0.02 — Eine wunderbare Geschichte habe ich entdeckt, eine Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda. Ich darf sie rasch notieren: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fadigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die Blume, die weiß war, wird blau von oben bis unten. Sie sagen: — Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
Aus der Wörtersammlung: fliegen
luftgeräuschworte
2.15 — Gestern Abend gegen zehn Uhr wusste ich in einem Text nicht weiter, weil ich mich nicht erinnern konnte, welche Geräusche die Flügel einer Eintagsfliege in der Luft erzeugen. Ich hatte ein helles Propellergeräusch im Ohr, aber immer dann, wenn ich dieses Geräusch zu einem Geräusch hunderttausender Fliegentiere summieren wollte, der Verdacht, mit meiner Erinnerung könnte etwas nicht ganz in Ordnung sein. Ein Schwarm der Ordnung Ephemeroptera ist in der Luft kaum zu vernehmen. Habe fünf oder sechs Schwarmerscheinungen beobachtet, sie sind lautlos, wirbelnder Schnee. Und doch war da ein Ton, sobald eine Fliege dicht an meinem Ohr vorüber gekommen oder in nächster Nähe auf mir gelandet ist. — Ein zartes Klappern vielleicht? — Luftgeräuschworte erfinden. — stop
kolibri
3.01 — Ich wurde, noch nicht lang her, gefragt, worin denn die Vorzüge eines Lebens auf Bäumen zu sehen seien. Hört zu, habe ich geantwortet, keine Zeitung, kein TV. Ruhe. Fast Stille. Etwas Pfeifen, etwas Schnattern. Käfer. Ameisentiere. Und Affen, größere Gruppen frecher Affen. Tamarine. Die Kerle drohen mit längst vergorenen Früchten, die sie für Geschenke halten. Moskitos. Fauchende Schaben. Kein Besteck, keine Waffen, keine Telefone. Abendsegler. Leichtere Fliegen. Fliegen in Blau, in Rot, in Schwarz. Schnelle Spinnen. Abwartende Spinnen. Regen. Warmes Wasser. Die Stämme der Bäume, die so hoch aufragen, dass man ihre Kronen nicht mit Blicken erreichen kann, auf und ab, auf und ab, Schiffsmasten im Hafen vor Sturm. Deshalb Seekrankheit, deshalb Höhenangst. Aber Vögel, sehr kleine Vögel. Flügel. Unschärfen der Luft. Öffnet man vorsichtig den Mund, wird man für eine Blüte gehalten. — stop
rote handtasche tot
20.50 — Die alte Frau mit der roten Handtasche ist tot. Während des Tages irgendwann muss sie im Hospital gestorben sein. Jetzt, es ist ohne sie wieder Abend geworden, verlässt ihr Fernsehgerät das Haus. Ein Hin und Her auf der Straße, noch nie gesehene, tieffliegende Vögel. Im Haus, vom Flur her, Kampfgeräusche, Gezeter, Verwünschungen, Empfehlungen, heisere Stimmen. Der Sohn ist da und der Sohn des Sohnes, betrunken steht der blutjunge Geier auf der Straße herum und regelt den Verkehr. Wohnungsauflösung. Nun, zu vorgerückter Stunde, hat sich mir das Wort erschlossen. Ein Prozess der Entropie, der Verwertung, des Verschwindens. Ich sehe die Verschwundene wie im Traum, eine 89-jährige Frau in bunter Kleidung, Stehlampe in der Hand, das Haus verlassen. Unlängst noch war sie unterwegs gewesen. Sie hatte bereits den Gang der Hochseematrosen. Manchmal rastete sie im Schatten der Bäume. Sie ging spazieren, als melde sie sich, Tag für Tag, bin noch am Leben. Niemand weiß genau, wie lange sie in der Gegend, diesem Haus, dieser Wohnung lebte, sie war schon hier, als Bomben fielen, und noch immer, bis gestern, stolz und einsam und zu langsam für die rasende Stadt. Jawohl, sie war stolz gewesen, ließ sich nicht helfen, niemand durfte ihr Milch oder den Sand für ihre Tiere durch das Treppenhaus in die Wohnung tragen. Manchmal heulte das Fernsehgerät durch die Wand. Jetzt ist es vorbei, jetzt werden Monteure und Maler kommen. Es ist vorbei, auch für die Katzen. — stop
