich Menschen beobachtet, die auf dem Markusplatz um eine Öffnung im Boden standen, aus welcher Wasser sickerte. Sie fotografierten, aber das Wasser war sehr wenig, weswegen sie heranzoomen mussten. Auch waren da Menschen, die Tango tanzten nach Melodien eines Kaffeehaus-Orchesters. — stop
alberoni
india : 22.06 UTC — Regenwindtücher wandern in der Ferne vor Bergen, die sich am Horizont deutlich abbilden. Vom Lido aus, an der Meerenge zur Inselzunge Palestrina, öffnet sich ein weiter Blick nordwärts über die Lagune hin. Das Meer noch beruhigt, Muschelfangstationen setzen wie gezeichnet feine Akzente, hölzerne Finger, zu Reihen gruppiert, jenseits der Wasserbahnen, die mittels mächtiger Bohlen markiert worden sind. In Alberoni steige ich aus, spaziere an Leuchttürmen vorbei, eine Mole entlang, mächtige Steine. Da sind ein wilder Wald und sumpfige Mulden, in welchen Fischchen blitzen, Wolkenstrukturen, die des Himmels und die der Schuppenhautschwärme. Ich nähere mich Schritt für Schritt, irgendwo da unten in der Tiefe der Wasserstraße hin zum offenen Meer soll sich M.O.S.E. befinden. Eine junge Venezianerin erklärte noch: Bad Projekt! Und wie sich ihre Augen angesichts des Bösen verdunkelten, meinte ich meinen Wunsch, M.O.S.E zu besuchen, verteidigen zu müssen. Die Sonne geht langsam unter. Rötlich glimmende Stäbe nahe des schmalen Mundes zur Lagune erscheinen, als würden sie in der Nacht auf die Existenz des schlafenden Schutzriesen unter der Wasseroberfläche verweisen. Da liegt ein verlassener Kinderspielplatz in Meeresnähe unter Oleanderbäumen. Ein sandiger Strand, Muscheln, hölzernes Treibgut, drei Möwen, ein Angler, Fußspuren im feuchten Sand, die die aufkommende Flut bald verschlingen wird. Im Wasser selbst drei menschliche Köpfe, die lachen, und ein weiterer Kopf, der sich parallel zur Küste schwimmend hin und her bewegt, nur nicht die tiefere Zone dieses Meeres berühren, in dem so viele Menschen bereits ertrunken sind. In einem Regal des Kinderspielplatzes entdecke ich heimwärts gehend einige Bücher, kurz darauf einen Fußabdruck, den ich selbst hinterlassen haben könnte. — stop
lido santa maria elisabetta
tango : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Automobile kenne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stunden der Fahrt mittels Wasserbussen hin und her und herum, muss ich deshalb an Land gehen, muss meine Schreibmaschine mit Strom versorgen, um arbeiten zu können. Ich stellte mir einmal vor, wie ich unter Venezianerinnen und Venezianern sitze mit einer klappernden Olympiaschreibmaschine auf den Knien. Oder das Notieren von Hand in ein Notizbuch auf schwankenden Sitzgelegenheiten der Dampfschiffchen reisend. Man kann niemals erahnen, in welche Richtung sich die Welt bewegen wird. Plötzlich fährt die Stiftspitze unter der Hand sprunghaft vorwärts oder rückwärts, zieht eine Linie jenseits geplanter Schriftzeichen, bildet die Bewegung des Meeres auf Notizpapieren nach. In der digitalen Zeit werden verrückte Zeichen, Folge der Meeresbewegung von dem Korrekturgedächtnis der elektrischen Schreibmaschine unverzüglich korrigiert. Eine wunderbare Beobachtung ist, wie ich sicherer werde im Stehen auf dem Wasser im Bus. Beobachtete hunderte Male Knotenbindung in dem Moment, da sich das Batello dem Lande nähert, da es anzulegen wünscht, sodass es für einen kurzen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Menschen dann über Brücken gehen, wie tanzen. Am Abend einmal spürte ich die uralte Stadt selbst unter mir schwanken. Da ich mich in diesem Augenblick dem Lido nähere, bemerke ich, dass ich die Erfindung der Automobile bereits nach wenigen Tagen vergessen habe. — stop
palanca
