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nachtfalter

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alpha : 0.03 – Tru­man Capo­tes fei­ne Geschich­te Music for Cha­me­le­ons. Das Por­trät einer Aris­to­kra­tin, die dem ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­ler wäh­rend der 50er-Jah­re auf Mar­ti­ni­que Gast­ge­be­rin gewe­sen war. Ich hat­te die Geschich­te vor lan­ger Zeit bereits gele­sen und seit­her nie aus den Augen, nie aus dem Nah­ge­dächt­nis ver­lo­ren. Wie eine ele­gan­te Lady auf einem gut gestimm­ten Kla­vier eine Mozart-Sona­te spielt, und wie sich Cha­mä­le­ons, von den Geräu­schen des Instru­ments ange­zo­gen, zu ihren Füßen ver­sam­meln. Ich konn­te mich gut erin­nern an Geis­ter­we­sen, an rot­äu­gi­ge klei­ne Men­schen weiß wie Krei­de, an einen Gar­ten rie­si­ger Nacht­fal­ter, an Pfef­fer­minz­tee und Absinth, an Gau­gu­ins schwar­zen Spie­gel. Und wie die Cha­mä­le­ons in ihren Far­ben, die über ihren Kör­per blitz­ten, die Musik Mozarts impro­vi­sie­ren, davon hat­te ich begeis­tert immer und immer wie­der ein­mal erzählt. Und dann lese ich Capo­tes Geschich­te wie­der. Da waren Nacht­fal­ter und Men­schen von krei­de­wei­ßer Haut, und Pfef­fer­minz­tee und Absinth, Mozart, Gau­gu­in, aller­lei Geis­ter, eine Lady und ihr Kla­vier, und natür­lich Cha­mä­le­ons, Cha­mä­le­ons laven­del­far­ben, gelb, lind­grün, schar­lach­rot. Ich las und war­te­te, war­te­te dar­auf, dass ich bald jene Stel­le errei­chen wür­de im Text, da Far­ben impro­vi­sie­rend die Kör­per der Cha­mä­le­ons beleuch­te­ten. War­te­te ver­geb­lich. War­te­te noch, als der Text schon lan­ge Zeit zu Ende gele­sen war. — Exis­tiert viel­leicht eine gehei­me Schreib­ma­schi­ne in mei­nem Kopf, die Lek­tü­ren mei­nes Lebens geräusch­los wei­ter­schreibt? — stop

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von der hölle / von der hoffnung

