echo : 14.32 UTC — Am Telefon meldete sich ein Mann, der mir eine traurige Geschichte erzählte. Er sagte: Meine Frau ist seltsam geworden, sie wurde soeben 84 Jahre alt, vielleicht ist sie deshalb seltsam geworden. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mitternacht, und sie hat aufgehört zu kochen, deshalb koche ich jetzt für uns beide, obwohl ich nie gekocht habe. Meine Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manchmal sagt sie, dass ich hervorragend kochen würde. Der Mann am Telefon lachte. Und ich erinnerte mich, dass ich vor Jahren einmal einen Ausflug zu einer Tante machte, die damals seit bereits über zehn Jahren in einem Heim lebte, weil sie sehr alt war und außerdem nicht mehr denken konnte. Es war Frühling und der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit weiteren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. — In diesem Augenblick hob ich meinen Füllfederhalter vom Papier, auf das ich meinen Text mit meiner rechten Hand notiert hatte. Es war sehr feines Papier, eines durch das man hindurchsehen kann, wenn man das Papier gegen etwas Licht hält, raschelndes Papier, Luftpapier. Ich hob meinen Blick, um gerade noch wahrnehmen zu können, dass sich das Wort Telefon aufzulösen begann. Zeichen für Zeichen verschwand das Wort von links nach rechts, kurz darauf löste sich auch das nachfolgende Wort vom Papier, dann ein ganzer Satz in etwa der Geschwindigkeit, mit der ich kurz zuvor noch geschrieben hatte. Das war doch seltsam gewesen. Und ich dachte noch: Du musst Dich beeilen, lieber Louis, schnell, schreib weiter. — stop
Aus der Wörtersammlung: rinne
im zimmer. mitternacht
echo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balancierte ich zur Winterzeit vor einem Bücherregal auf einem Stuhl. Es war Samstag. Ich erhoffte mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? — Ein bemerkenswerter Satz. — Wie ich bald von dem Stuhl gestiegen war und wieder auf dem Boden stand, hielt ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch war im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen worden. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Ich entdeckte, dass G. und J. gestorben waren, während P. damals noch lebte. Nun ist auch sie gestorben und auch Daniil Charms ist noch immer tot und sein Übersetzer Peter Urban seit 8 Jahren. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen nach wie vor 7 °C. Wiederum Mitternacht. Langsam spaziere ich wie vor Jahren durch das nächtliche Zimmer. Und während ich so gehe, erinnerte ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener südlichen Friedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend gewesen. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich noch immer nicht erinnern, worüber wir gesprochen hatten. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied gewesen war. — stop
lichtauge
india : 22.12 UTC — Unter dem Dach im Zimmer meines Vaters stand ein Tisch, dessen Platte leuchtete, sobald man einen Schalter umlegte, der sich am rechten Vorderen der Beine des Tisches befand. Es war helles Licht, welches dem Tisch innewohnte, es war heller als das Licht des Himmels, heller als der Schein meiner Taschenlampe bei Nacht, es war deshalb vielleicht in meiner Erinnerung ein außerordentlich strahlendes Licht, weil ich mich über dieses Licht wunderte, dass es überhaupt existierte, weil doch der Tisch keine Lampe, sondern eben ein Tisch gewesen war. Manchmal saß mein Vater dort vor diesem Tisch und arbeitete, indem er Dia-Fotografien in das Licht des Tisches legte. Er saß ganz still, tief über die gläserne Platte des Tisches gebeugt und betrachtete seine Fotografien mittels einer Lupe, die er dicht an den Tisch herangeführt hatte. Sein linkes Auge war geschlossen, sein rechtes Auge indessen klein geworden, indessen er durch das geschliffene Glas hindurch jene Welt betrachtete, die er aufgenommen hatte. Dieses beobachtende Auge meines Vaters, das er auf mich richtete, sobald er mich kommen hörte, war ein seltsames Wesen, hell, als ob es etwas von dem Licht des Tisches in sich aufgenommen haben würde, um nun selbst zu einer Lampe geworden zu sein. — stop