echo : 22.52 UTC — Abends von der Vaporettostation Palanca her die Küste nach Zitelle spaziert, dann wieder ein kleines Stück zurück. Es ist bald spät geworden, kurz nach 10 Uhr. Langsam, von Schleppern gezogen, bewegt sich in diesem Augenblick das Personenfrachtschiff Queen Mary 2 durch den Giudecca Canal ostwärts in Richtung des offenen Meeres. Da stehen Menschen weit oben an Deck hinter der Reling, die so klein sind, dass man, ohne ein Fernrohr zu verwenden, nicht zu erkennen vermag, ob sie vielleicht winken, man könnte sie für armlose Wesen halten. Weit links, zur Seite gerückt in den Schatten einer Brüstung, hockt auf einer Stufe der Steintreppe zur Chiesa del Santissimo Redentore hinauf, eine junge Frau, die etwas durcheinander zu sein scheint. Da ist ein Koffer, geöffnet. Sie hat den Inhalt des Koffers, Kleider, Schuhe, einen blinkenden Kamm, und Blusen, auch einen Sommerhut, um sich herum ausgebreitet. Sie sitzt dort im Kreis ihrer Besitztümer wie in einem Nest, trinkt aus einer Flasche Wein, und flucht mittels italienischer Sprache zu dem Schiff hinauf, dass es eine wahre Freude ist. Man wird sie dort oben in der Ferne kaum hören, nur ich vermutlich, der in ihrer Nähe hockt und das Wasser beobachtet, das dunkel schimmert. Es die Zeit der Flut bereits. Das Wasser berührt die Kronen der Quais, da und dort geht es an Land, um über das uralte Pflaster zu züngeln. Eine Gruppe von Ameisenschatten passiert mich westwärts, eine halbe Stunde später kommen sie mit ein paar Brosamen zurück. Beständiges Brummen. Gestern war ein sonniger Morgen gewesen, da wurde ich von einem hellen Pfeifen geweckt. Ich öffnete das Fenster, eine Frau grüßte vom gegenüberliegenden Haus herüber, sie brachte an einem Seil, das ein Rädchen an der Fassade meines Hauses bewegte, gerade feuchte Tücher aus, so haben wir Kinder noch Seilbahnen von Haus zu Haus gezogen. — stop
ferrovia
alpha : 18.02 UTC — Ich kam mit dem Zug nach Venedig, trat auf den Vorplatz des Bahnhofsgebäudes, hörte, vertraut, das Brummen der Vaporettomotoren, bemerkte das dunkelblaugraue Wasser, und einen Geruch, auch er vertraut, der von Wörtern noch gefunden werden muss. Und da war die Kuppel der Chiesa di san Simeone Piccolo im Abendlicht, und es regnete leicht, kaum Tauben, aber Koffermenschen, hunderte Koffermenschen hin und her vor Ticketschaltern, hinter welchen geduldige städtische Personen oder Furien warteten, die das ein oder andere Drama bereits erlebt hatten an diesem Tag wie an jedem anderen ihrer Arbeitstage. Und da war mein Blick hin zur Ponte degli Scalzi, einem geschmeidigen Bauwerk linker Hand, das den Canal Grande überquert. Ich will das schnell erzählen, kurz hinter Verona war ich auf den Hinweis gestoßen, es habe sich dort nahe der Brücke, vor den Augen hunderter Beobachter aus aller Welt, ein junger Mann, 22 Jahre alt, der Gambier Pateh Sabally, mittels Ertrinkens das Leben genommen. Ein Mensch war das gewesen, der auf gefährlicher Route das Mittelmeer bezwang. Niemand sei ihm zu Hilfe gekommen, ein Vaporetto habe angehalten, man habe einige Rettungsringe nach ihm geworfen, aber er habe nicht nach ihnen gegriffen, weshalb man eine oder mehrere Filmaufnahmen machte, indessen man den jungen Mann ermutigte: Weiter so, geh nach Hause! Das war im Januar gewesen, das Wasser der Kanäle kalt wie die Betrachterseelen. In diesem Augenblick, als ich aus dem Bahnhof in meinen venezianischen Zeitraum trat, war keine Spur der Tragödie dort unter dem Himmel ohne Tauben zu entdecken, außer der Spur in meinem Kopf. — stop
zattere
ulysses : 20.32 UTC — Jenes einsame Nadelblattgewächs in der Form der Pinienbäume unweit der Ponte agli Incurabili könnte Joseph Brodsky bei Regen noch beschirmen. Von dort soll der Dichter gern über den Kanal nach Giudecca geschaut haben. Ich erwartete eine Bank von Stein oder von Holz, vergeblich. Vielleicht wird Joseph Brodsky sich zur Beobachtung des Wassers einen kleinen Klappstuhl mitgenommen haben oder liess die Beine von der Quaimauer baumeln, sie werden vermutlich bald nass geworden sein. Wenn ich nur lange genug nach Westen schaue zu den Hafenanlagen hin, kann ich Joseph Brodsky sitzen sehen, wie er sich mit den Wellen des Meeres unterhält, ihre Bewegung erforscht. Wie sich in diesem Augenblick, es ist kurz nach 8 Uhr, ein braunrosafarbener feuchter Elefantenrüssel aus dem Wasser erhebt, wie er bebend die Luft sondiert, wie er sich dem Dichter nähert, als wäre er noch immer dort, Fondamenta degli Incurabili. – stop