sierra : 17.10 — Hatte einen Traum, eine Wahrnehmung, die mir lange Zeit, ich war längst erwacht, ein sehr wirklicher Raum gewesen zu sein schien. Dort, im Nachtzimmer, wartete ich an einem späten Abend in der zentralen Halle des Saint George Ferry Terminals auf das nächste Schiff nach Manhattan zurück. Ich wartete lange, ich wartete den halben Tag und eine halbe Nacht, begeistert vom Anblick einer Herde filigraner Tiefseeelefanten, die über den hellen, sandigen Boden eines Schauaquariums wanderten. Sie hatten ihre meterlangen Rüssel zur Wasseroberfläche hin ausgestreckt, suchten in der Seeluft herum und berührten einander in einer äußerst zärtlichen Art und Weise. Ein faszinierendes Geräusch war zu hören, sobald ich eines meiner Ohren an das warme Glas des Geheges legte. Dieses Geräusch nun sucht seit Stunden nach einem Wort für sich selbst, nach einem Zeichensatz, der vermutlich niemals existieren wird. — stop
Aus der Wörtersammlung: oberfläche
rüsselhupe
echo : 12.03 — Sagen wir das so: Tiefseeelefanten, sobald sie geboren werden auf hoher See in großer Tiefe, bleiben ihren Müttern lange Zeit verbunden. Solange Zeit genau wandern sie in nächster Nähe, bis ihre Rüssel ausreichend gewachsen sind, um zur Oberfläche des Meeres gelangen zu können. Wie sie sich küssen von Zeit zu Zeit in ewiger Dunkelheit, wie eine Mutter ihrem kleinen Elefanten Luft einhaucht, wie das taumelnde Wesen im Moment der Übergabe lustvoll seine blinden Augen schließt, eine Ahnung vom berauschenden Duft der Welt weit über ihm, von salzigen Schäumen, von Motorölen, Tang und weiteren angenehmen Substanzen, die ihm bald unmittelbar begegnen werden. Manchmal, eher selten, steigen sie, Miniaturen einer späteren Zeit, langsam aufwärts. Sie haben dann aus dem Munde ihrer Mutter einen Ballon süßer Luft entgegengenommen, der zu groß geworden sein könnte von Sorge und Liebe. Zwei oder drei Tage sind sie nun schwebend unterwegs, bis die Oberfläche des Wassers erreicht sein wird. Das feine Geräusch ihrer ersten Rüsselhupe, mit der sie die lichte Welt begrüßen. – Sonntag. Leichter Schneefall. Viel Jazz im Kopf. — stop
existenz
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : EXISTENZ
Wie weit Sie wohl gekommen sind, mein lieber Kekkola? Sie sollten New Hampshire längst erreicht haben. Nach wie vor ersehne ich eine Nachricht, obwohl ich mir ungezählte Male vorgenommen habe, nie wieder in einem Zustand von Erwartung zu leben. Und doch ist das jetzt so gekommen, dass ich mich sorge, weil Sie kein Zeichen, nicht das geringste Lebenszeichen übermitteln. Ein Satz, mein Freund, eine leere E‑Mail würde genügen, ich wäre zufrieden, weil ich doch wüsste, dass Sie in der Lage sind, zu lesen, was ich für Sie notiere. Stellen Sie sich vor, in der vergangenen Nacht habe ich mir überlegt, ob Sie nicht vielleicht reine Erfindung sind und Ihre Briefe an mich nur ausgedacht. Mein lieber Kekkola, wo auch immer Sie sich aufhalten mögen, nehmen Sie wahr, dass ich an Sie denke. Unlängst, das sollten Sie wissen, stellte ich noch die Frage, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Ihr Louis, hoffend.
