zoulou : 8.30 — In der vergangenen Nacht träumte ich eine lustige Geschichte, das heißt, ich träumte mich in ein Bild, das mir bekannt zu sein schien, weshalb ich ein Selbstgespräch führte, in etwa so, als würde ich einen Film kommentieren. Als ich wach geworden war, erinnerte ich mich, vor einiger Zeit eine Traumgeschichte aufgezeichnet zu haben, die von seltsamen Menschenohren erzählte. Und tatsächlich habe ich diese Geschichte und mit ihr den Traum der vergangenen Nacht soeben wiedergefunden, sodass heute Morgen nichts zu tun ist, als die Wiederholung des Traumes von den seltsamen Ohren und seinen Zeichenschatten auch an dieser Stelle zu dokumentieren. Ich saß also vor längerer Zeit und noch vor wenigen Stunden > in einem Café nahe einem Meer unter Männern, die Go oder etwas anderes spielten mit kleinen, runden, bernsteinfarbenen Steinen. Die Luft an diesem Ort war heiß und trocken, deshalb wunderte ich mich nicht, dass die Männer, die von hohem Alter gewesen waren, sich mit gewaltigen Ohren Luft zufächelten in der Art und Weise der Elefanten. Seltsame Geräusche waren zu hören, schwere, knarzende Töne, als würde an hölzernen Schrauben gedreht. Und doch war die Haut der Ohren so fein, dass man durch sie hindurch sehen konnte. Sobald sie hinter den verwitterten Köpfen zusammenschlugen, wurden die Augen der Herren zu Schlitzen, bewegten sich die luftigen Häute zurück, öffneten sie sich. Hinter dem Tresen dämmerte ein weiterer Mann, der hatte sich mit seinem Pergament das Gesicht zugedeckt. Ich betrachtete ihn eine Weile, und schon war ich, noch im Stehen, dem heutigen Tag zu eingeschlafen. – Guten Morgen! Heute ist Sonntag.
Aus der Wörtersammlung: mensch
feuernelken
nordpol : 0.01 — In der vergangenen Nacht Feuernelken geträumt, auch Wale, wie sie durch die Luft schweben, wie sie am Fenster meines Arbeitszimmers vorüber kommen. Manchmal hielt einer der Luftwale an und spähte zu mir herein und ich dachte, sie lächeln vielleicht. Ich bin dann doch noch aufgewacht und habe gearbeitet und sehr ernsthafte Gespräche mit meinem Fernsehapparat geführt, weil er sich immer wieder einschalten wollte und bewegte Bilder zeigen von einem Krieg, dessen sofortiges Ende ich für alle unschuldigen Menschen dort sehr dringend erhoffe. Die Gravitation der Wut, der Verzweiflung, der Trauer, die weiteres Schweigen und weitere Bewaffnung erzeugt. — stop
mrs. callas zählt schneeflocken
marimba : 0.01 — Wenn Mrs. Callas Schneeflocken zählt, will sie jede Flocke mit ihren Zeigefingern berühren. Aus der Entfernung betrachtet, könnte man dann meinen, Mrs. Callas würde sich mit nicht sichtbaren Engeln unterhalten, oder mit Engeln, die so klein sind, dass sie für das Licht nicht ins Gewicht fallen. Ja, wenn Mrs. Callas Schnee zu zählen wünscht, spricht sie mit ihren Händen mit der Luft. Sie ist sehr schnell in dieser Bewegung des Sprechens und sie ist glücklich, habe ich den Eindruck, ein Mädchen, wie sie am kleinen See des Palmengartens auf Zehenspitzen steht und so herzlich lacht, dass die Reiher angeflogen kommen, die eigentlich längst schon nach Afrika abgereist sein sollten. Ich glaube, flüstert sie, jetzt habe ich den Überblick verloren. Wir sind dann noch herumspaziert zwei Stunden und haben diskutiert, was Mrs. Callas an Bord der Seatown gern tragen würde, etwas Leichtes natürlich, wegen der schwülen Hitze, die zu erwarten sein wird, weil wir uns das so ausgedacht haben von Zeit zu Zeit, das Inventar einer Welt, die eigentlich nicht existiert. — stop
aus heiterem himmel
