nordpol : 15.02 UTC — Es war Nacht, eine besondere Nacht, die erste Nacht, da Louis von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarz-weißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch Louis Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er soeben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht beobachtete Louis seinen Vater, wie er den Bildschirm des Fernsehgerätes mehrfach fotografierte, Minuten, die meine Aufmerksamkeit für die Gegenwart moderner Lichtfangmaschinen schärften. Worauf sich das Objektiv eines Fotoapparates richtete, war von Bedeutung, ein Radiergummi, ein Schiff, das den Hafen der Stadt Chicago verlässt, ein roter Schuh, in dem sich mein linker Fuß befand, der gerade drei Jahre alt geworden war. — stop
Aus der Wörtersammlung: nordpol
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nordpol : 16.15 UTC — f i n g e r s p r a c h e
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nordpol : 16.02 UTC — f i e b e r a u g e
oktoberklee
nordpol : 8.12 UTC — Vom Bildschirm aus spricht eine ältere Frau, erzählt von Kontaktverfolgung, wie sie im Gesundheitsamt, das sie leitet, verwirklicht wird. Ruhige Sprache, klug, sie scheint widerstandsfähig zu sein, gesund, man möchte meinen, sie sei vielleicht eine Almwirtin, die in großer Höhe bei Wind und Wetter arbeitet. Nur ihre Stirn, ihre Augen, ihr graues Haar sind zu sehen. Mund, Nase, Wangen liegen hinter einem Mundschutz verborgen. Den möchte ich gern entfernen, weil ich diese energisch und zugleich warm und freundlich sprechende Person, wahrnehmen möchte, als wäre nicht Pandemiezeit. Tatsächlich entdecke ich in der digitalen Sphäre bereits im ersten Versuch eine Fotografie, die sie zeigt, als sie noch ohne Maske arbeiten konnte. — Heute leichter Regen, die Straßen von Kastanien bedeckt, Eichhörnchen durchsuchen das Meer der Früchte nach genießbaren Nüssen, die sie nicht finden. Es wird einen warmen Winter geben. Unter den Bäumen blüht der Klee. — stop
lumineszenz
nordpol : 20.55 UTC — Vor Jahren einmal habe ich an dieser Stelle bereits über Winterkäfer nachgedacht, es war wohl Winter gewesen. Seltsamerweise ist mir damals ein ganz anderer Käfer eingefallen, ein Wesen, für das ich noch immer keinen Namen gefunden habe. Dieser namenlose Käfer sollte ohne Ausnahme paarweise erscheinen, weich sein wie eine Schnecke und von der Körpertemperatur der Menschen und genauso groß, dass er sich in die Augenhöhle eines Schlafenden einzuschmiegen vermag. Dort wird der noch namenlose Käfer sich nicht allein als Nachtschirm begnügen, stattdessen wird er ein wenig fließen und in dieser Weise in Bewegung, sehr entspannende Polarlichtspiele von milder, beruhigender Lumineszenz erzeugen auf den Augenlidern der schlafenden Menschen. — Ich habe diese kleine Geschichte gerade eben noch einmal erzählt, weil ich heute während des Spazierens überlegte, ob es nicht vorteilhaft wäre, Käferwesen zu entwerfen, die sich in schützender Weise auf meinen Mund und meine Nase legen würden, mich wärmen und die Luft zugleich filtrieren hinein und auch hinaus. Am späteren Abend werde ich eine Zeichnung versuchen. Käfer dieser Art sollten vielfarbig gestaltet sein. Nichts weiter. — stop
auf dem bildschirm
nordpol : 3.55 UTC — Philip Roth, der in einem Gespräch von einem Bildschirm aus erzählt, ein Schriftsteller müsse losschreiben, dürfe sich nicht beschränken, vor allem nicht seine Sprache. — Kurz vor Dämmerung. Sechs Marienkäfer haben in dieser Nacht zu mir gefunden. Wie sie geräuschlos über schneeweiße Wände laufen, immer wieder kurz sitzen, dann weiter, dann wieder sitzen, vielleicht schlafen. — stop
eine flasche gin
nordpol : 0.18 UTC — Weshalb Georg jene seltsame Geschichte, die er mir unlängst erzählte, gerade jetzt in diesen Tagen träumte, da er ängstlich in der Welt herumspaziert wie viele von uns, wird vielleicht niemanden wirklich wundern. Im Traum nämlich war Georg krank geworden vom Virus, vor dem er seit Wochen flüchtet. Er war im Hospital gewesen, konnte kaum noch atmen, saß schweißnass im Bett. Da trat eine Ärztin in sein Zimmer. Sie hielt eine Flasche Gin in der Hand. Sie war wirklich sehr höflich. Sie sagte, er solle die Flasche unverzüglich leeren, das helfe, sagte sie, die amerikanische Methode. Georg antwortete, er flüsterte, dass er seit über zwanzig Jahren keinen Alkohol getrunken habe, das würde ihn nun doch ganz sicher unter die Erde bringen. Er wachte, Gott sei Dank, bald auf. Georg war betrunken. Aber das war nicht wirklich der Fall, es war eine Vermutung, weshalb unverzüglich notwendig geworden war, den aufrechten Gang zu probieren, weshalb Georg in die Küche spazierte, das Fenster öffnete, um nach den Vögeln zu sehen. Dann rief er mich an, um mir seine Geschichte zu erzählen. — stop
