nordpol : 5.18 — Wie Sorge nach und nach leise ein Haus betritt, in welchem Menschen leben, die alt geworden sind. Sie erscheint als ein Tier, das nicht sichtbar ist, feinstes Gewebe in Bewegungen der Hausbewohner, in der Art, wie sie miteinander sprechen oder wovon sie nicht sprechen. Vater, der an seinem Tisch sitzt im Wohnzimmer. Sein leicht geneigter Kopf. Und dieser Blick, sprechendes Licht. Bin ich nicht vielleicht viel zu langsam geworden? Kann ich noch wirklich verstehen, was ihr mir zu sagen habt? Wer bin ich überhaupt? Bin ich noch der, für den Ihr mich haltet? Was erzählt ihr Euch über mich? Habt Ihr Geheimnisse vor mir, die mich betreffen? Ich bin so müde, wie kann man nur so müde sein, wie kann man nur immerzu so gerne schlafen. – Die Hand meines Vaters, die nicht mehr schreiben kann, nicht mehr so wie früher schreiben, diese kleinen genau kalkulierten Zeichen auf begrenzter Fläche der Papiere. Und dieser Computer, der macht, was er will. Und all diese Bücher, die noch einmal zu lesen sind, über den Urknall, solche Bücher, über Ägypten, über das Leben, Schrödingers Katze. – stop
Aus der Wörtersammlung: papier
abend : morgen
charlie : 5.08 — Ein Ohr gegen den Himmel, das andere Ohr gegen die Erde gerichtet, liege ich in einer Wiese und höre Gräsern und sehr kleinen Tieren zu, wie sie sich auf die Nacht vorbereiten. Es ist früher Abend. Ich warte, dass es dunkel wird, ein Warten voller Freude, nichts ist zu tun, als der großen Welt am Himmel und der kleinen Welt unter mir zuzuhören. Es ist seltsam, je glücklicher ich bin, desto beweglicher kann ich denken. So beweglich bin ich geworden, dass ich von Zeit zu Zeit überhaupt aufhöre, an irgendetwas zu denken. Und doch bin ich niemals abwesend, sondern hier und warte und höre den Gräsern zu und atme und halte etwas Papier fest in der Hand. 1 X schlafe ich kurz ein. Plötzlich ist Morgen. Vögel pfeifen. Licht fällt in kleinen Paketen vom Himmel. Alle Wörter, sobald ich sie anhalte, werden zu einem Geräusch. — stop
vom rechnen
echo : 6.57 — Als Kind beobachtete ich meinen Vater manchmal, wenn er schlief. Aber eigentlich schlief mein Vater damals nie, weil ich glaubte, dass mein Vater, sobald er seine Augen schloss, zu rechnen begann. Das waren komplizierte Prozeduren der Algebra, weswegen mein Vater für viele Stunden seine Augen nicht wieder öffnen konnte. Er lag ganz still rechnend auf dem Sofa im Wohnzimmer, vor allem an Sonntagnachmittagen oder an Wochentagen abends. Meistens hatte er zum Rechnen seine Schuhe ausgezogen. Ich erinnere mich an graue oder schwarze Strümpfe, die sich ein wenig bewegten. Natürlich rechnete mein Vater auch dann, wenn er wieder wach geworden war. Er besaß eine Handcomputermaschine von Texas Instruments, die über Leuchtschrift verfügte in roter Farbe, kleine Zeichen, die sich arbeitend so schnell bewegten, dass sie unbewegten Kreisen ähnlich wurden. Wenn mein Vater mit dieser Maschine rechnete, machte er sich Notizen mittels eines Bleistiftes auf kariertes Papier. Das schien sehr viel mühsamer zu sein, als mit geschlossenen Augen auf dem Sofa zu liegen, weil man sich in dieser Weise Notizen machen musste. Wenn ich wie mein Vater sein wollte, legte ich mich auf mein Bett und machte die Augen zu. Damals war bereits deutlich geworden, dass ich kein guter Mathematiker werden würde. Anstatt zu rechnen, träumte ich. Ich träumte vielleicht davon, dass ich nicht rechnen konnte. Gestern habe ich von etwas anderem geträumt. Ich habe geträumt, wie ich die Augenlider meines Vaters wenige Minuten nachdem er gestorben war mit zitternden Händen berührte. — stop
