nordpol : 15.32 UTC — Das Wort Маріуполь in meinem Gehirn, sobald ich das Wort Маріуполь denke. Wie viel Gramm?
Aus der Wörtersammlung: nordpol
ein mann mit buch
nordpol : 16.05 UTC — In einer Filmdokumentation, die den Schriftsteller Jonathan Franzen fünf Tage lang während einer Lesereise begleitet, folgende berührende Szene, die sich im New Yorker Arbeitszimmer des Autors ereignet. Jonathan Franzen hält seine Schreibmaschine, ein preiswertes Dell – Notebook, vor das Objektiv der Kamera. Er deutet auf eine Stelle an der Rückseite des Gerätes, dort soll früher einmal ein Fortsatz, eine Erhebung zu sehen gewesen sein. Er habe diesen Fortsatz eigenhändig abgesägt. Es handelte sich um eine Buchse für einen Stecker. Man konnte dort das Internet einführen, also eine Verbindung herstellen zwischen der Schreibmaschine des Schriftstellers und der Welt tausender Computer da draußen irgendwo. Jonathan Franzen erklärt, er habe seinen Computer bearbeitet, um der Versuchung, sich mit dem Internet verbinden zu wollen, aus dem Weg zu gehen. Eine überzeugende Tat. Im Moment, da ich diese Szene beobachte, bemerke ich, dass die Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit auch in meinem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zerstreuung, Beliebigkeit erzeugen kann. Ich scheine in den Zeichen, Bildern, Filmen, die hereinkommen, flüssig zu werden. Dagegen angenehme Gefühle, wenn ich die abgeschlossene Welt eines Buches in Händen halte. — In Mariupol, so erzählt das Radio, soll ein alter Mann von einem Scharfschützen getötet worden sein, als er in einem Hinterhof in einem Buch lesend auf einer Bank saß. — stop
schneefliegen
nordpol : 1.15 UTC — Eine bislang unbekannte Fliegengattung soll unlängst in den Bergen Tibets entdeckt worden sein. Es handelt sich um Schneefliegen, die über einen außerordentlich feinen Pelz verfügen. Dieser Pelz nun, man würde in ihm zunächst ein evolutionäres Handicap unter Flugtieren vermuten, ist trotz seiner Dichte von außerordentlicher Leichtigkeit. Es wird berichtet, dass einige der Schneefliegen auf geheimen Wegen nach Europa transportiert worden seien, wo man sie eingehend untersuchte. Sie vermehren sich selbst in gewöhnlichen Kühlschränken bei Licht mit rasender Geschwindigkeit. Wovon sie sich ernähren, ist bisher nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib reißen kann, mit äußerst feinen Werkzeugen ist sicher. Über die Fabrikation von Fliegenpelzmänteln wird nun ernsthaft nachgedacht, über Fliegenpelzmützen, Fliegenpelzhandschuhe und weitere Gegenstände zur Wärmung menschlicher Existenz. — Das Radio erzählt von der Meeresbeobachtung eines Mannes im März des vergangenen Jahres. Er habe, sagt der Mann, mit eigenen Augen gesehen, wie Raketen ähnliche Flugkörper dicht über die Oberfläche des Wassers hin in Richtung der Stadt Mariupol geflogen seien. — stop
remember
nordpol : 0.05 UTC — “Aleksandra Skochilenko ist eine Songwriterin und Künstlerin aus Sankt Petersburg. Ihr wird vorgeworfen, Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt zu haben, darunter Informationen über die Toten durch die Bombardierung des Theaters von Mariupol. / Der Sankt Petersburgerin wird die “öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Ausübung der Befugnisse der staatlichen Organe der Russischen Föderation” gemäß dem kürzlich hinzugefügten Paragrafen 207.3 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen. / Aleksandra Skochilenko ist in der Kunstszene bekannt: Sie schreibt Lieder, verfasst Comic-Bücher und Cartoons, organisiert Konzerte und Jamsessions. Außerdem hat sie das bekannte “Buch über Depressionen” geschrieben, das dazu beiträgt, das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wurde mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt und hat vielen Menschen innerhalb und außerhalb Russlands geholfen. Viele Videos und Ausstellungen wurden durch das Buch inspiriert.” Aleksandra Skochilenko ist noch immer in Haft. Schreiben Sie einen Brief! — stop
kobane calling