15 Uhr 3
taschkent
nordpol : 9.18 UTC — Eine Dame sitzt mit hellrot geschminktem Mund an einem Holztisch in einer Wohnung der Stadt Taschkent. Es ist später Nachmittag. Auf dem Tisch ruht eine Schreibmaschine, ein Notebook, das hat ihr die Tochter geschenkt, die in Amerika wohnt, in Brooklyn genauer, im vierten Stock eines Hauses mit Blick auf den East River. Dort ist jetzt früher Morgen. Die Tochter, die wie ihre Mutter in der Ferne vor einem Notebook, einer Schreibmaschine, sitzt, freut sich, weil sie auf einem Bildschirm das Gesicht ihrer Mutter sehen kann. Endlich hat es funktioniert, das Programm, der ganz Computer überhaupt, ihre Mutter kann ihn jetzt einschalten, und das Programm starten, das eine Verbindung knüpft nach New York, sodass sie ihrerseits auf dem Bildschirm der Mutter sichtbar werden kann. Die Tochter lächelt, gerade hat ihr die Mutter erzählt, sie habe einen leicht amerikanischen Akzent entwickelt nach Jahren ihres Lebens in New York. Aber sie spricht nicht viel in diesen ersten Momenten einer Begegnung auf dem Bildschirm. Sie will ihre alte Mutter nicht überfordern, sie sagt: Jetzt können wir telefonieren sooft wir wollen, es kostet fast nichts. Die Mutter schaut glücklich zu dem Bildschirm hin. Sie könnte das Gesicht ihrer Tochter berühren, aber sie will nichts tun, das seltsam erscheinen könnte, weil sie nicht allein ist. Unsichtbar für die Tochter in Brooklyn zunächst, sitzt in einem sinnvollen Abstand eine junge Frau, eine Studentin, auf einem Stuhl, der knistert, sobald sie sich bewegt. Es ist nämlich so, dass die Studentin der alten Dame half, ihre Schreibmaschine in ein Telefon mit Bildschirm zu verwandeln, eigentlich zunächst nicht sehr schwierig, für eine Studentin der russischen Literatur, ihrer Professorin beizustehen. Das Notebook musste jedoch derart verwandelt werden, dass es sich ohne ihre Hilfe jederzeit erneut in ein Telefon mit Bildschirm zurückverwandeln könnte, deshalb alles ganz langsam, vor und zurück, vor und zurück, Schritt für Schritt, was ein Fingercursor ist, was eine Maus. Die junge Frau kommt nun ins Bild, sie trägt einen Mundschutz, auch die alte Dame ziehen ihren Mundschutz vom Hals herauf. Beide lächeln, das kann die Tochter sehen. Und sie ist sehr beruhigt, dass ihre Mutter auf sich achtet in der Ferne, glücklich ist sie. Und so springt sie auf und eilt zum Fenster. Eine Minute Zeit vergeht. Die Möwe späht ins Zimmer. Da kommt die Tochter zurück zum Tisch, sie trägt jetzt gleichwohl einen Mundschutz in roter Farbe mit weißen Punkten darauf. — stop
kreisgang
lima : 2.52 — In Genf, nahe einer Straßenkreuzung von der Rue de Rhone zur Rue d’Italie, waren seltsame Dinge zu bemerken. Männer und Frauen nämlich, die sich kreisend oder auf und ab über das Pflaster bewegten, während sie das Grünlicht der Ampeln erwarteten. Bei genauerer Betrachtung mochte man meinen, sie könnten vielleicht nicht in der Lage sein, stillzustehen. Sie trugen Damenkostüme, Herrenanzüge, feine Schuhe, waren vermutlich gerade aus dem Büro gekommen, befanden sich auf dem Weg vielleicht nach Hause, zur Busstation nach Ferney oder ins Kino, ins Theater, zum Jazz. Die Sonne schien, erste warme Stunden. Aber, so dachte ich, auch an einem eiskalten Tag im Winter würden sie sich genau so bewegt haben, in Kreisen oder auf und ab. Eine neue Zeit ist angebrochen. Man nimmt jetzt nur noch selten den Aufzug, man nimmt die Treppe, stets der Blick hin zum Handgelenk, zur Apparatur, die Pulse, Temperaturen, und auch den Schlaf auszumessen vermag. Und noch einen Kreis gleich hinterher und über die Straße, wie viele Schritte, wie viele Schritte heute, wie viele Schritte mehr als gestern, wie weit bin ich gekommen in diesem Monat, vielleicht bis nach Chambéry, vor dem Sommer noch könnte ich Montpellier erreichen, im Winter Valencia, am Ende des kommenden Jahres werde ich in Essaouira sein. – Einmal war 2 Uhr und 44 Minuten in der Nacht gewesen. Ich beobachtete meinen Kaktus, wie er blühte. Wenn mein Kaktus blüht, hält er seine Blüte auch bei Nacht geöffnet, als ob er ahnte oder wüsste, dass in meinen Zimmern Nachtbienen und Nachtwinde wohnen. — stop