eine geschichte die mein vater einmal las
nordpol : 6.46 — An einem Sonntag neulich habe ich in Texten gelesen, die ich während der vergangenen Jahre an genau dieser Stelle sendete. Manche dieser Texte waren mir vertraut, andere wirkten, als wären sie von einem Fremden geschrieben. Gemein war ihnen, dass mein Vater sie noch mit eigenen Augen gelesen haben könnte. Wie der alte Mann zu seinem Computer wandert. Wie er auf einer Treppe steht, Rede an sein linkes Bein: Beweg Dich! Einmal rief mein Vater mich an. Ein Text hatte ihm gefallen. Es ist eigenartig, der Text, der meinem Vater gefallen hatte, erzählt heute noch immer dieselbe Geschichte und doch ist alles ganz anders geworden. Ich hatte Folgendes notiert: Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht sind oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, so dass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist sehr gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt habe ich einen Knoten im Kopf. — stop
barfuß
tango : 0.10 — Wieder der Eindruck, sobald ich mit der Hand Zeichen auf ein Blatt Papier notiere, keine Schuhe zu tragen. Warum? — stop
fischvögel
~ : louis
to : Madame van Lishout
subject : FISCHVÖGEL
Sehr geehrte Madame van Lishout, verzeihen Sie bitte vielmals mein Schreiben auf elektrischem Wege. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre korrekte Adresse erinnere. Ein Brief auf Papier mit unterzeichneter Bestellung wurde an folgende Anschrift gesendet: M.v.L., Challions 7, 4968 Malmersby, Belgium. Es geht um ein dringendes Geschenk, das bis zum 10. August für einen Freund fertiggestellt sein muss. Sie erinnern sich vielleicht, es geht um jenen Freund, der seit einem Jahrzehnt im Wasser existiert. Da die Kreation unter der Wasseroberfläche lebender Singvögel nicht möglich ist, – ich habe Ihre Erläuterungen verstanden -, sehr wohl aber die Manufaktur eines Fischpärchens, das in Gestalt und Benehmen Singvögeln ähnlich sein könnte, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie für mich ein oder zwei Entwürfe zur Verwirklichung formulieren würden. Auch einen Käfig, der in Süßwasser längere Zeit überdauern könnte, habe ich vor, in Auftrag zu geben, schön wäre ein filigranes Gehäuse von dunklem Holz. In der Größe sollte das Pärchen vogelähnlicher Fische die Dimension der Zeisige nicht übertreffen, da die Wasserwohnung meines Freundes eher bescheiden ausgefallen ist. In der farblichen Ausführung wünsche ich weiche pastellfarbene Töne. Ein gewisses Leuchtvermögen von innen her wäre wundervoll. Könnte dies alles möglich sein, würden Sie mich sehr glücklich erleben. Der Gesang der kleinen Fische sollte fröhlich, nicht allzu laut, vor allem eben heiter sein. Ich erwarte Ihre Antwort dringend und verbleibe hochachtungsvoll mit freundlichen, dankbaren Grüßen. Ihr Mr. Louis
gesendet am
5.06.2012
2.58 MEZ
1551 zeichen
handohren
~ : oe som
to : louis
subject : HANDOHREN
date : may 27 12 3.05 a.m.
