Aus der Wörtersammlung: iss

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ein aquarium

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tan­go : 22.02 UTC — Bob erzählt von einem Aqua­ri­um, kei­nem gewöhn­li­chen Aqua­ri­um, viel­mehr einem Aqua­ri­um, das ihm einer­seits gehö­ren, ande­rer­seits sehr weit ent­fernt sein soll, näm­lich bei­na­he auf der ande­ren Sei­te der Welt, in Thai­land in einem Vor­ort der Stadt Bang­kok in einem Café neben einer Tank­stel­le mit Gar­ten, in wel­chem Orchi­deen auf Bäu­men wach­sen. Auch Vögel sol­len dort im Gar­ten zahl­reich leben, und Kin­der spie­len, weil sich in der Nähe eine Schu­le befin­det. Er selbst, erzählt Bob, sei in die­se Schu­le gegan­gen, habe Eng­lisch gelernt und Mathe­ma­tik, gera­de in Mathe­ma­tik soll er gut gewe­sen sein. Jetzt lebt er also in Euro­pa und besucht eine Uni­ver­si­tät, um die Spra­che der Com­pu­ter­ma­schi­nen zu stu­die­ren. Das Café, das mei­ner Mut­ter gehört, und auch ein wenig mir selbst, läuft gut, sagt Bob, wir kön­nen von unse­ren Ein­künf­ten gut leben. Ich brau­che ja nicht viel Geld hier, klei­nes Zim­mer. Er holt sein Tele­fon aus der Hosen­ta­sche, tippt ein wenig auf dem Bild­schirm her­um, dann reicht er mir das klei­ne, fla­che Gerät über den Tisch. Schau, sagt er, das ist mein Café, das ist mei­ne Mut­ter in Echt­zeit, es ist gera­de frü­her Mor­gen, sie berei­tet sich auf ers­te Gäs­te vor, die kom­men bald. Tat­säch­lich erken­ne ich auf dem Bild­schirm eine älte­re Frau, die auf einem Brett von Holz irgend­wel­che Pflan­zen zer­teilt. Bob nimmt mir das Tele­fon kurz aus der Hand, tippt noch ein­mal auf den Bild­schirm. Nun sind Fische anstatt sei­ner Mut­ter zu sehen. Das ist mein Aqua­ri­um, sagt Bob, lei­der nur in schwarz-wei­ßer Far­be. Sie sind ziem­lich bunt. Zwei von ihnen habe ich selbst gefan­gen im ver­gan­ge­nen Win­ter. Es ist ein Salz­was­ser­aqua­ri­um. Gleich wird mei­ne Mut­ter die Fische füt­tern. Solan­ge kön­nen wir war­ten. — stop
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ai : GAZA

