whiskey : 6.15 — Hatte gestern Abend gegen 10 Uhr zwei Wörter auf ein Blatt Papier geschrieben, um sie nicht zu vergessen: Lunar Caustic. Jetzt ist die Nacht vorüber und ich habe keine schreibbaren Gedanken, weil ich acht Stunden mit meinem Laptop auf dem warmen, hölzernen Boden meines Arbeitszimmers herumgelegen habe und nach Spuren Malcolm Lowrys in den Archiven der New York Times gesucht. — 6 Uhr. Leichter Regen. Taubengraublauer Himmel. — stop
Aus der Wörtersammlung: arm
bild schlafen
whiskey : 2.15 — Vor dem Fenster knistern Kastanienbäume, vielleicht davon sind Violet und Daisy aufgewacht. Ein leises Geräusch zunächst, das schnurrende Geräusch einer Pedale, dann das Klappern einer Schreibmaschine im angenehm warmen Licht eines hölzernen Zimmers lange vor meiner Zeit. Was für eine seltsame Schreibtischlampe! Und wie die Mädchen lächeln, in einer Weise lächeln, dass sie zu leuchten scheinen. Es sieht ganz so aus, als hätte das eine Mädchen dem anderen Mädchen gerade eben noch eine Geschichte erzählt. Zufrieden lauscht sie ihren Worten nach, während das andere Mädchen die Geschichte in die Maschine notiert. Zwei Mädchen exakt gleichen Alters, vielleicht schon junge Frauen. In diesem Moment, in dieser Minute, da ich wieder einmal notiere oder bemerke oder erinnere, dass Daisy und Violet Hilton an einer Stelle ihres Körpers derart ineinander verwachsen sind, dass kein Luftraum sie je voneinander trennen wird, wieder der vertraute Eindruck, dass ich ihnen zu nahe kommen könnte, indem ich ihnen schreibe. Und tatsächlich sind sie nun wach geworden. Wie Daisy ihren Kopf zur Seite neigt, eine kaum wahrnehmbare Bewegung. Wie ich müde werde von einer Sekunde zur anderen. Wie Daisy noch sagt: Violet, schau, ist das nicht ein merkwürdiger Mann? Wartet so lange, wartet und wartet, dass wir uns bewegen. Und jetzt ist er eingeschlafen.
kofferzimmer
echo : 2.18 — Ich stellte mir eine Minute vor, dann eine Stunde, dann einen Tag. Ich stand auf und ging von Zimmer zu Zimmer, aß eine Banane, sah aus dem Fenster, setze mich an den Schreibtisch, stellte mir eine Woche vor, dann einen Monat, dann ein Jahr. Ich erhob mich, sah nach der Uhrzeit, dann aus dem Fenster, verließ das Haus, spazierte und kam zurück, setzte mich aufs Sofa. Eine harmlose Geschichte. Sogleich weiter gedacht. Seltsame Kerne leise in meinem Kopf hin und her bewegt, jene von den Schlafwaben zum Beispiel, von Kofferzimmern, in welchen erwerbslose Menschen dämmernd lagern. Wie ihnen schmerzlos die Zeit vergeht, wie sie, von besseren Zeiten träumend, Blutkonserven aus ihren Knochen destillieren. Kaum hatte ich aufgeschrieben und mich gewundert über das, was ich dachte, stand ich wieder in der Küche, aß eine weitere Banane und einen Pfirsich zum Nachtisch. Dann, endlich, bemerkte ich Geraldines Sommerhut, sein Schaukeln auf atlantischen Wellen. Ungeheure Stille. Absolute Stille. In dieser namenlosen Stille, ein Hut allein auf dem Meer. Kein Schiff. Kein Land. Aber einhundert Seemeilenkreise von Stille in einem Bild, das ich niemals mit Augen sehen, sondern immer wieder nur denken werde. stop. Guten Morgen!