Lieber Louis, Mitternacht ist längst vorüber. Ich bin ruhig, aber ich kann nicht schlafen. Seit Tagen geht das so mit mir, dass ich die Augen schließe und doch wach liege, zumindest nicht wirklich auf die andere Seite gelange. Ich spüre wie sich das Schiff auf und ab bewegt, manchmal erhebe ich mich und gehe spazieren an Deck, oder ich besuche Lin, die sich für den Monat Mai in Nachtschicht befindet. Seit drei Tragen sitzt sie in der Werkstatt an der Übertragung des Romans Molloy von Samuel Beckett. Ich darf ihr zusehen, wie sie Zeichen für Zeichen aus dem papierenen Buch kopiert, eine geschmeidige Bewegung, sie schreibt, ohne ihren Blick auf den Stift zu richten. Jedes Wort, das sie in Angriff nimmt, wird zunächst in den Raum geflüstert: Wachtelkönig. Als ob sie eine Anweisung geben würde, als ob ihre schreibende Hand über geheime Ohren verfügte. Ich wünschte mir, ich könnte ihre Hände einmal eingehend untersuchen, einen Bericht schreiben über die Entdeckung der Handohren kurz nach Mitternacht auf einem Schiff vor Neufundland. Eigentlich, lieber Louis, wollte ich Dir von meinem ersten Besuch bei Noe in der Tiefe berichten, was ich dort gesehen habe, seine Augen wie sie meine Augen betrachteten durch das Panzerglas. Ich denke, ich bin noch nicht so weit. Ich werde Dir ausführlich notieren, sobald ich einmal eine Nacht durchgeschlafen habe. Es ist möglich, dass ich das Tauchen nicht vertrage oder Noe’s hellen Blick vielleicht, der mich verfolgt, ich gebe das zu, Noe’s Blick verfolgt mich. Manchmal denke ich, dass nicht richtig ist, was wir tun. Gute Nacht! Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
27.05.2012
1620 zeichen
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tango : 2.24 — f i n g e r s c h l a g a d er
frau mit löffel
india : 5.28 — Einmal machte ich einen Ausflug zu einer Tante, die seit über zehn Jahren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außerdem nicht mehr denken kann. Der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit anderen alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. Sie schliefen einerseits, andere betrachteten mich interessiert, so wie man Vögel betrachtet oder Blumen. Es ist schon seltsam, dass ich immer dann, wenn ich glaube, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit beginne, eine Geschichte zu erzählen in der Hoffnung, die Geschichte würde jenseits der Stille vielleicht doch noch Gehör finden. Ich erzählte meiner Tante von einer Wanderung, die ich unlängst in den Bergen unternommen hatte, und dass ich auf einer Bank in eintausend Meter Höhe ein Telefonbuch der Stadt Chicago gefunden habe, das noch lesbar gewesen war und wie ich den Eindruck hatte, dass ich aus den Wäldern heraus beobachtet würde. Ich erzählte von Leberblümchen und vom glasklaren Wasser der Bäche und vom Schnee, der in der Sonne knisterte. Dohlen waren in der Luft, wundervolle Wolkenmalerei am Himmel, Salamander schaukelten über den schmalen Fußweg, der aufwärts führte. So erzählte ich, und während ich erzählte eine halbe Stunde lang, schien meine Tante zu schlafen oder zuzuhören, wie immer, wenn ich sie besuche. Ihr Mund stand etwas offen und ich konnte sehen, wie ihr Bauch sich hob und senkte unter ihrer Bluse. Am Tisch gleich gegenüber wartete eine andere alte Frau, sie trug weißes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreibmaschinenpapier. Vor ihr stand ein Teller mit Erbsen. Die alte Frau hielt einen Löffel in der Hand. Dieser Löffel schwebte während der langen Zeit, die ich erzählte, etwa einen Zentimeter hoch in der Luft über ihrem Teller. In dieser Haltung schlief die alte Frau oder lauschte. — stop
siatista mittags
tango : 0.02 — Man erzählt, aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinen, weil er im hohen Alter noch hungern musste, soll sich gestern, gegen 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit, ein alter Mann auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen haben. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war zu erfahren, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später tötete das Projektil eine Fliege, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? — stop