Aus der Wörtersammlung: vergessen

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lido santa maria elisabetta

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tan­go : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Auto­mo­bi­le ken­ne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stun­den der Fahrt mit­tels Was­ser­bus­sen hin und her und her­um, muss ich des­halb an Land gehen, muss mei­ne Schreib­ma­schi­ne mit Strom ver­sor­gen, um arbei­ten zu kön­nen. Ich stell­te mir ein­mal vor, wie ich unter Vene­zia­ne­rin­nen und Vene­zia­nern sit­ze mit einer klap­pern­den Olym­pia­schreib­ma­schi­ne auf den Knien. Oder das Notie­ren von Hand in ein Notiz­buch auf schwan­ken­den Sitz­ge­le­gen­hei­ten der Dampf­schiff­chen rei­send. Man kann nie­mals erah­nen, in wel­che Rich­tung sich die Welt bewe­gen wird. Plötz­lich fährt die Stift­spit­ze unter der Hand sprung­haft vor­wärts oder rück­wärts, zieht eine Linie jen­seits geplan­ter Schrift­zei­chen, bil­det die Bewe­gung des Mee­res auf Notiz­pa­pie­ren nach. In der digi­ta­len Zeit wer­den ver­rück­te Zei­chen, Fol­ge der Mee­res­be­we­gung von dem Kor­rek­tur­ge­dächt­nis der elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne unver­züg­lich kor­ri­giert. Eine wun­der­ba­re Beob­ach­tung ist, wie ich siche­rer wer­de im Ste­hen auf dem Was­ser im Bus. Beob­ach­te­te hun­der­te Male Kno­ten­bin­dung in dem Moment, da sich das Batel­lo dem Lan­de nähert, da es anzu­le­gen wünscht, sodass es für einen kur­zen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Men­schen dann über Brü­cken gehen, wie tan­zen. Am Abend ein­mal spür­te ich die uralte Stadt selbst unter mir schwan­ken. Da ich mich in die­sem Augen­blick dem Lido nähe­re, bemer­ke ich, dass ich die Erfin­dung der Auto­mo­bi­le bereits nach weni­gen Tagen ver­ges­sen habe. — stop
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san zaccaria

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nord­pol : 23.01 UTC — Cla­ra, ein Nas­horn, wel­ches vor lan­ger Zeit als leben­des Schau­stück durch Euro­pa reis­te, soll im Jahr 1751 zur Zeit des Kar­ne­vals auch in Vene­dig zu sehen gewe­sen sein. 1720 bereits wur­de das Café Flo­ri­an am Ran­de des Mar­kus­plat­zes eröff­net. Man stel­le sich ein­mal vor, wie das aus­ge­wach­se­ne Nas­horn wie­der­käu­end in einem der mit Fein­gold ver­zier­ten Kaf­fee­haus­ab­tei­le steht und etwas vom Heu nascht, wäh­rend es begafft wird. Man kann leich­ter Hand sehr vie­le Geschich­ten erfin­den, wenn man mit Was­ser­bus­sen selbst­ver­ges­sen durch Vene­dig reist, man könn­te die ein oder ande­re Wirk­lich­keit mit einer wei­te­ren Wirk­lich­keit ver­we­ben. An einem Nach­mit­tag folg­te ich einer Grup­pe betag­ter Chi­ne­sin­nen durch jene Gäss­chen, da sich Glas­wa­ren­mo­ti­ve tau­send­fach repro­du­zie­ren. Ich dach­te noch, ich sei von Vögeln umge­ben, zwit­schern­de Stim­men. Plötz­lich deu­te­te eine der alten Frau­en, sie trug gel­be Turn­schu­he und schloh­wei­ßes Haar auf dem Kopf, nach einem Schrift­zug, der auf der Rück­sei­te einer Minia­tur­thea­ter­mas­ke von Plas­tik zu lesen war: Made in Chi­na, die­se Freu­de. Wie wun­der­bar die Küchen der Zwerg­kö­che, deren Räu­me da und dort sicht­bar wer­den in der Dun­kel­heit schma­ler Gas­sen. Ein­mal begeg­ne­te ich an einem spä­ten Abend einem Mäd­chen, das leuch­te­te. — stop

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neufundland 18.01.45 uhr : schneeweiße stimme