gesendet am
10.10.2009
22.38 MESZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
sprechgeräusche
ginkgo : 2.15 – Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend im Garten eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlief ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Fangen wir an. – stop – Drei Uhr und zwölf Minuten in Isfahan, Iran. – stop
sandaugen blau
sierra : 10.15 — Ein Spaziergang durch den Präpariersaal bei sommerlichen Temperaturen. Wollte Augen betrachten, fixierte Augen, und so ging ich von Tisch zu Tisch und suchte nach sandigen, bläulich schimmernden Bällen. Mein scheuer, mein ruhiger, mein fast kühler Blick. In der vergangenen Nacht aber, weiß der Himmel, warum, ein starker Eindruck von Unheimlichkeit, indem ich Ansichten weckte und buchstabierte gegen 2. Ich stand vor dem Schreibtisch auf, öffnete die Fenster, ließ wartende Fliegen und Falter herein, hörte Charlie Parker bis in die Morgendämmerung und dachte weiter nach über das Rüsselprinzip der Tiefseeelefanten. Die Frage stellt sich seit Tagen dringend, wie sie Luft von der Meeresoberfläche zu sich in die Tiefe holen. — Können Tiefseeelefanten sehen? — stop
auftauchen
alpha : 0.28 — Immer wieder ein Bild vor Augen, ein Bild langsam vorrückender Zeit. stop. Die Oberfläche des Atlantischen Ozeans vor Neufundland. stop. Keine Bewegung, nicht die kleinste Welle. stop. Auch am Himmel, keine Wellen, kein Flugzeug, kein Vogel. stop. Absolute Stille. stop. Minutenlange Stille. stop. Tage der Stille, Monate, Jahre. stop. Jetzt ein Schatten. stop. Der Schirm der Wasseroberfläche öffnet sich. stop. Der Helm eines Tiefseetauchers erscheint. stop. Schweres Gehäuse. stop. Triefende Muscheln. stop. Eine Hand. stop. Die Gestalt einer eisernen Hand, wie sie nach rostigen Schrauben tastet. stop. Wie der Helm des Tauchers, durch die Luft fliegt. stop. Das Gesicht eines Mannes, dessen Haut schneeweiß ist. stop. Eine Schnecke ohne Gehäuse, die auf seiner Stirn sitzt. stop. Sie scheint zu grasen. stop. Der Mann, wie er sich umsieht. stop. Wie er blinzelt, wie er lächelt. stop. Flüstert. stop. stop. Obwohl ich versuche, so nahe wie möglich heranzukommen, ist doch kein Wort zu verstehen. stop. Jetzt winkt er. stop. stop. Ein heiteres Bild. stop. Ein Bild, in dem Zeit enthalten ist. stop. stop. Wer endlich verhaftet Robert Mugabe? stop. stop. 0.52 in Musina, südliches Afrika. — stop
yanuk : zwergseerosen
~ : yanuk le
to : louis
subject : ZWERGSEEROSEN
date : nov 8 08 10.25 p.m.
Drei lange Stunden geklettert, um Höhe 310 zu erreichen. Kein Regen, aber Nebel, sehr dichter, kühler Nebel. Aufstieg fortgesetzt. Ich konnte die kleinen Affen hören, ihr unentwegtes, leises Knattern, mit dem sie sich verständigen, wenn sie sich nicht sehen können, eine Art Radarsprache, die nichts bedeutet, als: Hier bin ich, hier, am Ende des Geräusches! Sie haben mich begleitet. Nehme an, auch ich war für sie unsichtbar gewesen, aber sie konnten wohl meinen Atem hören, das Kratzen meiner Finger an der Rinde, mein Schuhwerk, mein Ächzen, wenn ich mich weiterziehen musste. Kurz bevor wir Höhe 382 erreichten, wurde es heller, dann eine scharfe Linie zwischen Dampfluft und trockener Luft. Es war ganz so, als hätte ich meinen Kopf aus dem Wasser gestreckt, als hätte ich tagelang getaucht. Die Affen waren schon da, begrüßten mich kreischend. Sie sahen lustig aus, feuchtes Fell, waren über und über mit Blüten bedeckt. Ich sage Dir, Mr. Louis, ein fantastischer Ausblick. Abertausende Zwergseerosen schweben oder schwimmen auf der Oberfläche des Nebels. Ich weiß jetzt, weshalb es in den vergangenen Tagen so düster gewesen ist. Ich werde mich jetzt einrichten hier oben und etwas ausruhen. — Cucurrucu! Yanuk