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marim­ba : 0.55 — Sie sin­gen wie­der! Viel­leicht haben Sie nie auf­ge­hört. Tehe­ran bei Nacht. Auch Per­sian­ki­wi und Fereshteh Gha­zi, die für lan­ge Zeit ver­stumm­ten, sen­den auf Posi­ti­on Twit­ter. Der Ein­druck, ein Film, der im Som­mer 2009 ange­hal­ten wur­de mit extre­men Mit­teln staat­li­cher Gewalt, set­ze sich lang­sam erneut in Bewe­gung. stop. Das Schwei­gen. stop. Die Stil­le. stop. 18 Mona­te. stop. stop. / 26. juni 2009 : F. erzählt von Näch­ten, die er vor 30 Jah­ren in den Stra­ßen und auf den Dächern über der Stadt Isfa­han ver­brach­te. Das Rufen tau­sen­der Stim­men: Allah-o-Akbar. Wir haben das erfun­den, um den Schah zu ver­trei­ben, auch älte­re Men­schen konn­ten sich in die­ser Wei­se bemerk­bar machen. Wir kämpf­ten für Demo­kra­tie, hör­ten BBC, um her­aus­zu­fin­den, ob irgend jemand wahr­nimmt, was mit uns geschieht. Kannst Du ver­ste­hen, wie ich mich jetzt füh­le? – Furcht­bar wur­den sie betro­gen, eine Gene­ra­ti­on im Exil. – Kurz nach Mit­ter­nacht. Fereshteh Gha­zi, jun­ge Jour­na­lis­tin, notiert: Tonight, like past nights, the chants of “Allah-o-Akbar” were heard on roof tops of Tehr­an & other cities. Seit Tagen schreibt sie sich die Fin­ger wund. Per­sian­ki­wi aber, des­sen Zei­chen ich vie­le Stun­den lang auf dem Bild­schirm erwar­te­te, ist ver­stummt. Vor­ges­tern noch Zei­len auf Twit­ter fol­gen­de: > just in from Baha­re­stan Sq – situa­ti­on today is ter­ri­ble – they beat the ppls like ani­mals 3:34 PM Jun 24th I see many ppl with bro­ken arms/legs/heads – blood ever­y­whe­re – pep­per gas like war 3:35 PM Jun 24th 
they were wai­ting for us – they all have guns and riot uni­forms – it was like a mou­se trap – ppl being shot like ani­mals 3:53 PM Jun 24th saw 7/8 militia bea­ting one woman with baton on ground – she had no defen­se not­hing – sure that she is dead 3:55 PM Jun 24th so many ppl arres­ted – young & old – they take ppl away – we lose our group 3:59 PM Jun 24th ppl run into alleys and militia stan­ding the­re wai­ting – from 2 sides they attack ppl in midd­le of alleys 4:01 PM Jun 24th all shops was clo­sed – nowhe­re to go – they fol­low ppls with heli­c­op­ters – smo­ke and fire is ever­y­whe­re 4:03 PM Jun 24th pho­ne line was cut and we lost inter­net – get­ting more dif­fi­cult to log into net 5:05 PM Jun rumour they are track­ing high use of pho­ne lines to find inter­net users – must move from here now 5:09 PM Jun 24th reports of street fight­ing in Vanak Sq, Tajrish sq, Azadi Sq – now – Sea of Green – Allah Akbar 5:14 PM Jun 24th in Baha­re­stan we saw militia with axe cho­ping ppl like meat – blood ever­y­whe­re – like but­cher – Allah Akbar – 5:16 PM Jun 24th they catch ppl with mobi­le – so many kil­led today – so many inju­red – Allah Akbar – they take one of us – 5:18 PM Jun 24th Lale­zar Sq is same as Baha­re­stan – unbe­le­va­ble – ppls mur­de­red ever­y­whe­re – 5:19 PM Jun 24th they pull away the dead into trucks – like fac­to­ry – no human can do this – we beg Allah for save us – 5:23 PM Jun 24th Ever­y­bo­dy is under arrest & cant move – Mou­sa­vi – Kar­rou­bi even rumour Khat­a­mi is in house guard – 5:28 PM Jun 24th we must go – dont know when we can get inter­net – they take 1 of us, they will tor­tu­re and get names – now we must move fast – 5:34 PM Jun 24th thank you ppls 4 sup­port­ing Sea of Green – pls remem­ber always our mar­tyrs – Allah Akbar – Allah Akbar – Allah Akbar 5:36 PM Jun 24th Allah – you are the crea­tor of all and all must return to you – Allah Akbar 5:39 PM Jun 24th
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motel chronicles

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echo

~ : louis
to : Mr. Shepard
sub­ject : MOTEL CHRONICLES

Eine Depe­sche, ver­ehr­ter Mr. She­pard, an die­sem frü­hen Mor­gen in Euro­pa. Bei Ihnen da drü­ben in Ame­ri­ka wirds gera­de dun­kel wer­den. Notie­re begeis­tert, dass ich Ihre Motel Chro­nic­les geöff­net habe. Obwohl äußerst müde gewe­sen, las ich eine Halb­stun­de vor­an, ohne eine Pau­se ein­zu­le­gen. Ihre prä­zi­se Spra­che, die leicht ist wie Bims­stein, vul­ka­nisch, von Zeit­höh­len durch­wach­sen. Ob es viel­leicht mög­lich ist, ihre Geschich­ten zu neh­men, um sie in eines der Bücher zu über­tra­gen, die ich erfin­de für Nacht­per­so­nen, oder eine Zei­le nur wie die­se, da das Glück fällt auf die lin­ke Sei­te des Zufalls? Viel­leicht wer­den Sie fra­gen, wel­che Eigen­schaf­ten ein Nacht­buch von Tage­bü­chern unter­schei­den. Nun, ein Nacht­buch gebie­tet über wan­dern­des Licht in sei­nen Zei­chen, wel­ches müde Leser kaum merk­lich wei­ter lockt. Sobald sich näm­lich stu­die­ren­de Augen schlie­ßen, leuch­tet das Licht im nächs­ten Zei­chen, im nächs­ten Wort vor­aus, sodass man nicht auf­hö­ren möch­te, die­sem Licht durch die Zei­len zu fol­gen. Eine Ver­füh­rung, das könn­te sein, ein Appell des Buches, das in den Buch­sta­ben­sen­so­ren, das Augen­licht der Lesen­den zu spü­ren ver­mag. Eines die­ser Nacht­bü­cher könn­te Ihres wer­den, lie­ber Mr. She­pard, Motel Chro­nic­les, unsicht­ba­re Zei­chen des Tages, Licht in der Nacht. Erwar­te Ihre Ant­wort oder Fra­gen mit Freu­de, wie auch immer sie sich für mich dar­stel­len wer­den. Mit herz­li­chen Grü­ßen — Ihr Louis