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Die israe­li­schen Zivi­lis­ten Ave­ra Man­gis­tu und His­ham al-Say­ed wer­den seit zwei Jah­ren ver­misst, nach­dem sie – jeweils ein­zeln – die Gren­ze zum Gaza-Strei­fen über­quert hat­ten. Am 7. Sep­tem­ber 2014 brach der äthiopisch‑stämmige Ave­ra Man­gis­tu von sei­nem Wohn­ort Ash­kel­on im Süden Isra­els zum Gaza-Strei­fen auf. Dort über­quer­te er unbe­fugt die Gren­ze, indem er über einen Sta­chel­draht­zaun in der Nähe der Küs­te klet­ter­te. His­ham al‑Sayed soll zu Fuß am 20. April in den Gaza-Strei­fen gelangt sein, nach­dem er die Wohn­stät­te sei­ner Fami­lie im Bedui­nen­dorf al-Say­ed in der Negev-Wüs­te im süd­li­chen Isra­el ver­las­sen hat­te. / Bei­de Män­ner lei­den unter psy­chi­schen Gesund­heits­pro­ble­men. Die Fami­lie von Ave­ra Man­gis­tu erzähl­te Amnes­ty Inter­na­tio­nal, dass er seit dem Tod sei­nes Bru­ders am 11. Novem­ber 2012 psy­chi­sche Pro­ble­me habe. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat Doku­men­te des israe­li­schen Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums ein­ge­se­hen, aus denen her­vor­geht, dass Ave­ra Man­gis­tu im Janu­ar 2013 zwei Mal in psych­ia­tri­sche Kli­ni­ken ein­ge­lie­fert wur­de. Dem Arzt­be­richt von His­ham al‑Sayed zufol­ge wur­den bei ihm eine Schi­zo­phre­nie und eine Per­sön­lich­keits­stö­rung dia­gnos­ti­ziert. Er ist des­we­gen in sta­tio­nä­rer Behand­lung gewe­sen und benö­tigt regel­mä­ßig Medi­ka­men­te. / Amnes­ty Inter­na­tio­nal befürch­tet, dass die bei­den Män­ner von den Esse­din-el-Kas­sam-Bri­ga­den, dem mili­tä­ri­schen Flü­gel der Hamas, als Gei­seln für einen mög­li­chen Gefan­ge­nen­aus­tausch gefan­gen gehal­ten wer­den. Im April 2016 hat­te die bewaff­ne­te Grup­pie­rung im Inter­net ein Video ver­öf­fent­licht, das Bil­der der bei­den Män­ner in israe­li­schen Mili­tär­uni­for­men zeig­te. Der Spre­cher der Esse­din-el-Kas­sam-Bri­ga­den teil­te mit, dass jeg­li­che Infor­ma­tio­nen über die Män­ner ihren Preis hät­ten. Man wer­de „ohne Zah­lun­gen und Anspruchs­zu­si­che­run­gen vor und nach den Ver­hand­lun­gen“ kei­ne Infor­ma­tio­nen preis­ge­ben. Er deu­te­te damit an, dass sie als Gei­seln für einen poten­zi­el­len Gefan­ge­nen­aus­tausch von der Hamas gefan­gen gehal­ten wer­den. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat Doku­men­te ein­se­hen kön­nen, die eine Nicht­eig­nung von Ave­ra Man­gis­tu für den Mili­tär­dienst fest­stel­len. Wie Human Rights Watch bestä­tigt hat, wur­de auch His­ham al-Say­ed für den Mili­tär­dienst für untaug­lich befun­den und im Novem­ber 2008 von der Wehr­pflicht befreit. / Die De-fac­to-Ver­wal­tung der Hamas im Gaza-Strei­fen hat sich bis­her gewei­gert, Infor­ma­tio­nen über die bei­den Män­ner bekannt­zu­ge­ben.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst bis zum 11.9.2017, unter > ai : urgent action

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gespräch

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tan­go : 17.01 UTC — Ich will schnell erzäh­len, wie ich unlängst mit einer Maschi­ne, wäh­rend sie mei­nen Cap­puc­ci­no zube­rei­te­te, gespro­chen habe. Ich sag­te: Hey, einen Cap­puc­ci­no bit­te. Und die Maschi­ne ant­wor­te­te: Hey, wird gemacht! Also war­te­te ich. Indem ich war­te­te, hör­te ich der Maschi­ne zu. Ich ver­nahm eini­ge plau­si­ble Geräu­sche aus dem Inne­ren des Gehäu­ses, außer­dem eini­ge Geräu­sche, die nicht sehr plau­si­bel waren. Das waren Geräu­sche des Pfei­fens oder Sin­gens, Geräu­sche, die ent­we­der mei­ner Unter­hal­tung dien­ten oder weil sich die Maschi­ne tat­säch­lich selbst, wäh­rend sie arbei­te­te, eine Freu­de mach­te. Ich habe schon oft genau so war­tend vor genau die­ser Maschi­ne gestan­den, ich ver­mu­te, dass mich die Maschi­ne inzwi­schen kennt, viel­leicht sogar Zeit­punk­te, da ich zu ihr kom­men wer­de, also Gewohn­hei­ten mei­nes Lebens. Ein­mal, als ich den Stand­ort der Maschi­ne erreich­te, war mein Cap­puc­ci­no bereits fer­tig gewe­sen. Das ist schon selt­sam, nicht wahr, ich begann über Fähig­kei­ten der Maschi­ne nach­zu­den­ken. Kann die­se Maschi­ne viel­leicht sehen oder ver­mag sie mei­nen Duft wahr­zu­neh­men? Dass sie über einen Hör­sinn oder über eine spe­zi­el­le Art eines hören­den Sen­sors ver­fügt, steht für mich schon lan­ge fest, weil sie mich begrüßt. Manch­mal erkun­digt sie sich nach mei­nen Wün­schen. Mein lie­ber Lou­is, will sie wis­sen, einen Cap­puc­ci­no oder doch etwas ande­res Hei­ßes zur Fei­er des Tages? An die­sem Mor­gen, von dem ich eigent­lich erzäh­len will, ist aber doch etwas sehr Selt­sa­mes gesche­hen. Viel­leicht war es der Wind, jeden­falls fiel eine Papp­tas­se aus dem Bauch der Maschi­ne auf einen Vor­satz unter einem Hahn, aus dem bald hei­ßer Kaf­fee kom­men soll­te. Die Tas­se lan­de­te etwas schräg und ver­harr­te in die­ser Posi­ti­on. Die Maschi­ne sag­te zu mir: Becher bit­te set­zen. Mein Gott, das war selt­sam! Ich dach­te, wer nur hat die­se Spra­che erfun­den, mög­li­cher­wei­se die Maschi­ne selbst? Ich streck­te mei­ne Hand nach dem Becher aus. In dem Moment, da ich den Becher anhe­ben woll­te, spritz­te hei­ßer Kaf­fee auf den Rücken mei­ner Hand, wes­we­gen ich mit lei­ser Stim­me pro­tes­tier­te. Ich sag­te: Ver­dammt! Die Maschi­ne ant­wor­te­te: Ver­zei­hung. — stop
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auf hoher see