schallbecher
india : 22.07 UTC — Vor wenigen Tagen ist im hohen Alter ein Doktor gestorben, der mein Doktor gewesen war, als ich noch in kurzen Hosen im Sommer herumspazierte. Mein Knie, eine Wunde, war längst versorgt, da hatte ich noch den Duft des Jods in der Nase. Der Doktor kam manchmal zu mir nach Hause, wenn ich Fieber hatte. Er führte eine Ledertasche mit sich, in der seine Instrumente klimperten. Ich erinnere mich an die Kühle eines Schallbechers, wenn er nach Geräuschen in mir suchte. Sein Kopf war in diesen Momenten des Lauschens nah, kaum noch Haar, sehr fein und grau. Seine sanfte Stimme. Leise. Einmal war er als Privatmann zu Besuch gekommen. Anstatt eines Blumenstraußes für Mutter, führte er eine Glühsparlampe mit sich, die er in der Art und Weise überreichte, als wäre sie tatsächlich eine frische Blume, ein blühender Zierlauch, sagen wir, oder eine Kugeldistel. — stop
pripyat
echo : 21.08 UTC — Auf meinem Fernsehbildschirm sichtbar üben ukrainische Soldaten den Häuserkampf in der winterlichen Stadt Pripjat. Es ist Abend. Ich öffne mein Notebook, nähere mich in der digitalen Sphäre jener unheimlichen Stadt, Stadt eines Riesenrades, ich erinnere mich, ein Riesenrad in dieser seltsam einsamen Stadt. Da waren vor vielen Jahren noch Menschen gewesen, sie spazierten an einem sonnigen Tag durch einen Park, große Menschen und Kindermenschen kurz nach Havarie des nahen Reaktors. Da waren Blitze, Spuren starker radioaktiver Strahlung, die sich in das Filmmaterial, welches von den großen Menschen und den Kindermenschen erzählt, eingebrannt hatte. All das plötzlich wieder gegenwärtig an diesem Abend, da ich meine Bildschirmreise beginne. Ich komme von Süden, es ist Sommer. Winterbilder existieren von dieser nordukrainischen Landschaft nicht in den Magazinen der Google Earth Maschine, aber eben sommerliche Spuren, zwei Ströme, Juni 2015 und ein weiterer Strom, der im Sommer 2020 aufgezeichnet wurde. Je eine schnurgerade Straße kur vor dem Checkpoint Leliv. Im Juni 2015 kommen wir an, im Juli des Jahres 2020 fahren wir weiter durch die Wälder des Sperrgebietes kurz vor Tschernobyl. Die Straße ist gepflegt, jenseits der Straße zerfallende Häuser, auch Gebüsch von leuchtendem Grün. Plötzlich eine kleine Stadt, die ich in dieser Wildnis nicht erwartet hatte. Häuserblocks. Stromleitungen führen über Brücken. Menschen stehen in kleinen Gruppen am Straßenrand. Dann wieder Juni 2015, wir passieren das Denkmal derer, die die Welt gerettet haben. Da und dort Birken, auch rötlich gefärbte Gewächse. Und Schilder, gelbe Schilder, die vor Strahlung warnen. Da und dort Wolken himmelwärts. — stop
mundsegel
delta : 18.28 UTC — Abends kommt sie mir entgegen im Treppenhaus 2. Stock. Sie geht sehr langsam, rechte Hand am Geländer, ihre weitere Hand stützt auf ihrem linken Oberschenkel, derart drückt sie sich Stufe für Stufe zur Wohnung hoch. Sie sieht, dass ich oben auf dem Treppenabsatz warte, damit ich Platz machen kann, damit wir uns nicht zu nahe kommen. Vermutlich erkennt sie mich bereits an den Schuhen. Von unten ruft ein junger Mann, der ihr den Einkauf nach oben trägt, er gehe jetzt los. Und wie sie an mir vorüber kommt, sie lächelt hinter dem Mundsegel, entdecke ich, dass das schwere dichte Segel zu einem leichteren Segel geworden ist, das knistert, indem sie ein- oder ausatmet. Zwei Tage später höre ich, sie sei geimpft worden. Ihre dunklen Augen, ich erinnere mich, funkelten im Halblicht. Sie trug Sommerschuhe. Und sie wusste in ihrem beschwerlichen Aufstieg vermutlich schon, dass sie am Abend, begleitet vom geduldigen jungen Mann aus dem ersten Stock, mit ihrem Rollwägelchen in den nahen Park spazieren würde, um einer Bekannten Pfandflaschen weiterzureichen. Es sind dieses Mal nicht so viele, wird sie vielleicht entschuldigend sagen. — stop