regenzeit
olimambo : 0.02 — Angenehme Müdigkeit, warm und leicht, eine Versuchung, sagen wir, sofort die Augen zu schließen und nachzusehen, was das Nachtleuchten im Kopf mit mir vielleicht bald unternehmen wird. — Seltsam, wie es ist. — Vor wenigen Stunden noch über das Geräusch des Regens nachgedacht. Nicht einfach nur so über das gewöhnliche Geräusch vom Himmel kommenden Wassers, sondern über ein Regengeräusch, das bis in die Träume eines Schlafenden reicht, sodass er wach wird vom Regen, den er träumte und doch nicht träumte. ping ping ping. Wie er sich aufsetzt, wie er durch ein dunkles Zimmer tastet, wie er auf einem Balkon steht und wie ihm der Regen aufs Gesicht fällt. stop. Ein Uhr zweiundzwanzig auf hoher See vor Lampedusa. — stop
symphonie
romeo : 0.01 — Da sind im Konzertsaal 8 Kontrabassisten und sie flüstern miteinander, während sie leise etwas Jazzmusik spielen, vielleicht weil das schon immer die beste Methode gewesen ist, ein Instrument aus dem Schlaf zu holen. Auch der Chor ist schon eingetroffen und raschelt mit seinen Papieren. Eine entspannte Atmosphäre, eine Stimmung, wie in den Wäldern kurz vor Anbrechen der Dämmerung, erste Geräusche, schon bewusste, aber auch noch Traumgeräusche, alles nur zur Probe. Und ich lausche und denke, dass ich in wenigen Minuten Zubin Mehta sehen werde, wie er Mahlers Symphonie No 3 dirigieren wird. Und wie ich so sitze, erinnere ich mich an Fingerbewegungen einer jungen Frau, die im Präpariersaal der Münchener Anatomie mit Sehnen und Muskeln eines Armes spielt, eine Geste, als würde sie versuchen, jenem namenlosen Arm ein Geräusch zu entlocken. Schnee fällt. Kniehoch wird er noch fallen. Jack London lesen, notiere ich. Und jetzt ist der Abend eines späteren Winters und ich sehe meine Schriftzeichen, ungelenk, weil schon im Halbdunkel des Konzertsaales ins Notizbuch geschrieben. Alles das, in meinem Kopf durcheinander. Ich fange am besten noch einmal von vorn an. Da sind also im Konzertsaal 8 Kontrabassisten, sie flüstern miteinander. Schnee fällt. Kniehoch wird er noch fallen. — stop
yanuk : hört zupfende geigen
~ : yanuk le
to : louis
subject : GEIGEN
date : jan 12 09 6.52 a.m.
Dämmerung. Und doch schon warme, weiche, ja schmeichelnde Luft. Werde einige Wochen hier auf Höhe 51O verweilen. Bin glücklich. Mehrfach während eines Tages passiert das Mädchen, von dem ich berichtete, mit einem rasselnden Geräusch, das vielleicht eine Sprache darstellen sollte, unser Habitat. Eine fabelhafte Kletterin! Entweder ist sie leicht wie eine Feder, oder aber sie verfügt über außerordentliche Muskelkräfte. Kein Tag, seit sie auf uns gestoßen ist, an dem sie nicht aus den Schatten der Blätter und Blüten tauchte, um bewegungslos für lange Zeiten mittels eines Armes an einem Ast befestigt vor uns über dem Abgrund zu schweben. Sie scheint in dieser Haltung doch zu schlafen. Ein seltsames Wesen! Gesprochen haben wir bislang noch nicht, kein verständliches Wort kam über ihre Lippen, aber sie lauscht meiner Stimme, indem sie den Kopf zu Seite neigt, wenn ich etwas sage, wenn ich erzähle, zum Beispiel, von Dir erzähle, und dass ich für Dich Gedanken und Beobachtungen notiere aus dem Gebiet der Riesenbäume. Auch in diesen Sekunden, lieber Mr. Louis, ist sie hier bei uns. Sie muss vor Kurzem noch, während eines Jagdausfluges, den Erdboden betreten haben. Der leblose Körper eines Kaninchens baumelt über ihrer linken Schulter. Denkbar, dass wir bald ein Geschenk erhalten werden. Cucurrucu — Yanuk