himalaya : 15.00 — Ein Krieg aus „heiterem Himmel“. stop. Von einer Meldung zur anderen. stop. Kinder bauen in Bunkern Höhlenzelte. stop. Kinder haben, noch ehe sie zu schreiben lernen, Kinderfeinde, die nicht schreiben können, die sie töten wollen. stop. Kinder von dunkler Haut, die im Geheimen so leicht geworden sind, dass jeder Wind sie mit sich in die Wüste tragen könnte. stop. Das schneeweiße Gesicht eines Kindes, das nie wieder schlafen wird. stop. Vielleicht komme ich als schreibender Mensch näher heran, wenn ich mir eingestehe, dass ich an diesem vorletzten Tag des Jahres 2008 die Zahl 1, und somit alle weiteren Zahlen, noch immer nicht verstanden habe. — stop
mrs. callas betrachtet raissa orlowa und lew kopelew
nordpol : 0.01 — Kam von einem Besuch bei Freunden nach Hause zurück, und wie ich so in meine Wohnung stolperte, entdeckte ich Mrs. Callas, die weinend vor einer Fotografie stand, vor einer Schwarz-Weiß-Fotografie, die ich seit vielen Jahren besitze und mir immer wieder sehr gerne ansehe. Natürlich wunderte ich mich, dass Mrs. Callas weinte, weil die Fotografie zwei alte Menschen zeigt, eine Frau und einen Mann, die friedvoll Seite an Seite in einer Küche an einem Tisch sitzen. Raissa Orlowa, liest ihrem alten Mann, Lew Kopelew, vielleicht aus einem Buch vor. Und ich fragte Mrs. Callas, warum sie denn weinen würde, das sei doch eine sehr beruhigende Fotografie. Ich glaube, setzte ich hinzu, sie sind glücklich. Mrs. Callas antwortete unverzüglich mit Ernst in der Stimme, ja, das sind sie, glücklich, ganz sicher sind sie sehr glücklich. Ich wünsche mir für mich ein Ende wie dieses hier an der Wand, Mr. Louis. Sie müssen mir ein anderes Ende schreiben! – Und so sitze ich nun müde auf dem Sofa und notiere diese Geschichte, während Mrs. Callas mich hoffnungsvoll beobachtet. Wie nur könnte ich sie trösten, weil ich doch vor ihrem Schicksal ohnmächtig bin? Vielleicht könnte ich erzählen, dass ich Lew Kopelew in München einmal für wenige Sekunden begegnete. Ich könnte ihr beschreiben, wie er mir am Hauptbahnhof aus einer Menschenmenge heraus entgegenkommt, wie ich seine Erscheinung, seine stattliche Größe, seinen schlohweißen Bart bewundere. Und ich könnte Mrs. Callas berichten, wie Lew Kopelew meinen Blick bemerkt, wie er mich freundlich betrachtet und wie er meinen nickenden Gruß erwidert, weil er in meinem Blick gesehen haben wird, dass ich ihn für lange Zeit gelesen habe und immer wieder lesen werde. – Ja, vielleicht sollte ich Mrs. Callas von diesen Sekunden meines Lebens erzählen, und dass es erholsam sein könnte, sich zunächst einmal zur Ruhe zu legen für zwei oder drei Tage.
yanuk : fröhliche weihnachten
~ : yanuk le to : louis
subject : FRÖHLICHE WEIHNACHTEN
date : dez 23 08 6.55 a.m.
In diesen Minuten, Mr. Louis, will ich sehr leise und behutsam von einer aufregenden Beobachtung berichten. Du musst wissen, heute Morgen, als ich auf Höhe 385 schlaftrunken mein Zelt verließ, hatte ich sofort bemerkt, dass während der Nacht irgendetwas geschehen sein musste, etwas Seltsames, etwas, das meine kleinen Affenfreunde beunruhigte. Sie lagen nicht, wie üblich, vor sich hin dämmernd lose auf dem hölzernen Boden herum, sondern dicht aneinander gedrängt und bebten, als würden sie frieren. Alle sahen sie mit ihren zitronengelben Augen in ein und dieselbe Richtung, starrten zum Stamm eines benachbarten Baumes hin, ein Bündel furchtsamer oder vielleicht staunender Blicke, das den schmalen, vollkommen unbekleideten Körper eines Mädchens betastete, der nur wenige Meter von uns entfernt über der Tiefe hing. Ich hatte natürlich zunächst den Gedanken, dass das vor mir baumelnde Mädchen nur eine Erscheinung gewesen war, vielleicht ein Traum oder die Spur eines Traumes, die in einen wirklichen Tag hinüberreichte. Beunruhigt wie meine Freunde, begann ich deshalb zunächst mit einer Kurbel Strom für meine Schreibmaschine zu erzeugen. Eine kontemplative Bewegung, eine, die ich auch im Schlaf verrichten