Aus der Wörtersammlung: straße

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kaja

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echo : 0.28 UTC — Ein­mal spa­zier­te ich durch die Stadt. An einer Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le dach­te ich nach über dies und das, ich mach­te ein Schritt nach vorn und sofort wie­der zurück, eine Tram ras­te dicht an mir vor­bei und stopp­te mit krei­schen­den Rädern. Ein wüten­der Fah­rer stieg aus. Um ein Haar, um ein Haar. Ein ande­res Mal wan­der­te ich in den Ber­gen, es war der Schneib­stein, wo ich auf dem Gip­fel­pla­teau eine Pau­se ein­leg­te. Ich dach­te nach über dies und das, wäh­rend ich mit etwas Emmen­ta­ler in der Hand über eine Wie­se spa­zier­te. Plötz­lich set­ze ich mich auf den Boden und sah panisch gewor­den in den Abgrund, ein wei­te­rer Schritt hät­te genügt, ich wäre laut­los ver­schwun­den. Ein paar Doh­len äußer­ten sich zur Situa­ti­on: Kaja, kaja, kaja. Ich dach­te noch zur Beru­hi­gung: Ihr habt aber schö­ne koral­len­ro­te Füße. — stop

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kabinenlicht

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romeo : 6.08 UTC — Wenn ich schla­fe, wache ich immer wie­der ein­mal auf, wäh­rend mei­ne Hän­de wei­ter­schla­fen. Das ist selt­sam, mei­ne Hän­de wachen zur­zeit ein wenig spä­ter auf als ich selbst. Ich tre­te ans Fens­ter. Manch­mal ist frü­her Mor­gen. Es ist noch dun­kel. Stra­ßen­bah­nen que­ren den Platz weit da unten. In ihrem Kabi­nen­licht sit­zen Men­schen mit Mas­ken vor Mund und Nase. Es sind die­sel­ben Per­so­nen, wie mir scheint, die ich ges­tern am Abend bereits durch mein Opern­glas beob­ach­tet habe. Sie wer­den ver­mut­lich für das Umher­fah­ren bezahlt. Zwei Tau­ben sit­zen tief unter mir auf einer Stra­ßen­la­ter­ne, sie schla­fen wie mei­ne Hän­de, die nun lang­sam wach wer­den, weil ich mit ihnen schrei­be. Guten Mor­gen! — stop

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tram

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echo : 8.16 UTC — Seit einem Jahr nun sehe ich Stra­ßen­bah­nen zu, wie sie mich pas­sie­ren in der einen oder ande­ren Rich­tung, ohne sie je betre­ten zu haben. Stra­ßen­bah­nen sind anwe­send, aber nicht ver­füg­bar, weil ich das so ent­schie­den habe. Das hat es in mei­nem städ­ti­schen Leben noch nie zuvor gege­ben. Ein­mal war­te­te ich vor einer Ampel, als ein Wag­gon der Linie 16 neben mir hielt. Ich dach­te, sie war­tet wie ich. Im Wag­gon saß eine jun­ge Frau. Sie schau­te mich an und lächel­te. Die jun­ge Frau trug kei­ne Mas­ke, ihr Mund war knall­rot geschminkt. Sie schien begeis­tert zu sein. Ihre Augen strahl­ten. Sie hat­te etwas Ver­rück­tes an sich, etwas Tri­um­phie­ren­des. — stop
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schwarmerzählung

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nord­pol : 15.08 UTC — In den Mona­ten Dezem­ber und Janu­ar lern­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne fol­gen­de Wör­ter, die in ihren Prüf­ver­zeich­nis­sen bis­lang nicht zu fin­den gewe­sen waren: Aku­tag­awa . Ammer­see­stra­ße . Aqua­ria­ner­ge­schich­te . Bir­ders . Blü­ten­be­stäu­ber . Droh­nen­leuch­ten . Droh­nen­wa­be . Erzähl­räu­me . Favicon.ico . Heron . Kar­pen­zun­gen­pas­te­te . Holz­steg­fe­der . Kolo­ni­al­wa­ren­la­den . Lich­ten­berg­fal­ter . Licht­fang­ma­schi­ne . Loch­plat­ten­spiel­do­se . Maki­ta­ge . Mund­na­se­mas­ke. Mund­schutz­al­go­rith­mus . Nas­horn­kä­fer . Pis­ta­zi­en­hühn­chen . Rücken­pro­pel­ler­droh­ne . Piga­fetta . Pro­pel­ler­kä­fer . Perl­schiff . Picon . Schnee­ku­gel­ge­stal­ten . som­no­lent . Schwarmer­zäh­lung. — stop
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wolken