eingefangen
6.55 UTC
1875 Zeichen
ein bauch voll licht
alpha : 0.01 — Kurz nach Mitternacht, also Nachmittag. Ich habe gerade eine Tasse heißer Schokolade getrunken, und wie immer, wenn ich Schokolade getrunken habe, meine ich, vom Licht uralter Glühbirnen genascht zu haben. Jetzt stehe ich mit einem warmen Bauch voll Licht vor einem Fenster, hinter dem polare Kälte knistert. Ja, eine angenehme Nacht ist angebrochen. Ich könnte gleich eine Reise beginnen. Ich stelle mir eine Lesezeit wie eine Reisezeit vor? Ich setze mich auf mein Sofa, öffne ein Buch gesammelter Geschichten, sagen wir, gesammelter Geschichten aus aller Welt, und lese. Ich lese fünf Stunden, ohne einzuschlafen, weil die Geschichten, die ich lese, gute Geschichten sind. Dann trinke ich Kaffee und laufe ein wenig in der Wohnung herum. Dann schlafe ich. Dann lese ich weiter. Dann schlafe ich wieder. Habe ich ausreichend Wasser, Enten, Brot für eine Woche? — stop
yanuk : fröhliche weihnachten
~ : yanuk le to : louis
subject : FRÖHLICHE WEIHNACHTEN
date : dez 23 08 6.55 a.m.
In diesen Minuten, Mr. Louis, will ich sehr leise und behutsam von einer aufregenden Beobachtung berichten. Du musst wissen, heute Morgen, als ich auf Höhe 385 schlaftrunken mein Zelt verließ, hatte ich sofort bemerkt, dass während der Nacht irgendetwas geschehen sein musste, etwas Seltsames, etwas, das meine kleinen Affenfreunde beunruhigte. Sie lagen nicht, wie üblich, vor sich hin dämmernd lose auf dem hölzernen Boden herum, sondern dicht aneinander gedrängt und bebten, als würden sie frieren. Alle sahen sie mit ihren zitronengelben Augen in ein und dieselbe Richtung, starrten zum Stamm eines benachbarten Baumes hin, ein Bündel furchtsamer oder vielleicht staunender Blicke, das den schmalen, vollkommen unbekleideten Körper eines Mädchens betastete, der nur wenige Meter von uns entfernt über der Tiefe hing. Ich hatte natürlich zunächst den Gedanken, dass das vor mir baumelnde Mädchen nur eine Erscheinung gewesen war, vielleicht ein Traum oder die Spur eines Traumes, die in einen wirklichen Tag hinüberreichte. Beunruhigt wie meine Freunde, begann ich deshalb zunächst mit einer Kurbel Strom für meine Schreibmaschine zu erzeugen. Eine kontemplative Bewegung, eine, die ich auch im Schlaf verrichten könnte. Während ich so arbeitete, hörte ich bald ein menschliches Lachen. Ja, Sie lesen ganz richtig, Mr. Louis, das Mädchen lachte, ein feines, helles Lachen war zu hören, und die Affen fauchten und wurden so flach, als wollten sie spurlos verschwinden im warmen Holz oder sonst wohin, ganz unsichtbar werden. Wie sich doch alle vertrauten Geräusche verändern, sobald unerwartete Dinge geschehen. Ich hörte meine eigene Stimme, wie sie sagte, das ist unglaublich, das ist ganz unglaublich, und ich hörte auf zu kurbeln und sah dem Mädchen in die Augen, und sofort klappte sie ihre Augen zu. Ich glaube, sie schläft jetzt, während ich diese Sätze so behutsam schreibe, wie ich nur kann, um das Mädchen nicht zu wecken. Ja, stellen Sie sich vor, Mr. Louis, sie scheint tatsächlich tief und fest zu schlafen, während sie den Ast, der sie trägt, mit ihrer linken Hand umfasst. Die rechte