Aus der Wörtersammlung: louis

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loop

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romeo : 0.58 UTC — Noch ehe ich das Fern­seh­ge­rät in Gang set­ze, weiß ich was gespielt wird. Viel­leicht wird es mich im Herbst wie­der fröh­li­cher stim­men? Seit heu­te ver­fü­ge ich über einen fei­nen Pin­sel, mit dem ich Kaf­fee­pu­der aus den Maga­zi­nen mei­ner Kaf­fee­müh­le fächern wer­de. Als ich Kind war, lern­te ich, dass ich mit einem Pin­sel die­ser Art nicht in Farb­töp­fe fah­ren darf. Wie es wohl kommt, dass Geschich­ten plötz­lich wie aus dem Nichts ent­ste­hen? Die Geschich­te von den Apfel­bäu­men zum Bei­spiel. Im Radio mor­gens noch war von Haar­pin­seln und Bie­nen die Rede gewe­sen. — stop
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sandwellenwinde

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alpha : 22.18 UTC — Man kann Geschich­ten erzäh­len über das, was man foto­gra­fiert, das ahne ich schon lan­ge. Vater bei­spiels­wei­se erzähl­te, wie er mit Mut­ter an einem hei­ßen Nach­mit­tag Coney Island besuch­te, wie sie im war­men Sand sit­zen, wie er sei­ner gelieb­ten Frau berich­tet, dass er schon ein­mal an die­sem Ort gewe­sen sei, da kann­ten sie sich bereits. Vie­le Jah­re spä­ter wer­de ich mei­nem Vater erzäh­len, dass ich eine Foto­gra­fie besuch­te, die er gefer­tigt hat­te, als ich noch nicht ganz fünf Jah­re alt gewe­sen war. Ich sag­te: Es ist, lie­ber Vater, tat­säch­lich, wie Du berich­test. Man fährt eine hal­be Stun­de mit der Sub­way vom Washing­ton Squa­re aus in süd­west­li­che Rich­tung, dann ist man am atlan­ti­schen Meer und der Him­mel hell über dem Was­ser. Hef­ti­ge Sand­wel­len­win­de fau­chen mir über die Stirn, wie ich auf die­sem Boden gehe, der fest ist. Zer­bro­che­ne Muscheln, Scher­ben von bun­tem Glas, Som­mer­be­stecke, Schu­he, Wod­ka­fla­schen, Lip­pen­stif­te, Holz, Kno­chen. Da und dort haben sich schar­fe Kan­ten gebil­det unter der stren­gen Hand der Win­ter­stür­me, dunk­le, fes­te Struk­tu­ren, in wel­chen sich Spu­ren mensch­li­cher Füße fin­den, als wären sie ver­stei­nert. Bald Brigh­ton Beach. An den Wän­den der Häu­ser ent­lang der See­pro­me­na­de sit­zen alte rus­si­sche Frau­en, wohl ver­packt, auf­ge­ho­ben in die­sem Bild fros­ti­ger Tem­pe­ra­tur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Isaac Bas­he­vis Sin­ger, der hier spa­zier­te lang vor mei­ner Zeit. — stop

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seltsame geschichte

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india : 16.28 UTC — Ich lie­ge auf dem Rücken, mit Schreib­ma­schi­ne auf dem Bauch und sehe Hän­den zu, wie sie über Tas­ten hüp­fen. Ich schrei­be gern so mit den Fin­ger­hän­den. Ich habe das heu­te zum ers­ten Mal bemerkt, dass ich mit den Mit­tel­fin­gern schrei­be, nicht mit den Zei­ge­fin­gern, wann hat das ange­fan­gen? Wann habe ich Zei­ge­fin­ger auf­ge­ge­ben? — stop
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eine taube

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lima : 22.12 UTC — Die Bil­der des letz­ten Films, den mein Vater mit sei­nem Foto­ap­pa­rat auf­ge­nom­men hat­te, zei­gen sei­ne Hose, sei­ne Schu­he, Trep­pen­stu­fen, eine Tau­be. Als ich die digi­ta­len Foto­gra­fien für mei­nen Vater auf sei­nem Com­pu­ter öff­ne­te, hock­te der alte Mann in der Betrach­tung sei­nes letz­ten Films vor dem Bild­schirm und klick­te immer schnel­ler wer­dend von Bild zu Bild. Er sag­te, dass er sich an das, was er foto­gra­fiert hat­te, genau erin­ne­re. Da war eine Land­schaft nahe Prag durch das Zug­fens­ter auf­ge­nom­men, da war eine wei­te­re Land­schaft, kurz nach­dem der Zug den Pra­ger Bahn­hof ver­las­sen hat­te, da war ein tan­zen­des Paar auf einem Donau­rei­se­schiff nahe Buda­pest. Und da war Mut­ter, die neben einem Ret­tungs­boot des­sel­ben Schif­fes stand und lächel­te. Vater hat­te unge­fähr 50 Auf­nah­men gefer­tigt, jede der Auf­nah­men zeig­te nun sei­ne Schu­he, sei­ne Hose oder eben eine Tau­be, die zu sei­nen Füßen Brot­kru­men pick­te. Er war ver­zwei­felt. Da stand ich lei­se auf und such­te nach sei­ner Kame­ra. Ich bin doch nicht ver­rückt gewor­den, sag­te Vater. Nein, ant­wor­te­te ich, schau her, Du bist nicht ver­rückt gewor­den! Vater nahm sei­ne Kame­ra in die Hand. Er schüt­tel­te den klei­nen, fla­chen Appa­rat und sag­te: Na, das ist mein viel­leicht selt­sams­ter Film gewor­den. Die­se Tau­be hier, da waren wir schon auf dem Schiff gewe­sen. Es war Nach­mit­tag. Ich muss etwas an der Kame­ra ver­stellt haben. Die­ses Räd­chen hier könn­te es gewe­sen sein. Immer Sekun­den zu spät. Na, so was, sag­te Vater. — stop