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que­bec : 22.45 UTC — Unlängst mein­te ich den Begriff Cor­don sani­taire ver­stan­den zu haben, ein zunächst schö­nes Geräusch war zu einer unheim­li­chen Geschich­te gewor­den, die ich selbst bewoh­ne. Wenn ich in die­ser selt­sa­men Zeit unter frei­em Him­mel spa­zie­re, beob­ach­te ich das Licht in den Fens­tern der Häu­ser. Dort wie­der­um Men­schen, wie sie auf die Stra­ße spä­hen, oder das Licht der Fern­seh­ge­rä­te, selt­sam blau, immer­zu blau, Rück­zugs­ge­bie­te, siche­re Orte oder Qua­ran­tä­ne­sta­tio­nen. Ein Mann erzählt, er habe Furcht, sich zu bücken, um sei­ne Schu­he zu bin­den. Er stell­te sich vor, dort wür­de Viren war­ten, Viren­wol­ken von Win­den getra­gen über Geh­stei­ge wan­dernd wie Sand über Mee­res­bö­den in Ufer­nä­he.  — stop
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maskentier No 1

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tan­go : 0.06 UTC — In einer gezeich­ne­ten Vor­stel­lung der Mas­ken­tie­re sind Augen zu bemer­ken. Das ist sehr selt­sam, weil Augen nicht eigent­lich sinn­voll oder unver­zicht­bar sind für den Zweck, dem Mas­ken­tie­re bald ein­mal die­nen wer­den. Es ist näm­lich so, dass Mas­ken­tie­re in der Lage sein soll­ten, sich auf mensch­li­che Mün­der und Nasen nie­der­zu­le­gen, um die­sel­ben zu beatmen, dem­zu­fol­ge Luft aus der Atmo­sphä­re zu ent­neh­men, um die­se even­tu­ell kon­ta­mi­nier­te Luft für Men­schen oder ande­re Tie­re sorg­fäl­tigst zu fil­tern, indem sie in Stun­den, da sie ihrer Bestim­mung fol­gen, auf viel­fäl­tig gestal­te­ten Wan­gen, Nasen­rü­cken, Hals­par­tien so dicht zu lie­gen kom­men, dass kein Gramm einer Viren­last je an ihren Rän­dern oder Enden ent­wei­chen könn­te. Es ist statt­des­sen ganz wun­der­bar sau­be­re Luft, die sie spen­den, und es ist ganz wun­der­bar sau­be­re Luft, die sie im Gegen­zug wie­der an die Welt zurück­ge­ben wer­den. Natür­lich ist denk­bar, dass kein Wort, kein Schrei durch ihre Leder­haut hin­durch nach drau­ßen drin­gen wird, es wird also stil­ler unter den Men­schen, die schwei­gen und sich sicher füh­len, sobald sie mit ihren wär­men­den Mas­ken über Stra­ßen und durch Waren­häu­ser spa­zie­ren. Dann ist Abend gewor­den, und man legt das getra­ge­ne Tier zurück in einen Behäl­ter, der mit Was­ser gefüllt ist. Dort schwim­men sie dann auf­ge­regt unter wei­te­ren Mas­ken­tie­ren her­um und erzäh­len sich Geschich­ten, was sie hör­ten und was sie gese­hen haben, wäh­rend des Tages, indes­sen sie sich säu­bern und paa­ren, um wei­te­re Mas­ken­tie­re zu erzeu­gen. — Auch Ohren, jawohl! — stop

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eine fotografie und ihre geschichten