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bamako : 15.08 UTC — Ich hör­te von einem adop­tier­ten Jun­gen, der ger­ne den Nach­na­men sei­ner Nach­barn anneh­men möch­te. Sei­ne neu­en Eltern hei­ßen näm­lich Sim­bar­ski — Koh­le­berg, oder so ähn­lich, sei­ne Nach­barn Weber. Er selbst heißt Tobi­as, mit Vor­na­men, sein ursprüng­li­cher soma­li­scher Name ist unbe­kannt, er habe ihn, sagt er, ver­ges­sen, er wis­se nicht war­um, sein Name sei irgend­wo auf der Flucht ver­lo­ren gegan­gen. Spä­ter ein­mal will er Fluss­schiff­ka­pi­tän wer­den. Der Jun­ge meint eines die­ser gro­ßen Boo­te, die Pas­sa­gie­re beför­dern, er will eine wei­ße Uni­form tra­gen und auf sei­nem eige­nen Schiff zur See fah­ren. Zur­zeit arbei­tet er noch als Brief­trä­ger, er ist gera­de 20 Jah­re alt gewor­den. Er berich­tet, dass er in der ers­ten Stadt, in der er in Euro­pa wohn­te, nicht ver­stan­den habe, was Fahr­rad­we­ge sind, er habe sie für Flücht­lings­we­ge gehal­ten, wäh­rend die Ein­hei­mi­schen auf Bür­ger­stei­gen spa­zie­ren. — stop

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gespräch mit einem seemann

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tan­go : 20.10 UTC — Im Schnell­zug heu­te Mor­gen beob­ach­te­te mich ein Mann von viel­leicht acht­zig Jah­ren, wie ich auf mei­ner fla­chen Bild­schirm­schreib­ma­schi­ne einen Text notier­te. Ich hat­te die Schreib­ma­schi­ne quer auf mei­ne Knie abge­legt und schrieb mit fünf oder sechs Fin­gern recht flink auf einer vir­tu­el­len Tas­ta­tur. Das war ein fast laut­lo­ser Vor­gang gewe­sen, viel­leicht des­halb sag­te der Mann plötz­lich: Frü­her waren die Schreib­ma­schi­nen sehr laut gewe­sen! Ich hob mei­nen Blick und lächel­te den Mann an. Er frag­te sofort wei­ter: Das ist doch eine Schreib­ma­schi­ne? Ich nick­te. Ja, sag­te ich, das ist eine Schreib­ma­schi­ne und zugleich auch ein Gerät, mit dem ich Tex­te sen­den kann und Nach­rich­ten emp­fan­gen, sogar mor­sen könn­te ich. — Ich habe frü­her auch gemorst, sag­te der Mann, ich bin auf einem Segel­schiff zur See gefah­ren, da war ich sehr jung gewe­sen. Er schwieg für einen Moment, dann sag­te er: Sie brau­chen gar kein Papier, nicht wahr? Ich ant­wor­te­te: Das ist rich­tig, im Grun­de brau­che ich kein Papier. — Was schrei­ben sie denn? Woll­te der Mann wis­sen. Ich schrei­be eine Geschich­te, sag­te ich. Ist das denn gut, dass sie eine Geschich­te ohne Papier schrei­ben? frag­te der Mann. Ich sag­te: Dar­über muss ich nach­den­ken. Der Mann lach­te: Sie ist wirk­lich nicht groß, die­se Schreib­ma­schi­ne. Sagen sie, wie vie­le Geschich­ten pas­sen denn in die­se Schreib­ma­schi­ne hin­ein? Ich ant­wor­te­te: Ich glau­be, sehr vie­le Geschich­ten, ja, ver­mut­lich unvor­stell­bar vie­le Geschich­ten. — Das ist gut, sag­te der Mann, so vie­le Geschich­ten, dass sie im Zug sit­zen und schrei­ben kön­nen, so lan­ge sie wol­len, ohne je aus­stei­gen und eine neue Schreib­ma­schi­ne kau­fen zu müs­sen. Vor­über­ge­hend schau­te er zum Fens­ter hin­aus. — stop
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sumatra petit