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katzenauge

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marim­ba : 15.01 UTC – Ich konn­te bereits ste­hen, aber ich sit­ze lie­ber, weil ich gera­de mit mei­ner höl­zer­nen Eisen­bahn spie­le. Mein Vater steht in die­sem Augen­blick vor mir. Ich erin­ne­re ich an sei­nen roten Pull­over. Er hält ein Käst­chen in der Hand, das an einer sei­ner Sei­ten fun­kelt, eine Art farb­lo­sen Kat­zen­au­ges. Ich ken­ne die­ses Käst­chen, ich konn­te es ein­mal fan­gen, als es über mir in der Luft pen­del­te, da war ich noch so klein gewe­sen, dass ich das Käst­chen in den Mund neh­men woll­te. Ich weiß, dass mein Vater sich dar­auf vor­be­rei­tet, mich zu foto­gra­fie­ren, des­halb hält er das Käst­chen in der Hand. Ich wer­de spä­ter ein­mal erfah­ren, dass mein Vater das Licht misst, wenn er das Käst­chen in Hän­den hält. Er will wis­sen, wie weit er das Auge des Foto­ap­pa­ra­tes öff­nen muss, um sei­nen Sohn, der Eisen­bahn spielt, auf­neh­men zu kön­nen. Manch­mal sagt Vater: Lou­is, schau her. — stop

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poetik der drohnen

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marim­ba : 3.28 UTC – Wie­der ein­mal die Fra­ge drän­gend, ob viel­leicht eine Poe­tik gut­mü­ti­ger Droh­nen denk­bar ist? Das sind, stel­le ich mir vor, freund­li­che Wesen, unbe­waff­net, lei­se, flink, von der Grö­ße der Tau­ben­schwänz­chen. Sie ver­fü­gen, wenn mög­lich, über Atom­her­zen, beglei­ten Men­schen rund um die Uhr, immer nur eine Per­son, ver­zeich­nen das Leben die­ser Per­son, ihre Rou­ten, Gewohn­hei­ten, Aben­teu­er, fil­men und schrei­ben in mensch­li­cher Spra­che. 5.12 UTC: Lou­is träumt. Going to sleep. — stop

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apollo

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nord­pol : 15.02 UTC — Es war Nacht, eine beson­de­re Nacht, die ers­te Nacht, da Lou­is von sei­nem Vater zu einer Stun­de geweckt wur­de, als noch wirk­lich Nacht war und nicht schon hal­ber Mor­gen. Die zwei Män­ner, der klei­ne und der gro­ße Mann, saßen vor einem Fern­seh­ge­rät auf einem wei­chen Tep­pich und schau­ten einen schwarz-wei­ßen Mond an und lausch­ten den Stim­men der Astro­nau­ten. Man sprach dort nicht Eng­lisch auf dem Mond, man sprach Ame­ri­ka­nisch und immer nur einen Satz, dann pieps­te es, und auch Lou­is Vater pieps­te auf­ge­regt, als sei er wie­der zu einem Kind gewor­den, als sei Weih­nach­ten, als habe er soeben ein neu­es Teil­chen im Atom ent­deckt. In jener Nacht beob­ach­te­te Lou­is sei­nen Vater, wie er den Bild­schirm des Fern­seh­ge­rä­tes mehr­fach foto­gra­fier­te, Minu­ten, die mei­ne Auf­merk­sam­keit für die Gegen­wart moder­ner Licht­fang­ma­schi­nen schärf­ten. Wor­auf sich das Objek­tiv eines Foto­ap­pa­ra­tes rich­te­te, war von Bedeu­tung, ein Radier­gum­mi, ein Schiff, das den Hafen der Stadt Chi­ca­go ver­lässt, ein roter Schuh, in dem sich mein lin­ker Fuß befand, der gera­de drei Jah­re alt gewor­den war. — stop