eingefangen
20.12 UTC
1266 Zeichen
schlafende vögel
echo : 8.25 — Weil ein unter der Wasseroberfläche lebender Vogel noch immer ein Vogel ist, weder Fisch noch Amphibie, wird er sich von Zeit zu Zeit an die Gestalt der Bäume erinnern, an den Luftgesang seiner Freunde, an den Wind, der durch sein Gefieder streifte, an das Vordämmerungslicht der Sonne, das ihm Augen und Schnabel öffnete, auch an die Farben der Wolken, an den Schnee, an den Duft der Blüten, an das Öl der Samen, der Nüsse. Er wird vielleicht auf sandigem Boden unter weiteren Vögeln sitzen und das Licht der Wellen wird ihm schmeicheln, komm zurück, komm zurück, und er wird in diesen Momenten fühlen, dass etwas anders geworden ist, dass man als schlafender Vogel auf und davon treiben, dass man niemals wissen kann, wo man erwachen wird. – Ein wunderbar ruhiger Abend, spazierte ins Café, besuchte L., notierte endlich wieder ein paar anatomische Sätze, studierte Zugfahrpläne Mumbai – Darjeeling. Wie schrittweise die Farben zurückkehren, Gravitation, ein Oben, ein Unten. Und plötzlich dieses feine Bild eines Schwarms der Unterwasservögel, wie sie schlafend als Vogelwolke in der Strömung treiben. Manche schweben auf dem Rücken, die Flügel weit geöffnet, andere haben ihren Kopf ins nasse Gefieder gesteckt, gleiten in einer Haltung dahin, als würden sie wie immer auf dem Ast eines Baumes sitzen. Das Nachtgespräch der Schlafenden in meinem Kopf, ein leises Singen, ein Singen, das schon bald zu einem Gespräch geworden ist. — stop
torero
marimba : 4.52 — Dichte Fliegenwolken in der Gewitterluft überm Palmengartensee. Man müsste als Vogel mit aufgerissenem Schnabel nur zwei oder dreimal knapp über das Wasser rasen, schon hätte man sich den Magen verdorben. In genau diesem Zusammenhang beobachtete ich vergangene Woche einen Falter, der sich über der Wasseroberfläche wie ein Torero verhielt. Rasante Flugmanöver lockten einen angreifenden Sperling immer wieder ins Leere. Mit Spannung auf den Absturz des Vogels ins Wasser gewartet. Aber dann führte ein minimaler Windstoß in der falschen Sekunde doch noch zum Ende des Falters, der ein verwegenes Tagpfauenauge gewesen war. — Es ist jetzt 4 Uhr und noch immer Nacht, weil es dunkel ist. Ich habe gerade eine Notiz seziert, die ich auf einem sehr alten Zettel wieder entdeckte. Ich kann mich an den Moment der Notiz nicht erinnern, aber die Schrift ist meine Handschrift. Sie ist zwanzig Jahre alt. Ein merkwürdiger Anblick, als würde ich die Gedanken eines Fremden betrachten, der mir doch vertraut ist. Der Fremde schrieb: Einmal für eine Stunde lang über einer großen Stadt unter einem Zeppelin auf der Stelle schweben, für diese eine Stunde nur, da die Gedanken der Menschen in der Stadt hörbar werden, die strengen, die leichten, die erinnerten, die rasenden Gedanken einer Stadt. — Ein Rauschen vielleicht. — stop
sonnenphoton
ulysses : 0.18 — Oft schon über das Licht nachgedacht. Woher das Licht kommt und was geschieht, wenn das Licht auf einen Gegenstand oder auf die Oberfläche eines Lebewesens trifft. Was wäre, wenn ich ganz ohne das Licht auskommen müsste, wenn ich nur noch hörend oder mit meinem Tastsinn die Welt erfahren könnte? — Einmal habe ich versucht, den Moment wahrzunehmen, da die Morgendämmerung einsetzte, aber ich konnte nicht bestimmen, wann genau das erste Photon mein Auge berührte. — stop