nordpol : 20.58 — Vor Jahren, am 14. Oktober 2014, es war später Abend, überlegte ich, ob ich nicht sofort nach einem Telefonbuch der Stadt Kobanê suchen sollte, irgendeine Nummer notieren, sie anzuwählen. Um die Stadt wurde damals erbittert gekämpft, Kurdinnen und Kurden verteidigten Kobanê gegen Kämpfer des Islamischen Staates. Ich bemerkte bald, dass im Internet keine Telefonbücher der Stadt Kobanê zu finden sind, die ich entziffern könnte. Nehmen wir einmal an, ich würde nun heute an diesem Abend, es regnet, No 45 ist noch immer im Amt, zufällig ein Telefonbuch der Stadt Kobanê entdecken, und ich würde nun eine Nummer wählen, wer würde sich melden? — Das Radio erzählt, die Stadt Mariupol sei von Westen her mit dem Telefon noch immer kaum zu erreichen. — stop
=
nordpol : 12.25 UTC — h a n d b e b e n
eiszimmer
nordpol : 18.32 UTC — Vor bald zehn Jahren habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plante im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. — Das Radio erzählte von Menschen, die sich in der Stadt Mariupol über Pfützen beugten, um Wasser von der Straße zu trinken. — stop
krimlinie
nordpol : 15.12 UTC — In den vergangenen Tagen lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Asowregiment . aufpilzen . Bajonettmesser . Bellingcat . Berdyansk . Beschüsse . Clonodin . Doscht . Drohnenvogelschwarm . Elefantenmodellbauer . Evakuierungsgebiet . Evakuierungszonen . Ferghana . Funkmessfühler . Funkkommunikationsmodule . Gefechtsfeldbeleuchtung . Gefiederkarten . Halabuda . Hostomel. Krimlinie . Kirsjusha . Loznitsa . Lwiw . Marineinfanteriebrigade . Marineinfanterieeinheiten . Marineinfanterietruppen . Mariupolis . Mariupolstories . Maschinengewehrgeschosse . Maschinengewehrschüsse . Melitopol . Mobilfunkturm . Notfallkoordination . Panzerglaschiffe . prorussisch . Peskow . Putin-Versteher . Quinoa . Rachmaninow . Radarlesegerät . Radikalisierungsmaschinen. — stop
prypjat
nordpol : 6.57 UTC — Filmaufnahme der Stadt Prypjat an einem sonnigen Apriltag des Jahres 1986. Dunstige Haut liegt über farbigen Bildern des Films, spielende Kinder vor Häuserblocks, ein Karussell, ein Riesenrad, flanierende Bürgerinnen und Bürger, Alltag, Frieden. Manche der Menschen tragen Taschen, andere halten ihre Söhne und Töchter an der Hand, ein Dreirad, Bäume von hellem Grün, und der Himmel, wolkenlos. Aber da ist noch etwas anderes, etwas Unheimliches, da sind Punkte, Kreise, helle Erscheinungen zu erkennen, in Bruchteilen rasender Zeit tauchen sie auf und sind sofort wieder verschwunden. So rasch und so unerwartet treten sie aus der Bewegung des Films hervor, dass ein menschlicher Betrachter nicht sicher sein kann, ob die Erscheinung, die er gerade noch wahrzunehmen glaubte, tatsächlich zu sehen oder nicht ein Irrtum seines Gehirns gewesen war, helle Schirme, pelzig, weich. Dieses blitzende Licht zeigt Verletzungen des Bildtragenden Materials an, Verheerungen, die durch strahlende Teilchen des brennenden Grafitreaktors zu Tschernobyl verursacht wurden, Teilchenspurlicht, deshalb so unheimlich, so tragisch, weil dieses Licht in den Augen des Filmbetrachters von einer späteren Wirklichkeit aus wahrgenommen werden kann, nicht aber von jenen Menschen, die sich in der Wirklichkeit der Aufnahme vor der Kamera bewegten durch einen lebensgefährlichen Tag, den sie vielleicht für einen glücklichen Tag ihres Lebens gehalten haben, weil niemand sie vor der unsichtbaren Bedrohung, die sich in der Atmosphäre befand, warnte. — stop /Koffertext
von der killerimpfung
nordpol : 20.18 UTC — Grad sind wir aus dem Zug gestiegen, stehen noch auf dem Bahnsteig. Sie will mir noch etwas sagen. Dass ich nur deshalb noch am Leben sei, weil jene erste und jene zweite Impfung, die ich erhalte, habe im vergangenen Sommer, Köderimpfungen gewesen seien. Man tue so, als wäre mit den Impfungen alles in Ordnung. Ein Irrtum, fatal! Juden wurden von diesen verdammten Nazis damals auch getäuscht. Und jetzt geht das wieder los. Sie spricht mit leiser Stimme, sehr seltsam: Alle diese dummen Menschen, die noch gezögert haben, werden jetzt, heute, in dieser Minute, mit der eigentlichen, der tödlichen Dosis gespritzt. Dass ich bereits die dritte Impfung empfangen habe: Schade! Das war für Dich die Killerimpfung, jetzt machen sie den Sack zu. — Sie schaut mich ernst und traurig an. Ihr Rollkoffer quietscht ein wenig, wie sie davongeht. — stop