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del­ta : 20.01 UTC — Noe, wir sind glück­lich, mel­de­te sich am frü­hen Abend end­lich wie­der. Ver­mut­li­che Tie­fe: 886 Fuß. Posi­ti­on: 78 See­mei­len süd­öst­lich der Küs­te Neu­fund­lands seit nun­mehr 2732 Tagen im Tief­see­tauch­an­zug unter Was­ser. ANFANG 18.01.45 | | | schrei­be oder den­ke ich? s t o p alles da drau­ßen ohne das geräusch einer spra­che. s t o p nur das sin­gen der wale. s t o p was sehen sie in mir? s t o p einen fisch? b l a c k s h o e f r o m a b o v e. s t o p das rau­schen der luft links und rechts mei­ner ohren. s t o p das was­ser nur eine schwa­che vorstel­lung. s t o p — e n o r m o u s g r e y f i s h r i g h t h a n d . s t o p ich habe den ver­dacht jün­ger zu wer­den. s t o p viel­leicht des­halb jün­ger wer­de weil ich mei­nen kör­per nicht sehen kann. s t o p unmög­lich das geräusch des regens noch vorzu­stellen. s m a l l s p o o n f r o m a b o v e . s t o p einen atem­zug lang habe ich mei­nen namen ver­ges­sen. s t o p t h r e e b l u e f i s h e s l e f t h a n d . s t o p immer wie­der die­sel­ben träu­me. s t o p von kie­men. s t o p von uhren. s t o p. von astro­nauten. s t o p von yoko. s t o p von ihrer stim­me die nicht erin­nert wer­den kann. s t o p schnee­weiße stim­me. s t o p schnee­weiße haut. s t o p schnee­weißer sand. s t o p ich soll­te wie­der ein wenig schwei­gen. stop | | | ENDE 18.03.58

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verschwinden no 2

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echo : 20.05 UTC — Manch­mal, wäh­rend ich hin­ter dem Roll­stuhl mei­ner Mut­ter spa­zie­re, sehe ich etwas, und dann sehe ich wie­der nichts für län­ge­re Zeit. Ich sehe Schwal­ben über den Him­mel huschen, ich sehe das Stroh­hüt­chen mei­ner Mut­ter auf ihrem Kopf, ich sehe ihre alten Hän­de, die mit­ein­an­der rin­gen. Wenn ich etwas wirk­lich sehe, also erken­ne, kann ich es for­mu­lie­ren. Ich sehe dem­zu­fol­ge mit Wör­tern. Wenn ich ohne Wör­ter gedan­ken­los sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sehe und ver­ges­se in ein und dem­sel­ben Moment. Ich ver­ges­se Schwal­ben, Rosen­blü­ten, die Hän­de mei­ner Mut­ter, ihr Hüt­chen auf dem Kopf, den Him­mel über mir, Bäu­me, das Licht in den Pfüt­zen, und schon habe ich mei­ne Füße und kurz dar­auf mich ins­ge­samt ver­ges­sen. – stop
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leere seite

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sier­ra : 10.22 UTC — Ein­mal beob­ach­te ich einen Mann, der anhand der Gestalt von Schrift­zei­chen, die auf Brief­um­schlä­gen zu fin­den sind, Dia­gno­sen erstellt. Er mache das seit vie­len Jah­ren. Zur Betrach­tung wird also ein Brief, der zu unter­su­chen ist, aus einer Box geho­ben, um ihn unter das Licht einer star­ken Lam­pe zu legen. Der Mann sagt: Die Per­son, die die­sen Brief nach Lon­don sen­de­te, war im Moment, da sie ihren Brief adres­sier­te, betrun­ken. Er nimmt einen wei­te­ren Brief aus der Box: Die­ser Brief nach Zürich wur­de von einer Frau notiert, die glaub­te, ihre Zeit sei abge­lau­fen. Das hier ist ein ganz selt­sa­mes Exem­plar, nicht wahr, war­um über­haupt jedes Schrift­zei­chen auf dem Brief­um­schlag ver­ges­sen wur­de, kön­nen wir erst dann mit Sicher­heit sagen, wenn wir den Brief geöff­net haben Erden, schö­ne Brief­mar­ke. Hier haben wir einen Brief, des­sen Adres­se nur schein­bar von Hand gesetzt wor­den ist, bei genau­er Ansicht ist Fol­gen­des deut­lich zu erken­nen: Die Anschrift „To Lady Char­lot­te Rid­lin­ger, NY, 210 Lex­ing­ton Ave­nue“ wur­de von einer Maschi­ne gestem­pelt. — stop