Saint-Exupery
20.17 — Träumte, hinter dem Dichter Saint-Exupéry in einem Doppeldeckerflugzeug zu sitzen, offen im Wind über einer Wüste fliegend. Vor mir, in nächster Nähe, der Kopf des Dichters im Ledermantel, hin und her geworfen von Turbulenzen in der kühlen Höhenluft. Tief unter uns, in flirrender Hitze, rasch wandernde Dünen. Wir rasen entlang eines dunklen Bandes, das sich wie eine Schlange durch Täler windet. Dominosteine. Da und dort Beduinen, die ihre Zelte aufgeschlagen haben auf den Partikeln des Spiels. Kamele trinken aus Augenfeldern, die ohne Grund sind, dunkel, als seien Räume hinter ihnen angeschlossen. Von Zeit zu Zeit explodieren schwarze Wölkchen neben den Tragflächen des Flugzeugs, Qualm, der nach Schwefel duftet, nach Feuer und knallt. Plötzlich dreht sich der lederne Kopf herum. Fliegerbrille. Augen von altem Glas. Saint-Exupéry spricht, aber anstatt Wörtern, schießt ihm Wasser aus dem Mund. — stop
propellerfliege
1.02 – Heute Nacht ist etwas Seltsames geschehen. Ich habe einer Fliege beim Fliegen zugehört. Vielleicht könnte ich sagen, dass Fliegentiere Propellerflugzeugen in ihrer akustischen Erscheinung ähnlich sind. Sie sind bereits zu hören, wenn sie noch zu weit entfernt sind, um sie mit den Augen wahrnehmen zu können. Das Geräusch einer fliegenden Fliege lässt mich an feuchtes Holz denken und an geölte Zahnräder und an Schrauben, die aus Elfenbein gemacht sind. Wie ist diese lebende Fliege in meinem Winterzimmer möglich gewesen? — stop
popcorn
22.38 — Die Vorstellung, man könnte einmal Käfer in Tüten kaufen, so wie man Popcorn in Tüten kaufen kann. Käfer in grünen Panzern, die nach Pistazien schmecken, und Käfer in roten Panzern, sie schmecken nach Johannisbeeren, und Käfer in gelben Panzern, sie schmecken nach Melisse. Sobald man eine Tüte öffnet, fliegen sie los. Sie sausen ein paar Runden durch die Luft, verdrehen einem den Kopf, um sich unverzüglich in jeden Mund zu stürzen, der sich vor ihnen öffnet. Dort dann zerplatzen sie mit einem zarten Geräusch in einem vollendeten Aromastern. — Wong Kar-Wai’s wunderbarer Nachtvogel ohne Füße, der niemals landet. — stop
libelle
17.57 — Eine Libelle, die dicht über der Wasseroberfläche nach Fliegen jagt. Höre das Brummen ihrer Flügel. Ein kraftvolles Geräusch. Eines dieser Geräusche, die man mit dem Bauch zu hören meint, als wären dort geheime Ohren für Libellengeräusche angebracht. In diesem Moment nun, die Libelle schwebt fast bewegungslos vor mir in der Luft, der Gedanke, man sollte winzige Generatoren auf den Rücken der Libellen verschalten, genau dort, wo die Mechanik des Fluges aus ihrer Brust entsteht. — Das schöne Licht der Dioden über den Sommerseen. — Existieren vielleicht heimliche Strukturen in meinem Körper, die nicht bereits mit einem griechischen oder lateinischen Namen bezeichnet sind? — stop
plankton
21.22 — Gestern Abend, ich hockte im letzten Licht der Sonne auf dem Fensterbrett, habe ich entdeckt, dass ich die Luft, sobald ich ihre feinen Stäube als Plankton und Fliegen und Falter als Fische betrachte, für eine Flüssigkeit, sagen wir, für ein Meeresgewässer halten kann. — stop
fliegen
7.15 — Ich bemerkte unlängst, dass ich beide Arme hebe, also von mir abwende, also Flügel mache, sobald ich durch die Wohnung laufe und darüber nachdenke, wie es wäre, ohne jedes Gewicht zu sein. — Haben Menschen des 19. Jahrhunderts eine Vorstellung von einem Zustand bewegungsloser Schwerelosigkeit erzeugt? — stop