echo : 22.05 UTC — Ich hörte, in der Lagune, in welcher im Westen die Stadt Chioggia, im Osten die Stadt Venedig zu finden sind, sollen 120 Roboterfische kreuzen, ein Schwarm, der das Wasser erkundet, Strömungen, Plankton, Metalle, die im Wasser schweben oder sich bereits mit dem Wasser verbunden haben. Wie lange Zeit, dachte ich, müsste ich nahe der Vaporetto — Station Zitelle unter Seemöwen sitzen und ins Wasser spähen, bis ich einen dieser kleinen Roboterfische mit eigenen Augen beobachtet haben würde. Ein seltsames Wesen werden jene schönen, großen, scheuen Vögel vielleicht denken. Es wartet, es schaut ins Wasser, es ist auch in der Nacht noch vor Ort, es schläft nicht, es scheint nicht gefährlich zu sein, es verspeist Äpfel, wir müssen nur warten, dann bekommen wir ein wenig von den Äpfeln vorgelegt. Gleich neben mir steigt das Meer eine steile Treppe hinauf und wieder hinab. — stop
Aus der Wörtersammlung: ton
ai : CHINA
MENSCH IN GEFAHR: „Guligeina Tashimaimaiti ist Doktorandin an der Technischen Universität Malaysia. Zuletzt wurde sie am 26. Dezember 2017 von ihrem Freund Sammy (geänderter Name, um seine Identität zu schützen) am Flughafen Senai International Airport in Malaysia gesehen. Die beiden hatten vereinbart, dass Guligeina Tashimaimaiti ihr Profilfoto bei dem populären chinesischen Chat-Dienst WeChat wöchentlich ändern würde, um zu signalisieren, dass sie sich in Sicherheit befindet. Eine Woche nach ihrer Rückkehr nach Ili in die Uigurische Autonome Region Xinjiang änderte Guligeina Tashimaimaiti wie besprochen ihr Profilbild. Mehrere Wochen lang blieb das Foto nun allerdings unverändert, bis ihr Profilbild eines Tages plötzlich durch ein dunkles, schwarz-weißes, düsteres Foto ersetzt wurde. Was darauf zu sehen war, erinnert an eine Gefängniszelle./ Vor dem Hintergrund des andauernden und beispiellosen scharfen Vorgehens gegen Uigur_innen und andere ethnische Minderheiten in der Autonomen Region Xinjiang, befürchten sowohl ihr Freund Sammy als auch die ältere Schwester von Guligeina Tashimaimaiti, Gulzire, dass die Doktorandin in einem Umerziehungslager inhaftiert ist. Ihre Freund_innen und Familienangehörigen hatten sie vor einer Heimreise gewarnt. Trotzdem war Guligeina Tashimaimaiti nachhause zurückgekehrt, weil sie sich Sorgen um ihre Eltern machte. Seit ihrem letzten Besuch im Februar 2017 hatte sie keinen Kontakt mehr zu den beiden. / Guligeina Tashimaimaiti hätte im Februar 2018 ihre Promotion beginnen sollen. Nachdem sie mehrere Monate lang nichts von ihr gehört haben, wandten sich ihr Freund Sammy und ihre Schwester Gulzire sowohl an die Universität in Malaysia als auch an die Medien. Damit erhofften sie sich, die Aufmerksamkeit auf den Fall zu lenken.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 3.8.2018 unter > ai : urgent action
aleppo
ginkgo : 22.15 UTC — Ich erinnere mich, wie ich als Kind an Geräuschen der Luft zu unterscheiden vermochte, ob ich einer singenden Amsel lauschte oder einer Meise, einer Lerche, einem Rotkehlchen. Ich hörte, Kinder, die in Aleppo leben oder lebten, sollen in der Lage sein, sehr genau zu unterscheiden, um welche Art Munition es sich handelt, die nachts ihre Betten, ihre Lager, erschütterte, welche Flugzeuggattungen sich am Himmel befinden, das Kaliber detonierender Granaten zu erraten. Sofern sie überlebten, haben sie die Vögel noch zu lernen oder wiederzufinden, vielleicht in Buchenwäldern. — stop
ai : ÄGYPTEN
MENSCH IN GEFAHR: „Am 9. Mai stellte Amal Fathy ein Video auf ihrer Facebook-Seite ein, in dem sie die von ihr erlebte sexualisierte Belästigung thematisierte, die Dringlichkeit dieses Problems in Ägypten betonte und die Regierung kritisierte, weil sie die Frauen in Ägypten nicht davor schützt. Zudem kritisierte sie das scharfe Vorgehen der Regierung gegen die Menschenrechte, die sozioökonomischen Bedingungen und die Missstände im öffentlichen Dienstleistungssektor. Daraufhin durchsuchte die Polizei am 11. Mai gegen 2:30 Uhr die Wohnung von Amal Fathy und inhaftierte sie in der Polizeiwache Maadi in Kairo zusammen mit ihrem Ehemann Mohamed Lotfy, einem früheren Mitarbeiter von Amnesty International und aktuellen Direktor der Menschenrechtsorganisation Ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten (Egyptian Commission for Rights and Freedoms – ECRF) und ihrem dreijährigen Kind. Mann und Kind wurden nach drei Stunden wieder freigelassen. / Am 11. Mai prüfte die Staatsanwaltschaft Maadi Amal Fathys Fall und ordnete 15 Tage Haft für die Dauer der Ermittlungen zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen an – unter anderem „Veröffentlichung eines Videos, das Falschinformationen enthält, die den öffentlichen Frieden beeinträchtigen könnten”. Am folgenden Tag verhörte die Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit sie in einem weiteren Fall zu ihrer angeblichen