könnte. Während ich so arbeitete, hörte ich bald ein menschliches Lachen. Ja, Sie lesen ganz richtig, Mr. Louis, das Mädchen lachte, ein feines, helles Lachen war zu hören, und die Affen fauchten und wurden so flach, als wollten sie spurlos verschwinden im warmen Holz oder sonst wohin, ganz unsichtbar werden. Wie sich doch alle vertrauten Geräusche verändern, sobald unerwartete Dinge geschehen. Ich hörte meine eigene Stimme, wie sie sagte, das ist unglaublich, das ist ganz unglaublich, und ich hörte auf zu kurbeln und sah dem Mädchen in die Augen, und sofort klappte sie ihre Augen zu. Ich glaube, sie schläft jetzt, während ich diese Sätze so behutsam schreibe, wie ich nur kann, um das Mädchen nicht zu wecken. Ja, stellen Sie sich vor, Mr. Louis, sie scheint tatsächlich tief und fest zu schlafen, während sie den Ast, der sie trägt, mit ihrer linken Hand umfasst. Die rechte Hand liegt flach auf ihrem Bauch, einem muskulösen Bauch von hellem Schein, opak, als würde ein Teil des Sonnenlichts sich im Körper des Mädchens verfangen und weiter leuchten, von innen heraus weiter leuchten. Wenn sie nur nicht loslassen wird in dieser Höhe! Kein Haar auf dem Körper des Mädchens zu sehen. Das ist natürlich seltsam und ich weiß noch nicht genau, warum das so ist. Ich will Dir, Mr. Louis, an dieser Stelle meine herzlichen Weihnachtsgrüße übermitteln aus meinen tropischen Räumen. Und so mache ich das jetzt, ehe ich einen ersten Versuch unternehmen werde, mit dem Mädchen ein Gespräch zu führen. Vielleicht werde ich ihr meine Blütenzeichnungen zeigen, die ich während der vergangenen Tage sammelte. Fröhliche Weihnachten! Cucurrucu – Yanuk
eingefangen 6.58 UTC 2882 Zeichen
geraldine wünscht
~ : geraldine
to : louis
subject : GERALDINE WÜNSCHT
Seit zwei Tagen fahren wir sehr langsam im Kreis auf dem Atlantik herum. Ich kann das noch immer nicht glauben. Als ob mein sehnlicher Wunsch, Southampton niemals zu erreichen, in Erfüllung gehen würde. Vielleicht träume ich das alles nur. Oder ich bin in meinem Hoffen so weit gekommen, dass alle Wünsche in Erfüllung gehen. Irgendjemand sagte, wir würden Schiffbrüchige suchen. Ein Gerücht nehme ich an. Wir Menschen brauchen immer Gerüchte, wenn etwas geschieht, das ungewöhnlich ist. Wir könnten noch Jahre so herumfahren, ich hätte nichts dagegen. Würde an der Reling sitzen und die Farben des Wassers beobachten. Heute ist das Meer von einem hellen Blau, silbern glänzt es, weil uns Fische begleiten, deren Rücken weiß und grün im Licht der Sonne glitzern. Ich kann meinen Blick nicht abwenden von diesem Wasserlicht, für das ich keine Worte finde. Gestern, Mr. Louis, habe ich meine seidenen Handschuhe getragen hier oben an Deck in der kalten Luft, meine feinen Handschuhe zum Tanzen, Handschuhe, die nur ein Hauch sind, meine Haut schimmerte durchs Gewebe. Natürlich hatte ich noch Fäustlinge darüber gezogen. Als der Stewart kam, – Sie wissen, der junge Mann, von dem ich schon erzählte, – habe ich sie ausgezogen und ihm heimlich meine kleinen Hände dargeboten. Lange habe ich so gestanden und zugesehen, wie er sie betrachtete, ohne sie zu berühren. Meine Knie, Mr. Louis, haben gezittert, weil ich unendlich schwach geworden bin, aber dieser Blick auf meine Hände, dieser Blick, der meine Hände liebte, hatte mir Kraft gegeben und auch das Wünschen und dass wir Southampton niemals erreichen werden. – Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 20.12.2008
22.12 MEZ
mrs. callas pfeift