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auf hoher see

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bamako : 15.08 UTC — Ich hör­te von einem adop­tier­ten Jun­gen, der ger­ne den Nach­na­men sei­ner Nach­barn anneh­men möch­te. Sei­ne neu­en Eltern hei­ßen näm­lich Sim­bar­ski — Koh­le­berg, oder so ähn­lich, sei­ne Nach­barn Weber. Er selbst heißt Tobi­as, mit Vor­na­men, sein ursprüng­li­cher soma­li­scher Name ist unbe­kannt, er habe ihn, sagt er, ver­ges­sen, er wis­se nicht war­um, sein Name sei irgend­wo auf der Flucht ver­lo­ren gegan­gen. Spä­ter ein­mal will er Fluss­schiff­ka­pi­tän wer­den. Der Jun­ge meint eines die­ser gro­ßen Boo­te, die Pas­sa­gie­re beför­dern, er will eine wei­ße Uni­form tra­gen und auf sei­nem eige­nen Schiff zur See fah­ren. Zur­zeit arbei­tet er noch als Brief­trä­ger, er ist gera­de 20 Jah­re alt gewor­den. Er berich­tet, dass er in der ers­ten Stadt, in der er in Euro­pa wohn­te, nicht ver­stan­den habe, was Fahr­rad­we­ge sind, er habe sie für Flücht­lings­we­ge gehal­ten, wäh­rend die Ein­hei­mi­schen auf Bür­ger­stei­gen spa­zie­ren. — stop

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nikolai wassiljewitsch

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marim­ba : 0.12 UTC — Eigent­lich soll­te ich nie­mals das Ende eines Trau­mes erzäh­len, Trau­men­den befin­den sich nicht sel­ten bereits mit einem Bein im neu­en Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirk­lich­keit nen­nen, ich bin dann schon wach gewor­den auf einem Bein, habe die Fens­ter geöff­net, es reg­net zum Bei­spiel, auf der Stra­ße weit unter mir bewe­gen sich Regen­schir­me, Men­schen sind kei­ne zu erken­nen, aber ein paar nas­se Tau­ben, die sich, von der Schwe­re ihres Gefie­ders in die Tie­fe gezo­gen, kaum noch in der Luft zu hal­ten ver­mö­gen. Eine Exkur­si­on zur Kaf­fee­ma­schi­ne hin nüt­ze ich, um mein Mikro­skop vom Tisch zu holen. Tat­säch­lich erken­ne ich jetzt eine Her­de gold­grü­ner Frö­sche, die sich an der Haus­wand gegen­über west­wärts bewe­gen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, pras­selt auf die Blät­ter der Bäu­me, tropft von den Regen­rin­nen auf ble­cher­ne Fens­ter­sim­se, was für ein wun­der­schö­ner Mor­gen, schon habe ich den Traum, den ich träum­te, bei­na­he ver­ges­sen. Wie gut die Luft heu­te riecht, das den­ke ich noch, und erken­ne in die­sem Augen­blick zwei mensch­li­che Nasen, die dicht neben­ein­an­der auf dem Rücken einer Stra­ßen­lam­pe sit­zen, sie sind sicher aus einem Buch gehüpft, das ich nicht lesen kann, weil es in rus­si­scher Spra­che auf­ge­schrie­ben wur­de, ich erin­ne­re mich, Gogol, nicht wahr, ich soll­te bald Gogols Nase lesen, auch soll­te ich ein wenig der rus­si­schen Spra­che lau­schen, um bald wie­der glück­lich ein­zu­schla­fen. — stop
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ein papiersegler

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ulys­ses : 17.52 UTC — Wie vie­le Geschich­ten habe ich in mei­nem Leben bereits ver­ges­sen? Es ist denk­bar, dass ich, wenn ich mich  an ver­ges­se­ne Geschich­ten erin­ne­re, mei­ne, sie sei­en umfas­send neue Geschich­ten. — stop

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