Verbindung zur Jugendbewegung 6. April. Für die Dauer der Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Gruppe ordnete sie weitere 15 Tage Untersuchungshaft an. / Internet-Trolle kopierten das Video und Fotos von Amal Fathy von ihren Sozialen Medien-Seiten und posteten sie auf Facebook und Twitter zusammen mit geschlechtsspezifischen Beschimpfungen und der Forderung nach ihrer Festnahme. Mehrere regierungsfreundliche und staatliche Medien veröffentlichten Artikel über das Video und behaupteten fälschlich, dass sie eine Aktivistin der Jugendbewegung 6. April sei und bei der ECRF arbeite. Darüberhinaus schrieben sie, dass sie mit dem Direktor der ECRF verheiratet sei und verstießen damit gegen ihr Recht auf Privatsphäre.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 30.6.2018 unter > ai : urgent action
von stühlen
nordpol : 7.58 UTC — Im Haus der alten Menschen sitzen Damen an einem Tisch von früh bis spät. Ein Fernsehapparat, der an der Wand hängt, flach wie ein Schollenfisch, spult sich durch den Tag. Die alten Damen nehmen kaum Notiz von dem Licht, das auf sie fällt. Der Ton ist ausgeschaltet, der Fisch ist stumm. So sitzen sie zeitlos, wie mir scheint, sie erinnern sich vermutlich nicht, ob ich an diesem Tag schon an ihnen vorüber gekommen bin, aber sie kennen mich, den treuen Besucher, ich habe doch einen Eindruck hinterlassen. Wenn ich mich über einen langen Flur spazierend dem Raum der alten Damen nähere, weiß ich präzise vorherzusagen, welche der Damen auf welchem der Stühle sitzen wird, vor dem Tisch, der dreimal am Tag sich füllt, mit Speisen, auch mit Kaffee oder gekühltem Himbeersaft. Nur wenn das Wetter sich Hals über Kopf verändern wird, davon erzählen leere Stühle, die doch von den Abwesenden besetzt sind, sie warten oder schlafen nachts im Halbdunkel, schlafende Stühle. — stop
manhattan
wolkenserver
tango : 8.32 UTC — Ich stellte mir einen kleinen Vogel vor, so groß vielleicht wie eine Fruchtfliege mit einem Plutoniumherz, ein Geschenk der Eltern an ein Kind, eine Aufzeichnungsmaschine, federleicht, welche das Leben des Kindes begleitet, verzeichnet, was das Kind unternehmen wird in seinem Leben, was es notieren und sprechen, wohin es reisen, wie gut oder schlecht es schlafen wird. Ein Leben aus nächster Nähe, zuverlässig aufgenommen und gespeichert in einem Wolkenserver. — stop
zu washington
MELDUNG. Zu Washington im Opernhaus, 2700 F Street, werden am Mittwochabend, 2. Mai 2018, zwei San-Lorenzo-Harlekin-Frösche, letzte ihrer Art, öffentlich auf zentraler Bühne zur Sprengung gebracht. Zündung des männlichen Tieres um 22 Uhr Ortszeit, Zündung des weiblichen Tieres um 22 Uhr 30. Die Vorstellung ist ausverkauft. – stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 15, Luftfahrt — 8, Automobile — 421 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 1, 19. Jahrhundert – 22, 20. Jahrhundert – 455, 21. Jahrhundert — 6552 ], Trolleykoffer [ blau : 28, rot : 6, gelb : 57, schwarz : 144 ], Seenotrettungswesten [ 1088 ], physical memories [ bespielt — 5, gelöscht : 9 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 377 ], 2 Giraffen [ Holz / Baujahr 2012 ], Brummkreisel : 16, Öle [ 0.21 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 8, Kniegelenke – 17, Hüftkugeln – 12, Brillen – 768 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 124, Größen 38 — 45 : 85 ], Plastiksandalen [ 754 ], Reisedokumente [ 567 ], Kühlschränke [ 2 ], Telefone [ 653 ], Puppenköpfe [ 2 ] Gasmasken [ 17 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 12 ], Engelszungen [ 758 ] | stop |
vom tonfilm
marimba : 18.15 UTC – Das Haus der alten Menschen scheint ein guter Ort zu sein, um das Wesen der Zeit zu beobachten. Ich habe auf den Fluren und in den Zimmern des Hauses weder Zeigeruhren noch Zifferuhren an Wänden entdeckt, aber Pulse. Manche der alten Damen und Herren tragen Armbanduhren, manche der Uhren sind längst stehen geblieben, niemand, so kommt mir das vor, würde sie wieder aufziehen wollen oder ihre Batterien erneuern. Auch meine alte Mutter trägt eine Uhr, sie ist von einem hellen Blau, das ist wichtig, nicht welche Zeit die Uhr anzeigen mag, die blaue Uhr ist neu, weshalb sich die Zeiger der Uhr noch bewegen. Wenn man lange Zeit ganz still sitzt an einem Bett, in dem sich ein schlafender Mensch befindet, scheint das Zeitgefühl sich zu verformen. Die Zeit vergeht langsam oder sie vergeht schnell. Eine alte Dame kommt im Rollstuhl vorüber in einem Rhythmus, der als eine geheime Uhr wirksam werden könnte. Sie fährt auf und ab, wie ein Pendel, einen langen Flur hin und her. Auch die Bewegungen der Schwestern wirken wie geheime Uhren, die Ausgabe der Medikamente, das Wenden der Körper in den Betten. Die alte, pendelnde Frau auf dem Flur wird bald 100 Jahre alt geworden sein. Im Jahr ihrer Geburt wurde der Tonfilm erfunden. — stop