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india : 21.05 UTC — Es ist der 22. Juni, Abend. 30 °C Wär­me im Arbeits­zim­mer, 88 Pro­zent Luft­feuch­te, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, die so eben noch von einem Schirm­samm­ler erzähl­te, schnauft vor sich hin, jeder wei­te­re Satz scheint ihr Pro­zes­sor­herz auf­zu­re­gen. Ich selbst habe längst auf­ge­hört zu atmen, habe mei­ne Kie­men­schäch­te, die links und rechts hin­ter mei­nen klei­nen Ohren im Ver­bor­ge­nen lie­gen, geöff­net, nun bin ich ganz auf der siche­ren Sei­te. Mein Tele­fon­hö­rer ruht neben Lutz Sei­ler Zeit­waa­ge, ein Buch, das ich zur Stun­de kaum wage anzu­fas­sen, es konn­te zer­fal­len. Über­haupt bin ich heu­te ein wenig lang­sam in der Auf­nah­me der Wör­ter, ich lese sozu­sa­gen Buch­sta­be um Buch­sta­be vor­an. Über mei­nem Sofa haben sich drei Wol­ken­tür­me gebil­det, die bald blit­zen wer­den, ich ken­ne das schon, es blitzt und dann wird es reg­nen, die­sen wun­der­ba­ren Regen aus mei­nen Zim­mer­wol­ken, der nach Veil­chen duf­tet, ich weiß noch immer nicht war­um. Auf dem Fens­ter­brett ein Zei­sig, es ist kurz nach neun Uhr, Miles Davis So What, wir tau­chen. — stop
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sisulu

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del­ta : 6.15 UTC — In der ver­gan­ge­nen Nacht hat­te ich einen merk­wür­di­gen Traum. Ich war in der Däm­me­rung mit mei­nem Trom­pe­ten­kä­fer abends spa­zie­ren im Pal­men­gar­ten. Die Luft duf­te­te nach Flie­der, obwohl schon Juni gewor­den war. Der Käfer, dem ich kurz nach sei­ner Ent­wick­lung den Namen Sisu­lu 8 gege­ben hat­te, hock­te auf mei­ner rech­ten Schul­ter, wes­we­gen ich vor­sich­tig einen Fuß vor den ande­ren Fuß setz­te, weil ich natür­li­cher­wei­se von der Flug­un­fä­hig­keit des klei­nen Wesens wuss­te, er war nicht zum Flie­gen aus­ge­dacht, son­dern zum Trom­pe­ten­spie­len. Ich ging also ganz lang­sam nord­wärts vor­bei an einer wun­der­ba­ren Som­mer­wie­se, die von den Schlaf­ge­räu­schen der Heu­schre­cken lei­se knis­ter­te, erreich­te dann nach zwei Stun­den lang­sa­men Gehens eine höl­zer­ne Bank am Ran­de einer wei­ten Step­pen­land­schaft, es war schon Nacht gewor­den. Ich nahm Platz auf der Bank, über­schlug die Bei­ne und setz­te den klei­nen Käfer auf mein rech­tes Knie. Unver­züg­lich begann Sisu­lu 8 zu spie­len in einer Wei­se, wie ich es vor lan­ger Zeit schon ein­mal zu beschrei­ben ver­such­te. Bald war ich ein­ge­schla­fen, ich weiß nicht genau, wie lan­ge Zeit ich geschla­fen hat­te, als ich erwach­te, saß Maceo Par­ker neben mir auf der Bank. Er hat­te sich mit sei­nem rech­ten Ohr mei­nem Knie genä­hert, ich wag­te in die­sem Augen­blick kaum zu atmen, das muss man sich ein­mal vor­stel­len, Maceo Par­ker auf einer Nacht­bank neben mir sit­zend, wie er mei­nem Käfer­freund Sisu­lu lauscht. Es ist jetzt schon bald Mor­gen­däm­me­rung, mei­ne Güte, und ich bin noch immer nicht wirk­lich wach gewor­den. — stop
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ich war im flur spazieren