giuseppi logan
marimba : 2.28 UTC — Ich lese in Dorothy Bakers Roman Young Man With A Horn. Plötzlich denke ich an Giuseppi Logan (Hört ihm zu!) dem ich im Jahr 2010 im Thompkins Square Park persönlich begegnet sein könnte. Viele Tage sind vergangen, seit ich eine Geschichte gelesen habe, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten während eines Erdbebens verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf jene Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er-Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeulten Saxofon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. — Heute las ich, dass der alte Mann im April 2020 im Lawrence Nursing Care Center in Far Rockaway, Queens während der COVID-19-Pandemie in New York City an den Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion gestorben ist. — stop
Fotographie Jon Rawlinson
„Niemand klang in einem Ensemble so wie
Giuseppi [Logan]. Bei seinem Spiel hielt er seinen Kopf weit zurück;
dazu erklärte er: „Auf diese Art ist meine Kehle weit offen“,
so konnte er mehr Luft einziehen. Er spielte in einem
Umfang von vier Oktaven auf dem Altsaxophon. Was
ihn als Improvisator von anderen unterschied,
war die Art, wie er seine Noten platzierte
und damit einen bestimmten Klang schuf,
dem die anderen der Gruppe dann folgten.
Seine Stücke waren aus diesem Grund sehr
attraktiv; Giuseppi hatte seine ganz eigenen
Ansichten über Musik …“ – Bill Dixon
halbstundenschnee
zoulou : 15.18 UTC — Winter. Landschaft tief verschneit. Ich erinnere Vater, wie er auf den Balkon unseres Hauses ein Kamerastativ stellt. Der Fotoapparat, den er auf das Stativ schraubte, richtete seine Augenlinse zum Garten hin, auf eine unberührte Decke von Schnee über einem Teich, der sich kaum wahrnehmbar durch eine leichte Vertiefung abzeichnete unter dem glitzernden, kalten Tuch. Von dem Fotoapparat aus führte ein feines Kabel in Vaters Arbeitszimmer. Das Kabel war mit seinem Computer verbunden, der dem Fotoapparat jede halbe Stunde einmal Anweisung gab, eine Aufnahme des Gartens anzufertigen. Viele Jahre später entdeckte ich eine Serie dieser Aufnahmen. Spuren sind dort zu erkennen, einer Katze, die selbst nicht zu sehen ist. Der Kopf einer Amsel weiterhin, die nach ihrer Landung im Schnee versunken zu sein schien. Kurz darauf eine weitere Katze, die der Spur jener unsichtbaren, früheren Katze folgt. Auch Mutter hat ihren Auftritt. Ihr Kopf ist zu erkennen, und ihre Hände, die in den Bildausschnitt ragen. Sie wirft Nüsse in den Schnee. Eine weitere Aufnahme, es ist vielleicht später Nachmittag, zeigt Vater inmitten seines Gartens. Er schaut hoch zur Kamera. — stop
geburtstage
marimba : 0.18 UTC — Vaters und Mutters Geburtstage setzen sich fort. Todestage sind hinzugekommen. Manchmal fällt Schnee, wenn Geburtstage wiederkehren, manchmal scheint sehr warm die Sonne, wenn wir Todestage erinnern. Ich taste mit kleinen inneren Händen nach Gefühlen zu dieser Beobachtung. — stop
von einer walzenspieldose
nordpol : 22.58 UTC — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe einem Krankenhaus spaziert. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig, die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ich erinnere mich, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wisse, wann das alles wiederkommen würde, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. — Ich habe von dieser Begegnung im Wald bereits einmal erzählt. Weil ich heute über wasserfeste Walzenspieldosen notierte, erinnerte ich mich. — stop