gesen­det am
17.02.2011
4.08 MEZ
1407 zeichen

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spindel

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del­ta : 0.05 — Wie­der beob­ach­tet, dass ich mei­ne Ohren nicht bewe­gen kann, obwohl mir doch Ohren­mus­keln zur Ver­fü­gung ste­hen, gehei­me Spin­del­kör­per, sagen wir, sie tra­gen ernst­haf­te ana­to­mi­sche Namen, dem­zu­fol­ge ich ver­such­te, sie behut­sam mit­tels der Spra­che mei­ner Gedan­ken in die Pflicht zu neh­men. Bewegt Euch, sag­te ich, und noch ein­mal und wie­der und wie­der eini­ge Minu­ten lang, bis ich, schein­bar leicht ver­rückt gewor­den, das Gefühl für mei­nen Kopf zwi­schen den Ohren ver­lo­ren habe. — stop

 

interview
tahrir square februar 2011
kurz nach ausbruch staatlicher gewalt
gegen aktivisten/innen auf dem platz
source : zero silence project

 

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gebäck

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gink­go : 6.05 — War bei Har­rods gewe­sen, ein hell aus­ge­leuch­te­ter Saal. Ver­käu­fe­rin­nen in grü­nen Over­alls sta­pel­ten kunst­voll mensch­li­che Arme und Bei­ne und Köp­fe auf Tische. Kla­re, in den Augen schmer­zen­de Sub­stanz fiel von der Decke. Bald dar­auf Kurz­stre­cken­fahrt im U‑Bahnwaggon. Ein feuch­ter mensch­li­cher Arm ruh­te auf mei­nen Ober­schen­keln. Die­ser Arm nun war in Zei­tungs­pa­pier gewi­ckelt, sei­den wei­ße Sub­stanz tropf­te auf den Boden. Gleich gegen­über ein Mann und eine Frau. Das Gesicht des Man­nes dampf­te. Die Frau, die eine Melo­die vor sich hin­summ­te, schäl­te mit einem Tee­löf­fel­chen gramm­schwe­re Fleisch­pro­ben aus den Wan­gen des Man­nes, um sie ent­we­der sofort zu ver­zeh­ren oder wei­te­ren Fahr­gäs­ten dar­zu­bie­ten. — stop. — Mon­tag. stop. Duke Elling­ton : Take the “A” Train. stop. Es ist denk­bar, dass ich über das Gedächt­nis eines Ele­fan­ten ver­fü­ge. — stop

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radar

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alpha : 0.02 – Viel­leicht sind Dis­zi­pli­nen der Arith­me­tik einer­seits, das lei­den­schaft­li­che Wün­schen eines schrei­ben­den Erfin­ders ande­rer­seits, im Moment der Ent­de­ckung sei­ner Spur Werk­zeu­ge ein und der­sel­ben Hand. — stop

 

interview
tahrir square februar 2011
kurz vor ausbruch staatlicher gewalt
gegen aktivisten/innen auf dem platz
source : zero silence project
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kairobildschirm

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sier­ra : 6.28 — Regen, ers­te Mil­de des Jah­res. Ein Freund, ara­bi­scher Jazz­mu­si­ker und stark wie ein Bär, erzähl­te vor weni­gen Stun­den, er sei ver­sucht gewe­sen, wäh­rend der Rede Hus­ni Muba­raks am Don­ners­tag­abend, sein Fern­seh­ge­rät zu zer­trüm­mern. Kann ich nun von einem Wun­der spre­chen, dass in der zurück­lie­gen­den Nacht in den Stra­ßen Kai­ros nicht rasen­de Gewalt aus­ge­bro­chen ist? Merk­wür­dig der Augen­blick, als sich nach­mit­tags über den hell­blau­en Him­mel der rie­si­gen Stadt ein Hub­schrau­ber fort­be­weg­te, sand­far­ben und so klein, dass er kaum noch sicht­bar gewe­sen war, ein Luft­fahr­zeug, in dem sich viel­leicht ein Men­schen­despot befand, von dem ich nicht sagen kann, ob er je ver­ste­hen wird, was gesche­hen ist. Kurz dar­auf das Beben des Bodens, seis­mo­gra­fisch mess­bar unter Tau­sen­den tan­zen­der Füße, die ihre Schu­he wie­der tra­gen. Auf mei­nem Fern­seh­bild­schirm erweist ein Gene­ral mit einer irri­tie­ren­den mili­tä­ri­schen Ges­te den Opfern des Auf­stan­des sei­ne Ehre. — stop

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