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tan­go : 15.06 UTC — Über einen lan­gen Flur eines Schif­fes wan­dernd, begeg­ne­ten mir zwei Män­ner, ein jun­ger und ein etwas älte­rer Mann. Wie sie näher kamen und ihre Stim­men in mei­nen Ohren des­halb lau­ter wur­den, hör­te ich, dass sie sich über ein Büro unter­hiel­ten, in wel­ches einer der bei­den Män­ner vor weni­gen Tagen erst ein­ge­zo­gen war. Es ging in dem Gespräch außer­dem um Möbel. Die Män­ner waren sich, so mein Ein­druck, nicht ganz einig gewe­sen. Sie dis­ku­tier­ten, ein lau­tes, lachen­des, ein leben­di­ges Gespräch, wes­halb ich umdreh­te und den Män­nern in dezen­tem Abstand folg­te, ich woll­te Ihnen heim­lich zuhö­ren, was ver­mut­lich nicht ganz höf­lich gewe­sen war. Ich glau­be, die zwei Män­ner bemerk­ten mich glück­li­cher­wei­se nicht. War­um ist dein neu­es Büro so leer? Woll­te der eine Mann, er war wirk­lich noch sehr jung gewe­sen, von dem ande­ren, dem älte­ren Mann wis­sen? Das ist so, ant­wor­te­te der alte Mann dem jun­gen Mann, hör zu, ich will unab­hän­gig leben von mei­nem Büro, ich will nicht mit ihm ver­wach­sen sein. Wenn ich von mei­nem Büro ein­mal getrennt wer­den soll­te, ist der Schmerz dann nicht so groß, wenn ich aber mit mei­nem Büro ver­wach­sen sein wür­de, könn­te man mir Schmer­zen zufü­gen, man könn­te sagen, Sie dür­fen blei­ben, wenn sie folg­sam sind, man könn­te mich erpres­sen, ver­stehst Du, man könn­te mich mit leich­ter Hand fer­tig machen. Des­halb sind in mei­nem Büro nur ein Stuhl und ein Tisch und Papie­re, ein Obst­korb, eine beson­de­re Tafel, die beschrif­tet wer­den kann und wie­der gerei­nigt von Far­be, eine Zeich­nung wei­ter­hin, die einen Mann zeigt, der sein Fahr­rad zer­leg­te, außer­dem sind da noch, eine Kaf­fee­tas­se, drei Stüh­le für Gäs­te, ein klei­ner Kühl­schrank, ein Regal mit 176 Büchern, ein Tep­pich, wel­chen ich auf einer Rei­se nach Marok­ko ent­deck­te, eine Steh­lam­pe, die sich gleich hin­ter mei­nem Schreib­tisch befin­det, ein wun­der­bar war­mes Licht strömt von dort, eine zwei­te Lam­pe auf dem Schreib­tisch, die im Win­ter zusätz­lich Licht spen­den wird, ein klei­nes Sofa, Blei­stif­te in einem Blei­stift­ge­fäß, ein Tele­fon, zwei Kak­teen, fünf Orchi­deen auf der Fens­ter­bank, ein Käfig mit einem Zei­sig­pär­chen, drei Schreib­ma­schi­nen, eine Foto­gra­fie, die mei­ne Gelieb­te zeigt, wie sie lächelt, ist das nicht wun­der­bar. — stop