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tan­go : 15.08 UTC — Vater sitzt auf einer Bank nahe der Brook­lyn Bridge. Es ist spä­ter Nach­mit­tag. Vater lacht. Die Son­ne steht tief, war­mes Licht fällt auf höl­zer­ne Blan­ken. Über den Schat­ten, den Mut­ter wirft, stol­ziert eine Möwe. Mut­ter foto­gra­fiert ihren Mann mit sei­nem per­sön­li­chen Foto­ap­pa­rat, wes­halb er plötz­lich auf einer Dia-Foto­gra­fie zu sehen ist, uner­war­tet. Vater, im karier­ten Sak­ko, scheint über­rascht zu sein, als habe er nicht bemerkt, dass Mut­ter sei­nen Foto­ap­pa­rat ent­wen­de­te. Es ist ein Augen­blick, von dem bei­de immer wie­der erzähl­ten. Gleich wird Vater auf­ste­hen und sie wer­den von Brook­lyn aus über die Brü­cke nach Man­hat­tan spa­zie­ren. Als ich Jah­re spä­ter selbst auf Rei­sen den Ort die­ser Foto­gra­fie ent­deck­te, mach­te ich eine Auf­nah­me. Ich ging dann gleich­wohl über die Brü­cke nach Man­hat­tan zurück. Es war ein schö­ner Abend, wie damals zur Eltern­zeit. Es war Mai, ich war zufrie­den, weil ich jene Stra­ßen­kreu­zung ent­deckt hat­te, die Aug­gie Wren in dem Film Smo­ke Tag für Tag um acht Uhr in der früh foto­gra­fier­te. Wochen spä­ter erzähl­te ich mei­nem Vater von die­sem Nach­mit­tag und wir set­zen uns vor sei­nen Com­pu­ter. Es war wie im Kino. — stop

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zwei schreckliche figuren

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gink­go : 7.03 UTC — Der Mann ver­steht nicht, war­um ich ihm einen ängst­li­chen Blick schen­ke. Er steht am Ran­de der Leip­zi­ger­stra­ße und ruft: Him­bee­ren 1 Euro, Him­bee­ren 1 Euro. Er brüllt die­se For­mel Stun­de um Stun­de mit sei­nem Atem­wind unter die pas­sie­ren­de Leu­te, Pas­san­ten, und wenn man nun denkt, er könn­te ein infi­zier­ter Sän­ger sein, dann wird man bemer­ken, dass es gefähr­lich sein könn­te, hier ohne Mas­ke, ohne Bril­le über die Stra­ßen zu spa­zie­ren. Und im Café die­se net­te laut­hals tele­fo­nie­ren­de Per­son: Mein Gott, sagt sie zur Lie­sel, wenn das nur ein Weih­nach­ten nicht wird, mit einem Lock­down schon wie­der! Wenn sie ein­mal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Win­de, die alles das Unsicht­ba­re schön durch die Räu­me tra­gen, Luft­bus­se fah­ren her­um, Zep­pe­lin­wol­ken. Es ist schon selt­sam was man alles so sieht und hört neu­er­dings. — stop

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oktoberklee

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nord­pol : 8.12 UTC — Vom Bild­schirm aus spricht eine älte­re Frau, erzählt von Kon­takt­ver­fol­gung, wie sie im Gesund­heits­amt, das sie lei­tet, ver­wirk­licht wird. Ruhi­ge Spra­che, klug, sie scheint wider­stands­fä­hig zu sein, gesund, man möch­te mei­nen, sie sei viel­leicht eine Alm­wir­tin, die in gro­ßer Höhe bei Wind und Wet­ter arbei­tet. Nur ihre Stirn, ihre Augen, ihr grau­es Haar sind zu sehen. Mund, Nase, Wan­gen lie­gen hin­ter einem Mund­schutz ver­bor­gen. Den möch­te ich gern ent­fer­nen, weil ich die­se ener­gisch und zugleich warm und freund­lich spre­chen­de Per­son, wahr­neh­men möch­te, als wäre nicht Pan­de­mie­zeit. Tat­säch­lich ent­de­cke ich in der digi­ta­len Sphä­re bereits im ers­ten Ver­such eine Foto­gra­fie, die sie zeigt, als sie noch ohne Mas­ke arbei­ten konn­te. — Heu­te leich­ter Regen, die Stra­ßen von Kas­ta­ni­en bedeckt, Eich­hörn­chen durch­su­chen das Meer der Früch­te nach genieß­ba­ren Nüs­sen, die sie nicht fin­den. Es wird einen war­men Win­ter geben. Unter den Bäu­men blüht der Klee. — stop
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