Hand liegt flach auf ihrem Bauch, einem muskulösen Bauch von hellem Schein, opak, als würde ein Teil des Sonnenlichts sich im Körper des Mädchens verfangen und weiter leuchten, von innen heraus weiter leuchten. Wenn sie nur nicht loslassen wird in dieser Höhe! Kein Haar auf dem Körper des Mädchens zu sehen. Das ist natürlich seltsam und ich weiß noch nicht genau, warum das so ist. Ich will Dir, Mr. Louis, an dieser Stelle meine herzlichen Weihnachtsgrüße übermitteln aus meinen tropischen Räumen. Und so mache ich das jetzt, ehe ich einen ersten Versuch unternehmen werde, mit dem Mädchen ein Gespräch zu führen. Vielleicht werde ich ihr meine Blütenzeichnungen zeigen, die ich während der vergangenen Tage sammelte. Fröhliche Weihnachten! Cucurrucu – Yanuk
eingefangen 6.58 UTC 2882 Zeichen
eisblumen
nordpol : 8.05 — Ich muss eine bemerkenswerte Erscheinung gewesen sein. Stand vor dem Schreibtisch, hatte meinen rechten Arm senkrecht in die Luft gestreckt, übte mit dem Zeigefinger die kreisende Bewegung eines Propellers. Beobachtete das subkutane Spiel der Muskeln, bemerkte weitere Bewegung unter dem Hemd, krempelte das Hemd bis zum Ellenbogen hoch. stop. Die kleine uralte Narbe am Daumen. stop. Spur einer großen Geschichte. stop. Der Geschmack von Honig im Mund. Das Summen der Bienen. Die nackten Beine eines Mädchens. Ihre heiße Hand, die meinen schwellenden Daumen untersucht. Atem, der kühl ist. Eine helle Stimme, so viele Jahre alt. Sommerblumen. Wolken. Schlaf. Das schmelzende Eis auf meiner Stirn. — stop
yanuk : zeitherz
~ : yanuk le
to : louis
subject : ZEITHERZ
date : nov 24 08 6.32 p.m.
Höhe 310. Beobachte Pflanzen seit drei Tagen. Auch in den Nächten, wenn ich unterm Pfeifen der Moskitos nicht einschlafen kann, warte ich am Rande der Plattform, lasse die Beine baumeln, hoffe, dass der Schwarm schwebender Zwergseerosen sich wieder in Bewegung setzten wird. Lange Stunden der Ruhe, des Stillstandes, stolz zeigen sie ihre weißen, ihre blauen Blüten, schwimmen oder schweben fast reglos auf dem Nebel. Ist dieser Nebel vielleicht schon eine Wolke, bin ich so weit gekommen, dass ich die Wolkendecke durchstoßen habe? Ja, Stunden der Bewegungslosigkeit, nur von einem leichten Windzug gestreichelt, aber dann, sehr plötzlich, schließen sie zur selben Sekunde ihre lockenden Kelche, eine Welle süßen Duftes wandert gegen den Himmel, und es wird so still, als wären all die pfeifenden, singenden, kreischenden Geschöpfe des Waldes betäubt von der schweren Substanz der Pflanzenluft. Habe die Zeit gemessen, habe versucht, einen Rhythmus des Schließens und Öffnens zu finden, vergeblich, vielleicht, weil ich sie Jahre beobachten müsste, um ihre Frequenz zu verstehen. Einmal bin ich zurück in den Nebel getaucht, habe das Wurzelhaar untersucht, filigrane Gefäße, rosafarben, aber keine Verbindung von Pflanze zu Pflanze. Ein Wunder, wie sie das machen, synchron, simultan, als verfügten sie über ein gemeinsames, ein geheimes Herz, das die Zeit zählen kann. – Wieder letzte Minuten vor Dämmerung. Das Rudel der Affen liegt um meine Schreibmaschine herum. Du kannst Dir nicht vorstellen, Mr. Louis, von welch weicher, geschmeidiger Gestalt glückliche Affen sind. Selbst die Knochen ihrer kleinen Köpfe scheinen der Schwerkraft nachzugeben. — Cucurrucu! Yanuk
eingefangen
22.18 UTC
1686 Zeichen