echo : 3.15 — Man stelle sich das einmal vor, Mrs. Callas kann pfeifen. Sie war zu Besuch gekommen und hatte eine besondere Fotografie entdeckt. Auf dieser Fotografie sitzt sie unter Menschen an einem Tisch, den sie nicht erinnern konnte, und darüber war sie verwundert oder beunruhigt, also machte sie merkwürdige Geräusche mit dem Mund. Wer sind diese Leute, wollte sie wissen. Wann war das gewesen? Woher haben Sie diese Fotografie? — Wir gingen dann noch spazieren um kurz nach Mitternacht. Angenehmes Papierlicht, die Sonne war nicht untergegangen, strahlte etwas schläfrig am Himmel herum. Noch immer leichter Seegang, aber zwei schöne Stunden heiterer Gespräche. Wie ich mich freute, Mrs. Callas staunen zu sehen. Ich habe keine Kinder, nein, nein, ich habe keine Kinder. Doch, doch sagte ich, Sie haben Kinder geboren, sie sind eine fabelhafte Mutter. Sieben Töchter, jawohl, sieben sehr seltsame Töchter, Sie werden sich doch um Himmelswillen an ihre Töchter erinnern, an Svenja, Marlene, Bobby, Lydwien, Vassilliki, Eleonore, Bumubai. Soll ich Ihnen von Ihren Geburten erzählen, Mrs. Callas? – Kaum zurück, legte sie sich aufs Sofa und vertiefte sich wieder in jenes Bild, das von ihr, wie sie glaubte, abgenommen worden war. Manchmal näherte sie sich mit einem Finger, flüsterte, oh, ich glaube, da ist etwas, diesen Herrn kenne ich vielleicht, ja, das könnte ein Musiker sein, ein Bassist, nein, das ist einer, der Cello spielt. — Seit Stunden nun liegt sie so herum. Sie hat etwas von einer Katze, ganz ohne Zweifel. Ich weiß, sie wird sich bald erheben, und sie wird zu mir herüberkommen, wird die Fotografie auf den Schreibtisch legen und sagen: Irgendetwas stimmt hier nicht, Mr. Louis! Ich glaube, ich werde jünger. Ich glaube, die Zeit geht falsch herum. Was haben Sie dazu zu sagen? Sprechen Sie!
die liebe der zeppelinkäfer
india : 2.12 — Schon weit nach Mitternacht, aber immer noch ein später Abend summender Luft. Habe drei lange Stunden versucht 18.924.150 Zeichen des menschlichen Genoms als Sequenz in mein Textverarbeitungsprogramm zu laden. Immer wieder scheitert die Formatierung mit der Seite 32.678 des Dokuments, als ob meine Computermaschine sagen wollte, diesen Unsinn mache ich nicht länger mit. — Nun aber rasch noch einen ernsthaften Gedanken notieren. Nehmen wir einmal an, es wäre möglich, einen Käfer zu entwickeln, sagen wir, einen Zeppelinkäfer, der nahe absoluter Schwerelosigkeit unter letzten Molekülen von Sauerstoff schwebend Ozon produzieren würde, dann könnte man sich einen zweiten Käfer vorstellen, einen Zeppelinkäfer gleichwohl, der eine Käferdame sein sollte, die sich natürlich sofort verlieben wird, weshalb wir bald einen Nebel kleinster, sehr gefräßiger Zeppelinkäfer vor uns am Himmel sehen würden. — Eine beruhigende Vorstellung, sagen wir, sehr beruhigend. — Was aber fressen sie dort oben, wo es doch nichts gibt außer Mond, Stern und Sonnenlicht? Man könnte eine Gattung weiterer Käfer erfinden, Käfer, die sehr schmackhaft sind und leidenschaftlich gerne, sobald man sie freilassen wird, hinter die Wolken steigen, um sich ihren Freuden, den Zeppelinkäfern, mit allem, was sie sind und haben, hinzugeben. — Ich sollte sofort ein kombiniertes Patent versuchen.
animals : eine luftgeschichte
delta : 7.45 — Im Wesentlichen existieren drei Arten von Geschichten. Fertig anwesende, erlebte Geschichten. Rein aus der Luft gefangene, das heißt, erfundene Geschichten. Recherchierte Geschichten. stop. Animals, zum Beispiel, die Geschichte der Entdeckung lebender Papiere. stop. Eine Luftgeschichte. stop. Es ist jetzt zwei Uhr nachts. stop. Was brauche ich? stop. Zwei Kühlschränke, fünf U‑Bahnwaggons, drei Kaffeehäuser, eine Handvoll Abendsegler, Stadtmenschen, ein Radiogerät. stop. Und Papiertiere stop. Sehr kleine Herzen, ebenso kleine Gehirne, Münder und Verdauungstrakte. stop. Auch Propellerflügel. stop. Feinste Ware. stop. Was brauche ich noch? stop. Räume der Zeit und einen ersten Satz. stop. Geduld. stop. Das Geräusch meines Bleistifts auf grobem Papier.