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in zeitlupe

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nord­pol : 15.12 UTC — Ein­mal beob­ach­te­te ich, wie mir ein schwar­zes Käst­chen gesam­mel­ter digi­ta­ler Infor­ma­ti­on aus den Hän­den glitt und zu Boden fiel. Eine Bewe­gung wie in Zeit­lu­pe, eine Bewe­gung, ohne die Mög­lich­keit ein­zu­grei­fen, da ich mich selbst in dem Fens­ter mei­ner Wahr­neh­mung wie in Zeit­lu­pe beweg­te. Ich hob das Käst­chen vom Boden auf. Als ich mich mit einem Ohr näher­te, hör­te ich ein selt­sa­mes, lei­ses Ticken. Jene Schreib- und Lese­ma­schi­ne, die in dem Käst­chen gebor­gen war, war blind gewor­den. Kurz dar­auf kauf­te ich ein wei­te­res Käst­chen und dach­te tage­lang dar­über nach, wie ich von nun Daten, Spu­ren, Zei­chen, Ver­zeich­nis­se mei­ner Arbeit bewah­ren könn­te. — Zwei Jah­re ver­ge­hen. ‑Heu­te wan­der­te ich eini­ge Stun­den durch einen wil­den Wald, ohne ver­mut­lich irgend­ei­ne digi­ta­le Spur zu hin­ter­las­sen, nicht 1 Byte. Sehr merk­wür­dig. Noch zu tun: Lek­tü­re Nichol­son Bak­er Eine Schach­tel Streich­höl­zer. — stop

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ein koffer

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del­ta : 16.12 UTC — Ich weiß nicht, wohin die Vögel schla­fen gehen, stellt Hil­de Domin ein­mal fest. Sie erzählt, wie sie ihrem gelieb­ten Mann begeg­ne­te, dass sie wun­der­ba­re Gesprä­che führ­ten, dass sie sicher ein Jahr brauch­ten, um sich zum ers­ten Mal zu küs­sen. Wir waren sehr förm­lich. In der 45. Minu­te des wun­der­vol­len Films Ich will Dich — Begeg­nun­gen mit Hil­de Domin von Anna Dit­ges will die jun­ge Fil­me­ma­che­rin wis­sen, ob Hil­de Domin’s Ehe­mann ein guter Lieb­ha­ber gewe­sen sei. Hil­de Domin ant­wor­tet mit tro­cke­ner Stim­me: Ich hat­te kei­nen ande­ren. Ich kann das nicht beur­tei­len. Ich find, ja. Sie macht eine län­ge­re Pau­se. Dann fährt sie fort: Ich habe auch vor ihm nie­man­den geküsst. Das war damals nicht üblich, dass man so zurück­hal­tend war wie ich. Mei­ne Freun­din­nen waren alle anders. Anna Dit­ges: Er war der ein­zi­ge Mann, den Du je gekannt hast? Hil­de Domin ant­wor­tet: Ja! Anna Dit­ges: Wür­dest Du sagen, dass Erwin heu­te immer noch Dei­ne gro­ße Lie­be ist? — Hil­de Domin: Jeden­falls habe ich kei­ne ande­re. Weißt Du, der leben­di­ge Mensch ist der leben­di­ge Mensch. Und der Mensch, der nur noch in mei­ner Vor­stel­lung ist, das ist nicht das­sel­be. — In die­sem Augen­blick erin­ne­re ich mich an eine Foto­grafie, die mich neben mei­nem ster­benden Vater zeigt. Ich sit­ze auf einem Stuhl, mein Vater liegt in einem Bett. Es ist ein Bild, das ich zunächst kaum anzu­sehen wag­te. Ich habe tatsäch­lich eine Hand vor Augen gehal­ten und zwi­schen mei­nen Fin­gern her­vor gespäht. Spä­ter wur­de mir warm, wenn ich das Bild betrach­te­te. Die Foto­grafie zeigt einen fried­li­chen Moment mei­nes Lebens. Etwas geschieht, wovor ich mich lan­ge Zeit fürch­te­te. Wei­nen und Lachen fal­ten sich, wie Hän­de sich fal­ten. Mut­ter irr­te wochen­lang zwi­schen Haus und Fried­hof hin und her, als wür­de sie unsicht­bare Ware in gleich­falls unsicht­baren Kof­fern tra­gen. Sie geht noch immer, Jah­re sind ver­gan­gen, so umher. – stop



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