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dunkelkammer

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echo : 0.06 UTC — Ich ste­he vor einer Tür. Ich bin groß genug gewor­den, um die Klin­ke der Tür mit einer Hand zu errei­chen. Ich ver­su­che die Tür zu öff­nen, da ruft Mut­ter, nicht Lou­is, Papi arbei­tet. Aber das war selt­sam, weil das Zim­mer hin­ter der Tür das Bade­zim­mer gewe­sen war, nicht das Arbeits­zim­mer, das gab es auch. Mut­ter sag­te: Dein Vater ent­wi­ckelt Bil­der, es muss dun­kel, stock­dun­kel sein im Zim­mer, Du musst etwas war­ten, mein Schatz, Papi wird bald her­aus­kom­men. Ich erin­ne­re mich, dass ich mich auf den Boden leg­te und unter der Tür zum Bade­zim­mer hin­durch späh­te. Ich konn­te Vaters Radio hören, und ich beob­ach­te rotes Licht, das im Bade­zim­mer leuch­te­te, sodass ich dach­te, das Radio wür­de viel­leicht rot leuch­ten. Es ist nicht dun­kel, sag­te ich, Mut­ter ant­wor­te, doch, doch, das ist Vaters Dun­kel­kam­mer. Ver­mut­lich weil ich erleb­te, was ich gera­de erzähl­te, bewirk­te, dass ich mit Radio­ap­pa­ra­ten noch Jah­re spä­ter rotes Licht in Ver­bin­dung brach­te. Dann, bald, wur­den Radi­os grün, wegen ihres leuch­ten­den Auges. Es waren Röh­ren­ge­rä­te. — stop

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vom winterflieder

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sier­ra : 20.01 UTC — Manch­mal, wenn es reg­ne­te an Nach­mit­ta­gen, wur­de Nacht gemacht. Das Licht des Tages drau­ßen aus­ge­sperrt, nah­men wir Kin­der im Wohn­zim­mer Platz auf dem Sofa, auf dem Boden, auf Stüh­len und war­te­ten, dass Vater sei­ne Licht­ma­schi­ne, die er längst vor­be­rei­tet hat­te, end­lich star­ten wür­de. Da war eine Lein­wand, und da waren beschrif­te­te und geripp­te Behäl­ter von Kunst­stoff, in wel­chen sich Sekun­den­zeit reih­te, Zeit­ab­tei­le, die wir bald anse­hen wür­den und davon berich­ten, wann das war und wo das war und wer das gewe­sen war auf der Lein­wand bewe­gungs­los. Da dach­te ich ein­mal, da hast Du Lou­is aber streng geschaut, da hät­test du viel­leicht ein Lächeln der Kame­ra schen­ken sol­len, da kann man jetzt nichts mehr machen. Du schaust aber melan­cho­lisch drein, sag­te mein Bru­der, und ich sag­te: Das nächs­te Bild, wei­ter, bit­te wei­ter! Und da war dann ein Flie­der­baum zu sehen, es war Win­ter, und der Flie­der brü­te­te Schnee­flo­cken aus, und das Licht­ge­rät rausch­te und das blü­hen­de Bild stand so lan­ge still, bis mein Vater auf jenen roten Knopf sei­ner Fern­steue­rung drück­te. — stop

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kalkutta

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echo : 0.25 UTC — Ein­mal woll­te ich nach Kal­kut­ta rei­sen. Ich dach­te, das ist jetzt eine beschlos­se­ne Sache. Ich mach­te mich unver­züg­lich an die Vor­be­rei­tung mei­ner Rei­se: Kof­fer, Regen­schirm, Aus­weis, Apo­the­ke, Imp­fun­gen, Notiz­bü­cher, Schreib­ma­schi­ne, Foto­ap­pa­ra­te, Flug hin und zurück, Hotel­zim­mer, Stadt­plan, Lite­ra­tur, Son­nen­hut. Weni­ge Tage spä­ter erreich­te mich ein ers­tes Paket des Doku­men­tar­films Phan­tom Indi­en von Lou­is Mal­le. Ich las, der Film habe ins­ge­samt eine Spiel­zeit von 6 Stun­den und 3 Minu­ten. Solan­ge Zeit, stell­te ich mir vor, könn­te eine Fahrt quer durch Kal­kut­ta mit dem Taxi dau­ern. Es ist nun über­haupt die Fra­ge, wie lan­ge Zeit soll­te ich mich mit der Vor­be­rei­tung mei­ner Rei­se nach Kal­kut­ta beschäf­ti­gen? — Lan­ge Zeit in der ver­gan­ge­nen Nacht das nord­ame­ri­ka­ni­sche Fern­se­hen beob­ach­tet. Wie man sich in den Wor­ten, wenn man sie spürt, fin­den kann, kann man sich im Rau­schen rasen­der Wor­te ver­lie­ren. — stop
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